Januar 2008, Falk Hübner
Article (de)

er tussen ('dazwischen')

Intermedialität im Werk von Heiner Goebbels

Mit Heiner Goebbels betrachten wir einen Künstler, dessen Oeuvre einen außergewöhnlichen Variantenreichtum aufweist: Mit einem vielseitigen und unkonventionellen künstlerischen Hintergrund von Straßenmusik, Improvisation, Avantgarde-Rock, Bühnen- und Filmmusik, Instrumentalwerken und Hörstücken umfasst sein Werk szenische Konzerte, Musiktheaterwerke, Arbeiten im Grenzbereich von Theater und Installation mit so unterschiedlichen Künstlern wie Heiner Müller, David Moss, dem Mondriaan Streichquartett oder in diesem Jahr das Hilliard Ensemble. Dabei hinterlassen seine collagenartigen Werke oft unvergessliche Eindrücke bei den Zuschauern; verschiedene Medien und künstlerische Disziplinen arbeiten hier auf eindrucksvolle und einmalige Art und Weise zusammen; man sieht eine ‚Architektur’ aus verschiedenen Eindrücken und Medien, die man jedoch immer auf eine eigene Art und Weise lesen und erleben kann (und muss).

Weit gefasst kann ein Medium als Vermittler, Speicher und Überträger von Kommunikation und Informationen definiert werden. Auch Technik generell kann als Medium gefasst und ins Verhältnis zum menschlichen Körper gesetzt oder als dessen Erweiterung (von Körperteilen und –funktionen) begriffen werden. Ein Medium (nach Wolf, vgl. Rajewsky: 7) kann sowohl ein semiotisches System (z.B. Literatur) wie auch mehrere semiotische Systeme (z.B. Film) enthalten.
Medien organisieren nach Marshall McLuhan die menschliche Wahrnehmung (‚Das Medium ist die Botschaft.’), wobei diese unterschiedlichen Mustern folgen kann. Die Verhältnisse der einzelnen Komponenten der Sinnesempfindung können unendlich variieren und verschieden gewichtet sein, so dass z.B. ein verstärktes Schallsignal auch gleichzeitig das Verhältnis zwischen Tast- und Geschmackssinn untereinander verändern kann und so durch jede Technik ein anderes Wechselspiel der Sinne und neue Wahrnehmungsmuster entstehen.

Heiner Goebbels interessiert nun genau dieses Wechselspiel der Sinne und Wahrnehmungsmuster. In jedem Aspekt seines Musiktheaterschaffens geht es darum, neue Sinnpotentiale zu eröffnen und dem Zuschauer ein Theater zu präsentieren „als Ort der Erfahrung [...], als Angebot.“ (Goebbels 1997: 138) Hierbei wird mit traditionellen Hierarchien wie Textdominanz oder der Dopplung von Ausdrucksmitteln gebrochen, es entsteht ein spannungsvolles Wechselspiel aller szenischen Mittel; in diesem Sinn handeln Goebbels’ Stücke von der Arbeit mit Schauspielern, Sängern und Musikern, von Zusammenarbeit abseits des Konzepts der genialen Autorenschaft.

Er bezieht alle an der Aufführung Beteiligten von Beginn einer Produktion an mit in den Entstehungsprozess ein, um den kreativen Einfluss aller Beteiligten sicherzustellen. Musiker, Schauspieler, Sänger, Bühnen- und Kostümbildner, Lichtdesigner, Tontechniker usw. sammeln in einer Reihe von Workshops Ideen, improvisieren und spielen Abläufe durch und machen Angebote zu thematischen Vorgaben. Als Ausgangspunkt für eine Szene kann Material gleich welchen Mediums funktionieren: eine musikalische Idee, ein Bewegungsablauf, eine Textidee, ein räumliches Objekt. Goebbels lenkt diese kollektiven Prozesse und schafft es, den Mitwirkenden oft „bislang unbekannte Talente zu entlocken.“ (Glandien: 320, 321) Der Sammelphase folgt die Kompositionsphase; das zusammengetragene Material wird gesichtet und weiterverarbeitet. Entscheidend für die Arbeitsweise von Goebbels ist hier die Verwendung von „Sampling als Verfahren und Kompositionshaltung“ (Glandien: 321) Dann erst findet die eigentliche Probephase statt, in der noch bis zum letzten Moment Veränderungen gleich welcher Art vorgenommen werden, was von allen Beteiligten enorme Flexibilität und Ausdauer verlangt.

