1995, Max Nyffeler
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Querfeldein

Zur kompositorischen Arbeit von Heiner Goebbels

Es gebe kein musikalisches Zuhause mehr, sagte Heiner Goebbels einmal, und er redete damit nicht künstlerisch-existenzieller Unbehaustheit im Stil einer neuzeitlichen Schubert- oder Mahler-Nostalgie das Wort, sondern er verstand es gerade andersherum: als Aufforderung an den Komponisten, aus dem Geniestübchen des traditionellen Subjektivismus herauszutreten und draußen, im Offenen, auf die Vielfalt der Klangerscheinungen zu hören, die ihm der frische Wind des medialen Zeitalters täglich um die Ohren bläst. Goebbels selbst hat diesen Weg schon vor Jahren beschritten. Er praktiziert das ästhetische Herumstreunen mit Lust. Zwar machte er schon als Kind Hausmusik und war als Jugendlicher ein eifriger Konzertbesucher. Doch dann wurde er der Hochkultur abtrünnig. Erst nach einem Soziologiestudium mit einer Abschlußarbeit über Hanns Eisler und über den Umweg des jahrelangen freien Musizierens in der Frankfurter Spontiszene - als Mitglied des Sogenannten Linksradikalen Blasorchesters und als experimenteller politischer Musiker im Duo mit Alfred Harth - kam er zu seiner professionellen Musikerexistenz. Heiner Goebbels - der Quereinsteiger, der eigentlich immer schon mit einem Bein mittendrin war. Die Dialektik von Nähe und Ferne als kulturelles Lebenselixier, das ihn künstlerisch in Bewegung hält. Das einzige Ungebrochene an seinem Verhältnis zur eigenen kulturellen Herkunft ist die kritische Distanz zu ihr. Sie treibt ihn hinaus ins Freie: zur schnüffelnden Fährtensuche im Geröll der Weltkulturen, zu Expeditionen in der Medienwelt, zum Vagabundieren zwischen den erstarrten Kategorien der heutigen Veranstaltungskultur, zum Überschreiten der Demarkationslinie, die komponierte und improvisierte Musik, E und U, trennt. Festgefügte Wahrheiten, traditionalistische oder avantgardistische, lehnt er ab, und einen geraden Weg, gar einen, der nach Rom führte, gibt es für ihn nicht. Seine künstlerischen Entscheidungen sind das Resultat prüfender Wahrnehmung und praktischer Erfahrung. Das beobachtende Umkreisen eigener und fremder Referenzpunkte ist ihm so zur zweiten Natur geworden, daß der Gestus der frei schweifenden, der mäandernden und suchenden Bewegung seinen Werken nachgerade als inhaltlicher und struktureller Topos innewohnt. Die Motorik choreographischer Abläufe in Red Run, das Geräusch der Stöckelschuhe als Sampler-Endlosschlaufe in La Jalousie, das tastende Vordringen in den Wald in Herakles 2, die Expeditionsfarce im Theaterstück Oder die glücklose Landung (die Uraufführung fand in Paris unter dem Titel Ou bien le débarquement désastreux statt) - die Liste ließe sich beliebig verlängern.

Die Dialektik des Wegbewegens prägt auch das Verhältnis Goebbels' zu jener Musikszene, die sich früher hochgemut "Avantgarde" nannte und für die heute - faute de mieux - die zunehmend unschärfer werdende Sammelbezeichnung "Neue Musik" übriggeblieben ist. Auch wenn seine künstlerischen Interessen nur bedingt mit denen eines Komponisten neuer Musik übereinstimmen und er den Diskurs gar nicht um jeden Preis sucht - Tatsache ist, daß er mit seinen kompositorischen Konzepten die Rolle eines Fremdgängers der Neuen Musik spielt, der von der Peripherie her immer wieder in provozierender Weise in die wohlgeordneten Mitte dieser Szene hineinagiert. Das geschah zum Beispiel mit dem abendfüllenden, für die Junge Deutsche Philharmonie komponierten Orchesterwerk Surrogate Cities, in dem er das auratische Genre "Symphonik" dem kalten Scheinwerferlicht moderner Großstadtvisionen aussetzte. Daß er in dieser Komposition "E-musikalische" Erwartungen enttäuscht, daß er im Zweifelsfall den rhythmisch kompakten Big-Band-Sound der strukturellen Feinarbeit vorzieht oder die sinfonische Großform unbekümmert in ein loses Konvolut einzelner Sätze oder Satzgruppen auflöst, ist nicht Denkfaulheit, sondern substanziell für die Konzeption des Ganzen, das eben kein vermitteltes Ganzes im Sinn bürgerlicher Symphonik mehr sein will. Daß das Ganze das Unwahre ist, hat Goebbels von Adorno gut gelernt - nur bewertet er es anders: Er trauert nicht, im Sinn einer Negationsästhetik der Moderne, um den Verlust, sondern er sagt fröhlich ja zum Auseinanderbrechen und wühlt mit der Begeisterung des Sammlers und (Wieder-) Entdeckers im Flohmarkt unserer antiquarischen Kultur, auf dem heute so manches große Traditionsgut gelandet ist.

