2004, Cornelia Jentzsch
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Die Songline in Canettis Denken

Eraritjaritjaka - Musiktheater vom Text her gelesen

Daß der Kosmos der Denkens eine eigene Welt in der Welt ist, das war für Elias Canetti einsichtig. Und nicht minder wußte Canetti, daß der Mensch in allem, was er tut, noch einmal als Phantom seiner selbst hinter sich steht. "Man kann einem Menschen nichts böseres tun, als sich ausschließlich mit ihm zu beschäftigen" 1, schrieb er in seinen Aufzeichnungen. Bekannt wurde der 1905 in Bulgarien geborene Autor und Nachkomme sephardischer Juden vor allem durch den Roman "Die Blendung", das philosophisch-literarische Werk "Masse und Macht" und eben durch seine "Aufzeichnungen", die er bis kurz vor seinem Tod 1994 regelmäßig notierte und veröffentlichte. Was Canetti unter einem Autor verstand, das faßte er in einer Ende der siebziger Jahre in München gehaltenen "Rede vom Dichter" zusammen. Ein Dichter müsse der Hüter von Veränderung sein und gegen verfestigte Denkweisen seine eigene Vorstellung von der Modifizierbarkeit menschlicher Sitten und Möglichkeiten setzen; sein wahres, hinter Worten verborgenes Gesicht vermag der Mensch nur in dem Moment zu zeigen, wo er sich wandelt. Vor allem in der literarischen Tradition und hier besonders in Märchen und Mythen fand Canetti aufgezeichnet, wie man das lernt. Überprüfen kann man die Grundhaltung dieser Rede an diversen Stellen seines Werkes, unter anderem, wenn er sich auf die Mythen der Aborigines bezieht. "Wie arm ich bin, verglichen mit einem alten Aranda!", bemerkt Canetti in seinen Aufzeichnungen. "Alle Mythen und Überlieferungen hat er jederzeit in sich, in ihrer klaren Gestalt, und was sie sagen, das bedeuten sie ihm auch. Man vergleiche das mit der Unverbindlichkeit unseres Wissens, der schalen Herumdeuterei. Dem ewigen leeren Vergleichen! Was ist einem noch wichtig, was unveränderlich genug? Da dreht man sich in dieser Welt nach rechts und nach links, es ist alles gleich riesig, alles gleich eng, zu einem einzigen Unmaß verwirrt." 2 Die Kultur der Aborigines gilt als die älteste durchgehende Kultur der Weltgeschichte, sie reicht 40.000 Jahre und wie man vermutet sogar noch weiter zurück. Die heute gebräuchliche Bezeichnung für die australischen Ureinwohner leitet sich aus dem lateinischen ab origine ab, was vom Anfang oder vom Ursprung her bedeutet. Tatsächlich aber ist der Aborigine eine Quersumme aus zahlreichen einzelnen Stämmen, die zum Zeitpunkt der britischen Eroberung Australiens im 18. Jahrhundert in fast dreihundert Sprachen kommunizierten. Heute lernt man in Australien nur noch knapp fünfundzwanzig davon als Muttersprache. "Bei der Verwirrung zu Babel hat Gott sich verrechnet. Sie sprechen jetzt alle dieselbe Technik" 3 Die Arandas sind ein Stamm in Zentralaustralien, dem Anfang des 20. Jahrhunderts ein deutscher Missionar Teil seiner Kultur bewahrte, indem er der bis dahin nur mündlich gesprochenen Sprache eine Schriftform samt Grammatik und Rechtschreibung erarbeitete. Für die australischen Ureinwohner existiert, anders als für uns Europäer, Geschichte nicht ausschließlich als zeitliches Nacheinander mit einer unüberwindlichen Trennung zwischen Tod und Leben. Für sie gab es vormals ein Neben- oder Ineinander in einer Epoche, die sie die Traumzeit nennen und in der es noch keinen Unterschied machte zwischen Menschen, Tieren und spirituellen Wesen. Damals wurde die Welt erschaffen oder "erträumt". Für "voller verlangen nach etwas was verlorengegangen ist" gibt es deshalb in ihrer Sprache auch einen Begriff: "Eraritjaritjaka" 4. Das neue Musiktheaterstück des Frankfurter Komponisten und Regisseurs Heiner Goebbels hat nicht ohne Hintersinn dieses Arandawort, das Goebbels