Diese Arbeitsweise ist eine logische Folgerung aus Goebbels’ künstlerischem Ansatz und somit ein integraler, nicht weg zu denkender Bestandteil seiner Arbeit. Zum einen gewährleistet sie die betonte Autonomie der verschiedenen Gestaltungsebenen, bei der die Elemente zuerst ihren Eigenwert, und erst dann ihre Funktion im Zusammenhang entfalten; zum anderen bringt er so „die Erforschung des ‚Zwischen’ im postdramatischen Theater exemplarisch zum Ausdruck: es geht um die Interaktion der Performer [...]; um das Zwischen als ein gegenseitiges Reagieren der unterschiedlichen Darstellungsweisen.“ (Lehmann: 203)

Dieser hier von Lehmann als ‚zwischen’ unterschiedlichen Medien befindliche Bereich wird mit dem Begriff der Intermedialität beschrieben – „to define works which fall conceptionally between media that are already known“ (Higgins: 52). Intermedialität wird verstanden als eine Integration von ästhetischen Konzepten einzelner Medien in einen neuen medialen Kontext; in ein konzeptionelles Miteinander, „dessen (ästhetische) Brechungen und Verwerfungen neue Dimensionen des Erlebens und Erfahrens eröffnen“ (Spielmann 1994: 111). Dabei muss Intermedialität deutlich vom Konzept der Multimedialität – auch als ‚mixed media’ bezeichnet – unterschieden werden. In multimedialen Konzepten wie dem Gesamtkunstwerk oder der Oper geht es eher um Addition der unterschiedlichen Darstellungsweisen, eine in sich geschlossene Ganzheit, wobei es bei der Intermedialität wie auch bei Heiner Goebbels um die Behauptung der Einzelkünste „in der wechselseitig sich ablösenden, in einem kontinuierlichen Schwebezustand gehaltenen Präsenz“ (Goebbels 1997: 136) geht. So können sich die Verhältnisse und Spannungen der Disziplinen ständig ändern, ihre Positionen wechseln und sich austauschen; z.B. kann die Bewegung eines Akteurs autonom gegenüber dessen Text sein, während die Musik noch die vorangegangene Szene klanglich weitererzählt.

Dabei begreift Heiner Goebbels den Bereich ‚zwischen den Medien’ sehr körperlich und direkt: ihn reizt die Distanz, der Abstand zwischen den Dingen auf der Bühne; der Zuschauer wird eingeladen, „das Auseinanderdriften aufzuhalten, ‚zusammenzudenken’. (Goebbels 1997: 137) Dabei bleibt es zentraler Bestandteil, dass alle szenischen Mittel und Einzelteile – Licht, Raum, Text, Geräusch, Musik, Aktion – ihre Kräfte behalten. Gerade in Goebbels’ Musiktheaterstücken wird z.B. klangliches Fremdmaterial – ob von Prince, Hanns Eisler oder Heiner Müller – nur strukturell bearbeitet und in seiner Identität im Prinzip nicht angetastet: „Die Transparenz der Widersprüche zwischen verschiedenen Stilen ist mir sehr wichtig.“ (Buchberger/Goebbels: 76)

Ein in diesem Zusammenhang besonders eindrucksvoller Aspekt in Goebbels’ Arbeit ist sein Umgang mit Sprache und Text. Hier unterscheidet er sich sowohl als Regisseur als auch als Komponist von seinen Kollegen im Regietheater, in der Oper und der Neuen Musik. Er reduziert Text weder auf seine inhaltlichen noch auf seine klanglichen Elemente, sondern lässt Musikalität auf eine neue Weise erkennen, die sowohl das natürliche Versmaß eines Textes wie auch seine geschriebenen und gelesenen Formen und Architekturen (Satzzeichen, Schreibweisen, Zeilenbrüche, Absätze) berücksichtigt und auch versucht, „das Medium der Schriftlichkeit eines Textes mit einzubeziehen, um den Reichtum der Erfahrungen, die auf vielfältige Weise an einem Text zu machen sind, nicht auf die einzige Ebene der akustischen Inszenierung zu verkürzen.“ (Goebbels 1995: 64) Durch diese für ihn typische Herangehensweise schafft er neue faszinierende intermediale Bereiche zwischen Musik, Klang, gesungenem und gesprochenem Text, Sprache und Literatur.