Es gibt heute nur wenige europäische Komponisten, die das Selbstverständnis der Konzertsaalmusik-Tradition so konsequent in Frage stellen wie Goebbels es tut. Das hängt vielleicht damit zusammen, daß er sich, darin John Cage ähnlich, auf dem weitläufigen Feld der performing arts gründlich umgesehen hat: in politischer Musik, Hörspiel, Theatermusik, Noise Art, Jazz, Rockmusik, Bühnenperformance. Solche Erfahrungen schärfen die Wahrnehmung für die ästhetischen und institutionellen Schranken, innerhalb derer die komponierte neue Musik heute größtenteils verharrt und in die sie sogar vermehrt wieder freiwillig zurückkehrt.

Goebbels' Verhältnis zur neuen Musik ist das einer kontinuierlichen, aus wechselnder Distanz heraus praktizierten kritischen Interaktion. Auch darin ist seine Haltung in manchem derjenigen Cages vergleichbar. Doch es gibt einen grundlegenden Unterschied. In ihm spiegelt sich genau der musiksoziologische Wandel, der sich seit den sechziger Jahren vollzogen hat und der auch die beiden Generationen, denen sie angehören, trennt. Vordergründig zeigt sich das im Verhältnis zum Publikum. Während Cage erst im letzten Lebensjahrzehnt zum umlagerten Guru einer neuen, intellektuell anspruchsvollen und keineswegs nur mehr jungen Schicht von urban people wurde, bewegte sich Goebbels in seinem Publikum praktisch von Anfang an wie der Fisch im Wasser. Die Kritik an der Neuen Musik, die Cage aus der Nische heraus, in die man ihn stellte, vorbrachte, formuliert Heiner Goebbels im Rampenlicht vor vollbesetztem Saal. Der Gefahr der Anbiederung ans mediokre Bewußtsein erliegt er dabei nicht - dafür hat er Hanns Eislers dialektische Auffassung vom Komponieren zu gründlich studiert. Sein Angriff trifft die neue Konzertsaalmusik an ihrem Schwachpunkt, nämlich an ihrer traditionellen Publikumsferne. An Goebbels' Erfolg müssen die an der Moderne geschulten Vordenker der Neuen Musik lernen, daß die Qualität des Neuen, bisher das traditionelle Legitimationsmerkmal der Avantgarde, nicht notwendig an die mangelnde öffentliche Resonanz gebunden ist und daß das Verharren im Elfenbeinturm keinen Alleinvertretungsanspruch auf künstlerische Wahrheit garantiert.