in Canettis Aufzeichnungen entdeckte, als Titel erhalten. Denn Goebbels’ neues Werk befaßt sich zum einen ausschließlich mit dem labyrinthischen Textwerk von Elias Canetti. Andererseits ist das Arandawort so modern wie nur irgend ein Wort sein kann. Jede anwesende Zeit zehrt von der schmerzhaft sehnenden Erinnerung an das, was ihr entflohen und nur noch fiktional wiederherstellbar ist. Nach "Oder die Glücklose Landung" und "Max Black" ist "Eraritjaritjaka" der dritte, aber nicht zwangsweise auch abschließende Teil einer auf den Schauspieler André Wilms zugeschnittenen Trilogie, die sich dem Denken als Wagnis und Vergnügen widmet. "Das vollkommenste und furchterregendste Kunstwerk der Menschheit ist ihre Einteilung der Zeit." 5, schreibt Canetti. Denn proportional zu ihrer Zerstückelung wächst die Zeit zum begehrten Objekt heran, deren immer zahlreicher herstellbare und kleinere Partikelchen sich wie bares Geld anhäufen lassen. Je stärker sich der portionierte Moment aufbläht und anschwillt, desto unerreichbarer und darum wertvoller wird im Gegenzug das, was von ihm bereits verflossen und in den dunklen und gefräßigen Schlund der Vergangenheit hinabgestürzt ist. Auch der Europäer seufzt "Eraritjaritjaka", egal ob auf deutsch, englisch, spanisch, ungarisch oder rätoromanisch. Doch genaugenommen gibt es keine Vergangenheit. Alles, was sie ausmacht, trägt der Mensch in sich als Erinnerung, Erkenntnis, Geruch oder Gedanke. Der Rest ist soweit in Bild, Ton oder Schrift fixiert worden, daß er jederzeit abrufbar und damit unmittelbar wieder dem Jetzt zuzuschlagen ist. Real und gegenwärtig bleibt nur die Imagination, alles andere verschwindet im Totenreich der Zeit, das mitten unter uns lebt. Auf dieser permanenten Vorstellungskraft baut Heiner Goebbels’ Musiktheater auf. Canetti zieht mit in seinem Werk Denkspuren, legt Fährten, nimmt Schritte in verschiedene Richtungen auf. Seine Gedanken tasten sich vor, loten aus, entdecken und hinterlassen dabei Fragmente und Splitter. Ein Satz in seinen Aufzeichnungen bezieht sich selten auf den nächsten, eher liegen sie wie vereinzelt gefallene Mikadostifte um ein unsichtbares Zentrum gelagert. Der Urheber verteidigt seine Methode in der dritten Person: "Er will zerstreute Aufzeichnungen hinterlassen als Korrektur zum geschlossenen System seiner Ansprüche" 6 Und weiter schreibt er: "Für den systematischen Geist gibt es nur eine Rettung: die spontane und zufällige Äußerung, die man nicht weiter verfolgt. Sie darf sich nur nicht für eine Gesetz oder eine Großmacht ausgeben." 7 Das Denken konstruiert auf diese Weise unentwegt neue Räume, die mit dem, in welchem sich der Denker gerade aufhält, nicht zwingend identisch sind. Diese Höhlungen, Ausbuchtungen und Futterale sind gleichzeitig mehrdimensionale Dehnungen in die Zeit. Vergangenheiten und Gegenwarten überlagern, überschneiden sich, verschmelzen miteinander oder löschen sich manchmal auch gegenseitig aus. Sich mit dem Werklabyrinth von Canetti auf der Bühne zu befassen ist ein Wagnis, da solch ein räumliches Vorhaben bald im optisch-akustischen Aufpolieren des opulenten Textkörpers steckenbleiben könnte. Die bizarren Wortgeflechte verführen andererseits zur beliebigen Zügellosigkeit. Scylla und Charybdis hat Heiner Goebbels mit seinem Musiktheaterstück sicher umschifft. Man müsse die Sätze auseinanderhalten, sonst werden sie zu Farbe, forderte Elias Canetti und Goebbels beschreibt alternierend dazu seine Methode: "Das erklärt vielleicht, warum ich mich zunächst auf 'schwarz und weiß' reduziere, damit die Farben individuell aufgetragen werden können. Die Sinne nicht zukleistern. Den ersten Satz nicht durch den zweiten einengen, kommentieren." 