Ein Stück, das für Goebbels’ Umgang mit Sprache und Text besonders charakteristisch ist, ist das 1996 mit dem Ensemble Modern entstandene Schwarz auf Weiß. Angesiedelt zwischen Konzert und Performance, kann das Stück wie kaum ein anderes wie eine „Parabel über das Schreiben und Lesen“ (Glandien: 321) gesehen werden. Weniger gesungene oder ausgesprochen rhythmisch inszenierte Sprech-Passagen bestimmen hier das Geschehen, sondern vielmehr der Vorgang, die Körperlichkeit und die Materialität des Lesens, Schreibens und Sprechens an sich. Während zu Beginn des Stückes auf dem Blatt Papier mit Mikrophon verstärkt ein direkter Bezug zwischen den Medien Papier, Schrift, dem schreibenden und laut lesenden Performer und dem Klang hergestellt wird, entwickeln sich diese einzelnen Elemente im Verlauf des Stückes autonom weiter; wenn z.B. die Schreibgeräusche sowohl durch das wiederholte Schreiben, aber auch durch eingespielte und verfremdete Weisen wieder ins klangliche Geschehen integriert werden. Gleichzeitig wird der Prozess des Lesens und Sprechens durch den lesenden Trompeter und die eingespielten von Heiner Müller gesprochenen Passagen thematisiert. Selbst die mediale Funktion des Papiers als ‚Speicher’ von Informationen wird zu einem autonomen Thema, wenn das Papier des Teebeutels angezündet und, das Thema des Textes ‚Shadows’ von Edgar Allen Poe (in verschiedenen Sprachen und medialen Formen auftretend) aufgreifend, brennend emporfliegend im Schatten verschwindet und so den Text mit anderen Mitteln weitererzählt; oder wenn die auf die großen Papierflächen projizierten Schatten der Musiker sich wie nicht speicherbare Schrift oder Zeichnungen (die letztlich nur eine andere Form von Zeichen sind) dem Zugriff des ‚Speichermediums’ Papier als Schreibfläche gnadenlos entziehen. Diese Gedanken weiterführend, kann die Choreographie der Bewegungen und des Klangs in Schwarz auf Weiß auch als „Schreiben des Raumes mit Bewegung“ (Siegmund: 130) aufgefasst werden.

Mit seinem Theater hat Heiner Goebbels Standards gesetzt und neue Arten von kollektiven Modellen der interdisziplinären Arbeit entwickelt. Damit werden gleichzeitig auch neue Möglichkeiten zur Weiterentwicklung eines solchen Intermedialen Theaters möglich, vor allem als früher nie für möglich gehaltene Startpunkte für junge Theatermacher und Komponisten. Zu nennen wäre hier vor allem die Möglichkeit paradoxer Orte zwischen Getrenntsein und Verschmelzen der einzelnen Medien zugleich, was neue Möglichkeiten der Wahrnehmung von Theater möglich machen könnte.

(Bochum im Januar 2008)

Bibliographie:

  • Stephan Buchberger/Heiner Goebbels (1995): Eher wie ein Architekt, in: Theaterschrift 9 – Theater und Musik, Brüssel
  • Kerstin Glandien (2004): Ein entfernter Vetter des Stadtplaners – Schwarz auf Weiß und Surrogate Cities von Heiner Goebbels, in: Frieder Reininghaus/Katja Schneider (Hrsg.): Experimentelles Musik- und Tanztheater, Laaber
  • Heiner Goebbels (1988): Expedition in die Textlandschaft: Sprache auf den Theater, in: Wolfgang Sandner (Hrsg.) (2002): Heiner Goebbels – Komposition als Inszenierung, Berlin
  • Heiner Goebbels (1995): Text als Landschaft: Librettoqualität, auch wenn nicht gesungen wird, in: Wolfgang Sandner (Hrsg.) (2002): Heiner Goebbels – Komposition als Inszenierung, Berlin
  • Heiner Goebbels (1997): Gegen das Gesamtkunstwerk: Zur Differenz der Künste, in: Wolfgang Sandner (Hrsg.) (2002): Heiner Goebbels – Komposition als Inszenierung, Berlin
  • Heiner Goebbels (1999): Puls und Bruch: Zum Rhythmus in Sprache und Sprechtheater, in: Wolfgang Sandner (Hrsg.) (2002): Heiner Goebbels – Komposition als Inszenierung, Berlin
  • Jürgen Heinrichs/Yvonne Spielmann (2002): Winter 2002 Editorial, in: Convergence. The Intermational Journal of Research into New Media Technologies vol. 8, nr. 4
  • Dick Higgins (2001): Intermedia, in: Leonardo 34.1, 49-54
  • Daniela Kloock/Angela Spahr (2000, 3. aktualisierte Auflage 2007): Medientheorien – Eine Einführung, Paderborn
  • Hans-Thies Lehmann (1999, 3. veränderte Auflage 2005): Postdramatisches Theater, Frankfurt
  • Wolfgang Sandner (Hrsg.) (2002): Heiner Goebbels – Komposition als Inszenierung, Berlin
  • Gerald Siegmund (2001): Task Performance als Choreographie: Die Aufgabe des Schauspielers, in: Wolfgang Sandner (Hrsg.) (2002): Heiner Goebbels – Komposition als Inszenierung, Berlin
  • Yvonne Spielmann (1994): Intermedialität – Das System Peter Greenaway, München
  • Irina O. Rajewsky (2002): Intermedialität, Tübingen und Basel
  • Helene Varopoulou (2001): Komponieren im Raum: Installation vor Ort, in: Wolfgang Sandner (Hrsg.) (2002): Heiner Goebbels – Komposition als Inszenierung, Berlin

in: Programmheft für das GOEBBELS FESTIVAL, Den Haag (NL), März 2008