Der Unterschied zu Cage zeigt sich auch in der Stellung zum Material. Wie dieser intendiert Goebbels eine andere, freiere Praxis, die die divergierenden Elemente der heute verfügbaren Musikkulturen in einem übergreifenden ästhetischen Raum integrieren soll. Doch im Gegensatz zu Cages buddhistisch eingefärbter Maxime des everything is what it is gibt es bei Goebbels nicht die latente Tendenz zum wertfreien Gleichmut gegenüber allem Klingenden, sondern er setzt die widersprüchlichsten Bedeutungsebenen und -träger gerade gezielt nebeneinander, um aus dem Heterogenen auf spielerische Weise neue semantische Konstellationen zu entwickeln. Vorgefundene Materialien sind für ihn grundsätzlich sprachfähig; aus ihrer Vielfalt schafft er neue Sprachzusammenhänge. In Surrogate Cities implantiert er dem Sinfonieorchester die rauhen Klänge des New Yorker Vokalakrobaten David Moss und, via Computersample, den Gesang jüdischer Kantoren; das Bühnenstück Oder die glücklose Landung vereint afrikanische Instrumentalisten und Sänger mit einem französischen Schauspieler und elektronischen Keyboardklängen; in seinen Hörstücken nach Heiner Müller sind Texte, Musik und Geräusche so kombiniert, daß nie ein Illustrationismus herauskommt, sondern die unterschiedlichen Ebenen sich auf dialektische Weise gegenseitig kommentieren und beleuchten. Oder er entleert tradierte Sprachmuster und Formtopoi auf spielerische Weise ihrer Inhalte; den Hörer fordert er damit auf, die entstandenen semantischen Leerstellen mit Einbildungskraft und Kombinationsgabe individuell neu zu besetzen. So ginge beispielsweise in die Irre, wer bei der Sampler Suite aus Surrogate Cities die Satztitel als Hinweis auf die traditionellen barocken Strukturtypen verstünde. Mit Neoklassizismus hat Goebbels nichts am Hut. Vielmehr öffnen die Titel ein schillerndes Assoziationsfeld, das sich hörend erschließen und mit Phantasie weiterdenken läßt. Indem er Heterogenes aufeinander bezieht und die verschiedenen Sprachcodes miteinander verknüpft, anstatt sie bloß beziehungslos-schockhaft nebeneinanderzustellen, wie es einst die Provokationsästhetik der avantgardistischen Moderne praktizierte, ist sein Ansatz im wesentlichen interdiskursiv. Sein bevorzugtes technisches Verfahren beim Spiel mit Musik und Sprache ist die Montage, sein Vorbild die Technik des Filmschnitts. 1986 bekannte er: "Ich bekomme im Moment als Komponist viel mehr Inspiration von Filmen, also auch von Filmtechniken, von Rückblenden, von der Erzählweise, von der Wirkung von Filmen, von der ganzen Schneidetechnik, als von der modernen Musik. Und ich wünsche mir immer, daß die Komponisten im Grunde so arbeiten wie Filmemacher, daß sie genau wissen, was sie erzählen wollen, und auch versuchen, sich die Mittel auf dem Wege dahin genau zu überlegen."

Zwar sind Anfang und Ende in den Kompositionen von Heiner Goebbels stets präzis festgelegt, und aleatorische Großformen gibt es bei ihm nicht, auch wenn in der Binnenstruktur - modellhaft in dem für die Musiker des Ensemble Modern geschriebenen Red Run verwirklicht - improvisatorische Partien eingearbeitet sind. Form baut sich bei ihm als montierte Abfolge von Einzelsituationen auf, die allerdings durch eine raffinierte Dramaturgie miteinander verzahnt sind und in ihrer Zeitstruktur ein hellwaches Gespür für Spannungskurven und für die inneren Wahrnehmungsverläufe verraten. Gut läßt sich das in der 1989 entstandenen Komposition Befreiung beobachten. Vom Energieverlauf her gesehen stellt ihre Großform einen weiten Bogen dar. Gegen Schluß kippt die Entwicklung plötzlich um; der Energiestrom bricht sich in der freien Zeitstruktur der Coda, die mit "Fallen lassen" überschrieben ist und durch das Geräusch von hingeworfenen Eisenteilen, einem akustischen Signum der Demolierung, charakterisiert wird. Der formale Aufbau mit der zunehmenden Verkürzung der Abschnitte und dem Umschlag in die nicht mehr metrisch gebundene Struktur der Coda läßt die Handschrift eines Komponisten erkennen, der weiß, daß kompositorisches Handwerk vor allen ideologischen und stilistischen Implikationen zuallererst eines bedeutet: Gestaltung von musikalischer Zeit und von Wahrnehmungsprozessen.