8 Schon hier, meint der Regisseur, schlage Canettis Sensibilität für die Gleichgewichtsverhältnisse an. "Nebeneinanderlegen darfst du die Sätze schon, sie mögen einander sehen, und wenn es sie reizt, dürfen sie einander berühren. Mehr nicht." 9, lautet Canettis Gebrauchsanweisung. Dieses Canettische Nebeneinander knüpft an das Eingangszitat über den alten Aranda an, welcher meinte, er habe alle Mythen und Überlieferungen jederzeit in sich. Er ist demzufolge nicht nur im kompletten Besitz seiner anwesenden Vergangenheit, sondern mehr noch: Er trägt sie in ihrer klaren Gestalt, und was sie sagen, das bedeuten sie ihm auch. Eine solch eindringliche und tätige Anwesenheit ist durch Enthierarchisieren möglich, einem zeitlichen wie auch bedeutungsmässigen. Das bei den Arandas beschriebene emanzipierte Nebeneinander ist nicht zu verwechseln mit jener unkontrollierten Koexistenz, die sich in der Moderne breitgemacht hat und in der sich einfach alles nur durch sinnlose Überfüllung gegenseitig aus der Hierarchie stößt. Die immense Verschachtelung von Zeit und anschaulichem Denken im Werk von Elias Canetti hat Goebbels anschaulich und klar in Szene gesetzt, ein Theater vielleicht sogar noch konsequenter als in den beiden vorangegangenen Stücken der Trilogie. Das Utopische liege in der Form, beruft sich Heiner Goebbels auf Heiner Müller, und erweitert die Komponenten Raum, Text, Musik und Video geschickt um sich selbst. Die logische Wahrnehmung der Welt wird dank überraschend einfacher Handgriffe des Regisseurs mit ihrer akustischen und optischen verschraubt. André Wilms teilt nicht nur Sätze mit, sondern zeitgleich mit dem Messer Zwiebeln. Das Tacken auf dem Brett klopft exakt den Rhythmus der Musik. Die Instrumentalisten des Amsterdamer Mondriaan-Quartets spielen diese nicht nur live, sondern gleichzeitig als Schauspieler auf der Bühne. Die Musik hört André Wilms aber nicht, da er die Bühne schon längst verlassen hat und seine Zwiebeln anderswo zerteilt. Mit dem Taxi war er über den Kurfürstendamm in eine Wohnung entschwunden. Hier bereitet er sich in der Küche als Kien, Sinologe und Romanfigur aus Canettis "Blendung", das Abendbrot und sinniert übers Schreiben und Vergangenes. "Es ist nicht das Erlernte, das ich hasse, was ich hasse ist, daß ich darin wohne." 10 Verfolgt wird er dabei von Bruno Deville, der Kien-Wilms für das Publikum mit einer Videokamera zurück auf einen Bühnenhintergrund projiziert, welcher exakt der Außensilhouette jenes Hauses entspricht, in dem der ferne Protagonist just durch die Zimmer wandelt. Plötzlich geht das Licht in den Kulissenfenstern an, und hinter ihnen sieht man Wilms schon längst wieder auf der Bühne sitzen, gemeinsam mit Videokünstler und Mondriaan-Quartet. Doch wo auch immer André Wilms sich an diesem Abend aufgehalten hat, seine und damit Canettis Stimme verblieb während sämtlicher Ausflüge unmittelbar am Ohr des im Theater sitzenden Publikums. Vielleicht ist das der bühnentechnische Kunstgriff für Erinnerung schlechthin, weil die Stimme das Abwesende an das Anwesende anschließen kann und mit dem Wort auch das Vergangene in der Gegenwart als Erinnerung aufgehoben ist. Das Musiktheater von Heiner Goebbels beweist, die Zeit ist eine hin- und herspringende Kippfigur. Streichinstrumententöne steigern sich in die Motorgeräusche eines startenden Flugzeuges, aus kleinen Lichtpunkten am Bühnenboden schälen sich die Lichtsignale einer Startbahn plus Beleuchtung der sie umgebenden Stadt. Kippfiguren sind Begriffe aus der Psychologie und dienen dem Nachweis, daß an jeder menschlichen Wahrnehmung gleichzeitig die inneren Gegebenheiten des Wahrnehmenden beteiligt sind. Ein berühmtes Beispiel für eine solche Umspringgestalt ist der vom dänischen Psychologen Edgar John Rubin erfundene schwarzweiße Becher, dessen weißes Innenfeld als Pokal und dessen schwarze Außenfelder als Scherenschnittprofile menschlicher Gesichter wechselseitig ineinander überkippen. Was ich wahrnehme, was mein Auge dem Gehirn übermittelt, habe ich unbewußt vorher festgelegt. Ich sehe, was ich bin. Und bei Canetti liest der Mensch, was er ist: "Immer wenn man ein Tier genau betrachtet, hat man das Gefühl, ein Mensch, der drin sitzt, macht sich über einen lustig." 