August/September 2003, Thomas Meyer, Musik&Theater
Portrait (de)

Der Musiker inszeniert seine Klänge

Wie Heiner Goebbels auf die Neugier seines Publikums zählt - auch in Luzern

Der Komponist erfindet keine Klangwelten mehr, er findet sie bereits vor und kombiniert sie neu: Heiner Goebbels, Composer in Residence beim Lucerne Festival, arbeitet gezielt mit dem Sampler Der heftige, mit seiner Energie fast jazzige Gestus im Bass erinnert an improvisierte Musik, leitet jedoch dem Titel nach eine quasi barocke Chaconne ein. Darüber legt sich Klanggezirpe wie aus einem Stück Neuer Musik. Und kurz darauf mischt sich die Stimme eines jüdischen Kantors mit melismatischem Gesang ein, nicht live, sondern deutlich hörbar von einer alten Aufnahme. So beginnt die "Suite for Sampler and Orchestra", die Heiner Goebbels' CD "Surrogate Cities" einleitet. Innerhalb von nicht einmal einer Minute deutet sich die Klangwelt dieses Komponisten mit zumindest einigen von ihren Facetten an, ja sie entfaltet sich fast schon in ihrer ganzen Eindringlichkeit. Sofort fällt dieses selbstverständliche Ineinander verschiedener Musikstile auf. Zwischenjazz und Neuer Musik gibt es für Heiner Goebbels keine Trennung; ja wenn man ihn zuweilen auch für einen "ernsten" Komponisten hält, so nimmt er doch gern die Haltung eines Musikers aus anderen Bereichen an. Alles mögliche mischt sich hinein: Frank Zappa oder Prince genauso wie Monteverdi und Strawinsky. Goebbels hat schon immer über den Hag gefressen, besser: Da war gar keine Abtrennung, und so nimmt er auch Punkiges oder Rockiges auf. Schliesslich begann er selber einst im Duo mit Alfred Harth und in der ArtRock-Band Cassiber, und er gehörte zu den Gründern des musiko-anarchistischen "Sogenannten Linksradikalen Blasorchesters". Der jüdische Kantor in "Surrogate Cities" erklingt nun ab Sampler, einem Gerät, das viel eher unter U-Musikern im Gebrauch ist. Es ist längst zu einem der wichtigsten Instrumente von Goebbels geworden. "Zum Charakteristikum des Samplers", so schreibt er, "gehört, dass er keine Klänge erzeugen, sondern ohnehin nur vorhandene Signale aufnehmen, speichern und bearbeiten kann: Geräusche, Musik, Worte, was auch immer. Mit ihm <liest> man akustische Materialien auf, und gibt sie - in anderem Kontext - der <akustischen> Umwelt wieder. Man erfindet nicht, man findet, man <sammelt>, wie der Name schon sagt." Das Eigene artikuliert sich durchs Verschieben dieses Materials. Und das heisst auch: Goebbels will uns keine unverbrauchten, neuen Klänge präsentieren, sondern bekannte neu zu lesen geben. Das Material stammt nicht aus dem Elfenbeinturm, es ist nicht von Wirklichkeit gereinigt. Vielmehr steckt es bereits voller Gefühle, Erlebnisse, Klischee, und jeder Hörer wird sie aufs Neue damit füllen. "Alle Strategien zur Umgehung des Klischees, zur Schöpfung eines "nie zuvor gehörten Tons" laufen ins Leere; vor der Historizität gibt es keinen Schutz." So Heiner Goebbels. Gut, wenn man diese falschen Skrupel verliert - ohne damit ins Beliebige zu geraten. Der Umgang mit dem Sampler kann auch verführen, alles ist disponibel; er verlangt eine klare Auswahl. Gerade die unendliche Zahl von Möglichkeiten würde ein Stück sofort zum Sprengen bringen. So beschränkt sich Heiner Goebbels: Für das Musiktheaterstück , "Die Wiederholung" verwendete er zum Beispiel nur Sounds aus Prince-Songs. Damit charakterisiert er, damit fokussiert er, und damit setzt er seine eigene Musik auch an einen bestimmten historischen Ort - das bietet gerade ihm, dem Theatermusiker, eine Vielfalt. So verwendet Heiner Goebbels Klänge bewusst als etwas Geschichtliches, mehr vielleicht sogar als andere zeitgenössische Komponisten, die eben die Abnutzung der Klänge umgehen wollen. Ein wichtiger Bezugspunkt ist dabei die deutsche Geschichte. Mit Künstlern der einstigen DDR hat sich Heiner Goebbels jahrelang beschäftigt. Er griff die Texte von Künstlern auf, die in jenem sozialistischen Land blieben, obwohl sie mit dem System