Klar, daß ein solches Kompositionsverfahren quer zu jedem abstrakten Strukturdenken steht. Und klar auch, daß Heiner Goebbels kein Schreibtischtäter ist. Komposition ist für ihn ein sozialer Prozeß in der Gruppe, in dessen Verlauf der "Autor" das Endprodukt in enger Zusammenarbeit mit den Interpreten erarbeitet - bisher in erster Linie mit den Musikern des Ensemble Modern. Dieser Prozeß dauert bis zum Moment der Aufführung und meist sogar noch darüber hinaus, indem stets noch Änderungen, Striche, Hinzufügungen möglich sind. Komponieren wird damit zu einer genuin erfahrungsgeleiteten Tätigkeit, sein Produkt zum work in progress. Diese Praxis bildete sich bei Goebbels auf der Basis seiner jahrelangen Beschäftigung mit improvisierter Musik heraus; dazu kamen seine Kenntnisse der internationalen Entwicklungen im Gebiet jener Instrumental- und Vokalmusik, die in der Regel nicht zur sanktionierten "neuen" gezählt wird, aber dieser in Sachen Neuheit in mancher Hinsicht den Rang abzulaufen droht. In einem Referat bei den Kasseler Musiktagen 1988 unter dem Titel Prince and the Revolution, das ihm zu einem provokanten Manifest gegen festgefahrene Denkweisen in der Neuen Musik geriet, gab er darüber Auskunft: "Selbst in der Vokalmusik, in dem die akademische Musik ja seit hunderten von Jahren Erfahrungen sammelt, tauchten plötzlich Stimmen auf, die in ihrem Intensitätsgrad, Einfalls- und Ausdrucksspektrum bisher noch nie Gehörtes möglich machten (Blixa Bargeld, Furious Pigs, Diamanda Galas, Arto Lindsay, David Moss, Phil Minton etc.). Dies alles wird von der akademischen Avantgarde so schnell nicht eingeholt werden können, weil ganz andere Faktoren ihre Entstehung möglich machten: nicht nur individueller Erfindungsreichtum eines einzelnen Komponisten, sondern ein ganzer Pool von Musikern, die sich gegenseitig beeinflussen, anregen, anstacheln; eine Arbeitsweise, die sich ständig ihrem sozialen Umfeld und ihren ökonomischen Bedingungen stellen muß (z.B.: der Stadt New York), eine Offenheit gegenüber anderen Medien und eine Kraft und Reaktionsgeschwindigkeit, die nur aus der Sensibilität der Wahrnehmung von Wirklichkeit kommt."

Als Komponist neuer Musik traditionellen Zuschnitts versteht er sich nicht, ihn als Popmusiker zu bezeichnen verbietet die Artifizialität seiner Werke, zum bloß originellen Klangtüftler fehlt ihm der weltfremde Touch und für einen Zeitgeistsurfer ist er zu selbstkritisch und reflektiert. Vielleicht ist es das Mißtrauen, er könnte auf eine dieser Positionen festgelegt werden, das ihn in ständiger Bewegung zwischen den Sparten hält. Fluchtwege und Hintertüren, sich der Festlegung zu entziehen und trotzdem in der Öffentlichkeit präsent zu bleiben, findet er im multimedialen Labyrinth der heutigen Kulturlandschaft zur Genüge. Vielleicht sucht Heiner Goebbels das, was Umberto Eco über den amerikanischen Autor Leslie Fiedler schrieb: "Er will ganz einfach die Schranke niederreißen, die zwischen Kunst und Vergnügen errichtet worden ist. Er ahnt, daß ein breites Publikum zu erreichen und seine Träume zu bevölkern heute womöglich heißen kann, Avantgarde zu bilden; und er läßt uns dabei noch die Freiheit zu sagen, daß die Träume der Leser zu bevölkern nicht unbedingt heißen muß, sie zu besänftigen, mit versöhnlichen Bildern zu trösten."

(Leicht gekürzte Version des Aufsatzes, der im Programmbuch "Zeitfluß 95" bei den Salzburger Festspielen 1995 erschienen ist.)

in: Gesaenge von der Notwendigkeit des Ueberlebens - Zeitfluss 95 (Salzburg 1995)