11 In seinen Texten provoziert Canetti überhaupt mit Hingabe: "Eine Gesellschaft, in der man nur einmal im Jahr atmet" 12, das ist natürlich nicht zu schaffen. Der Autor versucht für einen Moment zu verblüffen, gerade lang genug, um Irritation zurückzulassen und die rumorende Frage nach dem Warum. Hätte Canetti jedoch gemahnt: geht sorgsam mit Euerm Atem um, oder: die Kunst des Atmens ist es, die zum Leben verhilft, also atmet bewußt und frei, oder: jede Gesellschaft soll zum Wohle ihrer Mitglieder beschaffen sein - diesen moralischen Miniaturen hätte wohl kaum jemand zugehört. Canetti treibt seine Sätze wie Keile zwischen sich und die Welt, sie sperren den durch alles gehenden Riß noch ein wenig mehr auf, damit man in aller Seelenruhe die Abgründe, die sich darunter verbergen, betrachten kann. "Es soll jeder durch die Ritzen sehen können. Es hänge nichts zusammen." 13 In diesem abgründigen Sinn von Betrachtung ist wohl der Untertitel von Heiner Goebbels’ Stück, "musée des phrases / Museum der Sätze" zu verstehen. Das Wort Museum peilt bei ihm, man ahnt es ja schon, alles andere als die Glasbox an, in der Geeignetes zur freundlichen Begutachtung aufgebahrt und gelegentlich entstaubt wird. Auf welche Art und Weise lassen sich aber dann Sätze betrachten, um hinter den Worten die Menschen aufleuchten zu lassen, denen sie galten? Sind Sätze möglicherweise in überhaupt keinem Betrachtungsraum zu verstauen, weil sie stets ihre Gültigkeit behalten und mit ihrer vermittelnden Arbeit nie aufhören? Goebbels’ Theater weist eher auf den Sinn der ursprünglichen Herkunft des Wortes. "Mouseion" stammt aus dem Griechischen und bedeutete "Musensitz". Die Musen, das waren die Töchter, die Zeus Mnemosyne machte, der Schutzherrin von Gedächtnis und Erinnerung. Seinen neun weiblichen Nachkommen legte der Erzeuger den väterliche Erlaß auf, Künste und Wissenschaften zu betreuen und dabei stets eine harmonische Ordnung zu hüten. In diesem Sinn versucht auch das "Museum der Sätze", die Dinge des Abends in Ordnung zu bringen. Harmonie nennt sich der klassischen Ästhetik nach das Geschoß, das auf Ebenmaß und Übereinstimmung zielt. Heiner Goebbels läßt in seinem Musiktheater sämtliche Komponenten – Text, Musik, Bild und Licht – versetzt agieren, damit sich ihre unterschiedlichen Kräfte im Sinne des Stückes potenzieren. Harmonie beschreibt dabei nur eine ideelle, intuitiv erfaßbare Gesamtkomponente, die für Goebbels ausschließlich durch eine kräftige Dissonanz im Einzelnen herzustellen geht. Zu seiner Theaterarbeit erklärt er: "Es gibt wenige Momente, in denen ein gleichgewichtiges Nebeneinanderlegen der Theatermittel sinnstiftend ist, vielmehr reden wir doch eher darüber, daß es um eine wechselseitige Verschiebung der Prioritäten geht, die man im Einzelnen gar nicht vermeiden darf, wenn man die Mittel zu ihrem Recht kommen lassen möchte." 14 Canetti schrieb 1952, manches merke man sich bloß, weil es mit nichts zusammenhängt. Dieses Jahr war zufällig das Geburtsjahr von Heiner Geoebbels, nicht zufällig aber sei gerade dieser Satz die Schlüsselformel für sein Musiktheaterstück geworden. "Vieles wird sich gerade aus diesem Nicht-Zusammenhang für die Aufführung ergeben: die unabhängige Existenz der Theatermittel, die in meiner Arbeit einzeln vorgestellt werden: die Musik, das Quartett, das Licht, der Film. Wie entwickelt sich der Raum für unsere Wahrnehmung? Der schwarze Raum, dann das weiße Rechteck, das kleine Haus, das große Haus; das Draußen, das Drinnen. Später die Verschränkungen." 