14 October 2009, Mara Gavran, Dresdner Neueste Nachrichten
Interview (de)

Räume bauen für die Imagination

Heiner Goebbels ist mit "Stifters Dinge" zu Gast in Hellerau

Ist Kunst für Sie eine Sprache? Sie ist viel mehr als das, weil sie all die Register des Unbewußten berührt, auf die die artikulierte Sprache keinen Zugriff hat: das gilt gleichermaßen für die Poesie, die Musik, die bildende, wie auch für die darstellende Kunst. Anders gefragt: Führen Sie beim Komponieren ein Gespräch mit Ihren zukünftigen Zuhörern? Ich glaube es ist eher umgekehrt: ich habe - insbesondere bei "Stifters Dinge" - den Eindruck, ich mache lediglich Angebote, die die Zuhörer / Zuschauer zum Sprechen bringen. Eine Reaktion aus dem Publikum nach der Aufführung ist mir immer noch sehr präsent: "Endlich mal niemand auf der Bühne, der mir sagt, was ich denken soll...." Viele Menschen haben „Angst“ vor zeitgenössischer Musik. Können Sie das verstehen? Was tun Sie dagegen? Ich auch! Nein, ernsthaft: es gibt Neue Musik, die verstören, vielleicht sogar verletzen, zumindest aber mit pädagogischem Anspruch 'aufrütteln' will. Vor der muß man zwar keine Angst haben, aber oft will man sie auch nicht unbedingt ein zweitesmal hören. Mein Verhältnis zu den Hörern ist ein anderes: Ich gehe davon aus, daß ich ihnen (außer vielleicht bei meinem Handwerk) nichts voraushabe und sie nicht belehren muß. Hundert, fünfhundert oder tausend Zuhörer / Zuschauer sind schlauer und vor allem erfahrungsreicher als ein Komponist, oder als das Team, das sich eine Musiktheaterproduktion ausdenkt. Meine Kompositionen und Stücke bauen Räume für die Imagination des Publikums, sie wollen das Ohr und den Blick nicht verstellen oder auf meine Perspektive einengen. Im Programmheft des Festivals ist zu „Stifters Dinge“ zu lesen: „Ein Klavierstück ohne Pianisten, ein Theaterstück ohne Schauspieler, eine Performance ohne Performer“. Wie geht das? Kommen Sie, und Sie werden es hören und sehen. Theater ist ja nicht nur dazu da, um sich mit großartigen Darstellern, Musikern, Tänzern zu identifizieren und sich in ihnen spiegeln zu können. Es ist auch (und für mich ganz besonders) eine Möglichkeit, sich mit etwas "Anderem" auseinanderzusetzen - etwas, das nicht 'wir' sind. Theater reduziert m.E. alle Themen auf psychologische Konflikte. Es gibt aber Themen, die sind größer als der Dialog zwischen zwei Figuren auf der Bühne - zum Beispiel unsere Auseinandersetzung mit der Natur... Worin unterscheiden sich Stifters Dinge von anderen Dingen? Sie sind fremder und bleiben es. Bei Stifter finden Sie das Wort "Ding" auf fast jeder Seite seiner Romane und Novellen. Und es steht nicht, wie man vermuten könnte, nur für Gegenstände und Objekte. Stifter bezeichnet mit "Ding" auch all das, was ihm unbekannt ist und wofür er Respekt und Aufmerksamkeit einfordert: also auch Naturkatastrophen, Menschen anderer Kulturen. Sie waren seit Anfang der 90er Jahre schon häufiger zu Gast bei den Dresdner Tagen der zeitgenössischen Musik. In diesem Jahr wird eines Ihrer Stücke zum ersten Mal in dem künstlerisch geschichtsträchtigen Festspielhaus Hellerau aufgeführt. Was bedeutet das für Sie? Ich freue mich sehr darauf. Das Stück ist ein richtiges Experiment (auch für mich) und steht damit natürlich besonders in der Tradition von Hellerau. Es hat auch die Offenheit, den Raum aufzunehmen, auf ihn zu reagieren. Und ich könnte mir vorstellen, daß die beiden ganz gut miteinander können.

on: Stifters Dinge (Music Theatre)