in Konflikt gerieten: Die nicht glatt reagierten. So "vertonte" er mehrmals Texte von Heiner Müller. Wobei Vertonen eigentlich ein unpassender Begriff für sein künstlerisches Vorgehen ist. Durchaus in Müllers Sinn betrachtete Goebbels die Texte als Steinbrüche, deren Materialien er zum Beispiel in Hör- und Theaterstücken bearbeitete. Die Roheit blieb dabei gewahrt. Kürzlich hat er Hanns Eisler ein ebenso gefühlvolles wie mitdenkendes Denkmal gesetzt: das wunderbare Stück "Eislermaterial". Und wie Eisler, der Schönberg-Schüler, der die Zwölftontechnik anwandte, aber auch tonale Arbeiterlieder komponierte, geht Heiner Goebbels differenziert, aber pragmatisch mit den Klängen um. All das prädestiniert ihn fürs Theater. Er denkt in dramaturgischen Kategorien. Allein der erwähnte Auftritt des Kantors in der Suite ist theatralisch. Das Orchester bietet dem Sänger eine Art Klangbühne. Ein alter Gestus gewiss, von Heiner Goebbels neu inszeniert: Theater liegt ihm seit je nahe, er ist auch als Regisseur tätig, wofür er nicht unbedingt Schauspieler benötigt. Er hat ebenso ein "Augenmerk" darauf, worum es in Musik geht. Sein "Schwarz auf Weiss" etwa ist ein Musiktheater für Ensemble, Licht und Bühne. Zum Stück "Surrogate Cities", das in Luzern von den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle mit den Vokalsolisten David Moss und Audra MacDonald aufgeführt wird, entwickelt er eine neue Lichtregie. "Komposition als Inszenierung" heisst denn auch ein Band mit Artikeln von und zu Heiner Goebbels, den Wolfgang Sandner beim Henschel-Verlag herausgegeben hat. "Wir haben viel vor für Luzern", so Goebbels, und er präzisiert: "Ich sage <wir>, weil ich gerne die Ensembles, Orchester, Solisten, Dirigenten, Toningenieure, Lichttechniker und Mitarbeiter mit einbeziehe, die vor Ort viel mehr zu tun haben als ich und die auch an den Entscheidungen darüber, was und wie gespielt wird, beteiligt sind." Es liegt bei einem Theatermusiker wie Heiner Goebbels nahe, dass er gerne im Team arbeitet: Mit dem Ensemble Modern, das "Schwarz auf Weiss" aufführt, verbindet ihn bereits eine lange Freundschaft. Es spielt ausserdem einige ältere (umwerfende!) Orchesterstücke wie "Berlin Qdamm", "Herakles 2" oder "La Jalousie" sowie eine neue Suite ("Bildbeschreibungen"), die Goebbels aus der vergangenes Jahr in Genf uraufgeführten Oper "Landschaft mit entfernten Verwandten" zusammengestellt hat - auch da ganz pragmatisch. Charakteristisch für einen Theatermusiker ist auch, dass er direkter auf das Publikum zugeht. Wie aus dem Gesagten klar werden dürfte, interessiert Goebbels halt auch, was er mit seiner Musik auslöst. Und so ist es für ihn spannend, als Composer in Residence nach Luzern zu kommen. Keine Angst, er wird kaum residieren, sondern aktiv werden. Was bedeutet ihm diese Aufgabe? "Mein Problem ist ja immer wieder, dass ich keine <repräsentativen> Werke geschrieben habe, die wirklich Auskunft über die Breite meiner Interessen geben, da ich eben auch Theater mache, Musiktheater inszeniere, Hörspiele komponiere, mich Literatur und bildende Kunst sehr anregen - und ich eben auch für Orchester schreibe; aber das ist nur eine von mehreren Beschäftigungen. Deswegen freue ich mich besonders darüber, dass ich einmal die Gelegenheit habe, doch sehr viele Facetten meiner Arbeiten zu präsentieren. Zumal die Schweiz immer mehr zu meiner künstlerischen Produktionsstätte wird. Nach Lausanne (Theatre Vidy) und Genf (Opera) nun das Lucerne Festival: das hat eine gewisse Logik." Und wie schätzt er das Umfeld ein, in das er sich damit hineinbegibt "Da bin ich ganz gelassen. Im Gegenteil: ein Umfeld, ein Publikum, das ich kenne, langweilt mich. Da werden zu sehr Voreinschätzungen ausgetauscht, und es fehlt die Neugier. Ich freue mich immer auf Zuschauer, die unvorbereitet sind. Erst dann weiss ich, wie die Werke wirklich funktionieren." (Thomas Meyer)

in: Andrea Meuli (Hrsg.): Musik&Theater, Spezialausgabe Lucerne Festival, August/September 2003, S.34-37.