15 Die Verbindungen zwischen allem schafft sich der Zuschauer im Kopf. Er wandert mit Augen und Ohren und tastet ab. In seiner Wahrnehmung ist der Mensch ein Nomade geblieben. Selbst inzwischen seßhaft geworden, schickt er noch immer seine Sinne unentwegt auf Reisen. Vor einigen Jahren wurde ein Roman des Engländers Bruce Chatwin ins Deutsche übersetzt, der sich mit der nomadischen Herkunft des Menschen beschäftigt. In diesem autobiographischen Roman "Songlines" heißt es : "Die Weißen gingen von der verbreiteten, irrtümlichen Annahme aus, das die Aborigines, weil sie Wanderer waren, keine Landbesitzordnung hätten. Das ist Unsinn. Aborigines konnten sich ein Territorium nicht als ein von Grenzen umschlossenes Stück Land vorstellen, sondern sahen es eher als ein verschachteltes Netz von ‚Linien’ oder ‚Durch-Gängen’. Jeder totemistische Ahne streut auf seiner Reise durch das Land eine Spur von Wörtern und Noten neben seinen Fußspuren aus und diese Traumpfade ziehen sich wie Verkehrs-Wege zwischen den am weitesten auseinanderliegenden Stämmen über das ganze Land hin. Ein Lied war gleichzeitig Karte und Kompaß. Zumindest theoretisch konnte ganz Australien wie eine Partitur gelesen werden. Indem sie die Welt ins Dasein sangen, waren die Ahnen Dichter in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes poesis gewesen, das ‚Schöpfung’ besagt. Ein Mann, der ‚Walkabout’ ging, folgte den Fußspuren seines Ahnen. Er sang die Strophen seines Ahnen, ohne ein Wort oder eine Note zu ändern - und erschuf so die Schöpfung neu. Aborigines konnten nicht glauben, daß das Land existierte, bevor sie es sehen und singen konnten - wie auch das Land in der Traumzeit nicht existierte, bevor die Ahnen es sangen. Mit anderen Worten, ‚existieren’ bedeutet ‚wahrgenommen werden’." 16 Canettis Werk ist die moderne Entsprechung der Songlines. Kunst und Dichtung wie auch Musiktheater, kurz überhaupt alles, was der Mensch schöpferisch schafft, ist so besehen eine Fortführung dieser von den ab origines einst ausgiebig erprobten imaginären Wegen. Auch der moderne Mensch erkennt einander weniger auf den Verkehrsverbindungen zwischen den Dörfern und Städten als an den Linien, die sein Denken und Fühlen zieht. Sechs Eigenschaften nannte der italienische Autor Italo Calvino Ende des 20. Jahrhunderts, die seiner Meinung nach für das jetzige Jahrtausend von Bedeutung sein werden: Leichtigkeit, Schnelligkeit, Genauigkeit, Anschaulichkeit, Vielseitigkeit, Konsequenz. An dieser Vorgabe gemessen ist das Musiktheaterstück "Eraritjaritjaka" voll auf der Höhe der Zeit. 1 Elias Canetti, Die Provinz des Menschen; in: "Aufzeichnungen 1942-1972". Carl Hanser Verlag, München Wien 1973 2 Elias Canetti, Nachträge aus Hampstead; in: "Aufzeichnungen 1954-1993". Carl Hanser Verlag, München Wien 2004 3 Elias Canetti, Die Fliegenpein; in: "Aufzeichnungen 1954-1993". Carl Hanser Verlag, München Wien 2004 4 E.C., Die Fliegenpein, ebenda 5 E.C., Die Fliegenpein, ebenda 6 E.C., Die Fliegenpein, ebenda 7 E.C., Die Fliegenpein, ebenda 8 Heiner Goebbels, aus dem bisher unveröffentlichten Vortrag "Manches merkt man sich bloß, weil es mit nichts zusammenhängt" - Überlegungen zu Eraritjaritjaka" an der FU Berlin am 13.11.2004 9 E.C., Die Fliegenpein, ebenda 10 E.C., Die Provinz des Menschen, ebenda 11 E.C., Die Provinz des Menschen, ebenda 12 E.C., Die Provinz des Menschen, ebenda 13 E.C., Die Fliegenpein, ebenda 14 Goebbels, ebenda 15 Goebbels, ebenda 16 Bruce Chatwin, "Traumpfade. The Songlines". Fischer Taschenbuchverlag Frankfurt/Main 1994.

on: Eraritjaritjaka (Music Theatre)