23 September 2008, 3sat Kulturzeit (TV)
Feature (de)

Vier Männer in einem Hotelzimmer

Heiner Goebbels inszeniert ein szenisches Konzert mit dem Hilliard Ensemble (Bericht Kulturzeit)

"Ich habe noch keinen Komponisten erlebt", sagt einer der Sänger, "der jeden Tag etwas ändert"
So hat man sie noch nie gesehen: die vier Sänger des Hilliard-Ensembles - zum ersten Mal als veritable Schauspieler im neuen Stück von Heiner Goebbels. "I Went To The House But Did Not Enter" ist ein Stück in drei Teilen mit Texten von T.S. Eliot, Maurice Blanchot und Samuel Beckett - ein Stück voller rätselhafter Bilder. Die Musik von Heiner Goebbels verzichtet ganz auf experimentelle Vokal- Artistik.

Direkt am Ufer des Genfer Sees liegt das Théâtre Vidy Lausanne. Hier wurde das Stück produziert für Gastspiele rund um die Welt. "Es gibt zur Zeit keinen Ort in Europa", sagt der Frankfurter Komponist Heiner Goebbels, "der mir eine vergleichbare Produktionsbasis bieten könnte. Wir gehen jetzt mal rein, ihr könnt beim Aufbau zugucken, ich müsste aber eigentlich schon bei einer Gesangsprobe sein - oder ihr kommt da mit." Das lassen wir uns natürlich nicht entgehen.

"Das ist wirklich ein Gemeinschaftswerk"
Das Hilliard Ensemble ist spezialisiert auf Alte Musik doch hat es immer schon mit zeitgenössischen Komponisten zusammengearbeitet - aber nur, wenn die Musik ihrem Gesangstil entspricht, mit dem sie weltberühmt wurden. Heiner Goebbels hat ihnen die Musik auf den Leib geschrieben. Drei Wochen lang wurde in Lausanne geprobt, von morgens um zehn bis abends um acht Uhr. Jedes Geräusch, jeder Atemzug ist exakt festgelegt, und doch wird bis zuletzt geändert, wenn Heiner Goebbels sieht, dass sich ein Sänger nicht wohlfühlt in seiner Haut. "Heiner ist wirklich offen für Vorschläge, das ist wirklich ein Gemeinschaftswerk", sagt Countertenor David James. "Er hat zwar alles komponiert, aber er gibt uns die Musik, damit wir sie durchsingen, etwas ausprobieren und dann sehen, ob es funktioniert." Der Tenor Rogers Covey-Crump ist sicher: "Das erweitert unsere Fähigkeiten ganz ungemein, und es ist eine große Herausforderung. In einer Szene mit dem Text von Blanchot, sind wir in verschiedenen Räumen eines Hauses, wir können uns nicht sehen, nur hören."

Doch nicht das Singen war die größte Herausforderung für die vier Akteure: Im mittleren Teil haben sie fast nur zu sprechen, rhythmisch und klanglich genau aufeinander abgestimmt, und dann und wann ein kleines Desaster - genau geplant. Das Bühnenbild von Klaus Grünberg ist erstaunlich realistisch, wie ein Filmset. Und Sounddesigner Willi Bopp liefert die passenden Geräusche.

Heiner Goebbels hat sein Stück zwar schon seit Monaten fertig notiert, doch vieles hat er wieder verworfen. "Was theatralisch wirkt", sagt er, "entdeckt man erst bei den Proben. Ich bin selbst überrascht von dem, was da entsteht in diesem Stück. Es ist ja nicht so, dass ich vorher eine Vision hätte und diese drei Teile schon gesehen hätte vor zwei Jahren, als wir den Plan hatten. Das entsteht tatsächlich in der Arbeit mit den Musikern, mit dem, was sie mir vorgesungen haben, mit dem, wo ich ihre Qualitäten zu entdecken glaube, oder was ich noch aus ihnen herausholen kann, was sie vielleicht noch nie bisher gemacht haben." Heiner Goebbels respektiert die Besonderheiten der Sänger und sie respektieren ihn und finden es toll, dass sie mitreden können, um ein Maximum an Wirkung zu erreichen. "Ich habe noch keinen Komponisten erlebt", sagt einer der Sänger, "der jeden Tag etwas ändert."

"Das ist ganz ungewöhnlich", ist auch der Bariton Gordon Jones überzeugt: "Wir wären manchmal glücklich, wenn wir dem Komponisten sein Werk zurückschicken und sagen könnten: 'Schau mal, wir sind vier Männerstimmen, wir haben keinen Sopran, was du da geschrieben hast, das passt nicht für uns.'" Auch der Tenor Steven Harrold hat "volles Vertrauen in Heiner, dass er uns schon sagen wird, wenn etwas auf der Bühne nicht funktioniert. Kurz gesagt: Ich kann ihm vertrauen, und was er sagt, das glaube ich. Das erleichtert die Arbeit."

Rätselhaftes Theater
Vier Männer in einem Hotelzimmer: Gesungen wird ein Text von Beckett. Für das Publikum unsichtbar sind überall Monitore versteckt, die es den Sängern erleichtern, den Text und die Noten zu erinnern. Denn alle vier haben wesentlich mehr zu singen und zu sprechen als in einer Oper. Es ist eine rätselhafte musikalische Litanei, scheinbar ohne Sinn. Manchmal tickt nur eine Uhr und es passieren seltsame Dinge auf der Bühne. Heiner Goebbels findet, dass Theater nicht nur über Verstehen ist, sondern damit zu tun hat, dass wir gerne Dinge sehen, die wir noch einmal sehen möchten, weil wir sie beim ersten Mal nicht ganz erklären konnten. Beim zweiten Mal erleben wir, dass es immer noch ein Rätsel in sich trägt, das finde ich das Interessante am Theater."

Heiner Goebbels nennt sein Stück ein szenisches Konzert. Doch es ist mehr als das: Wie ein roter Faden zieht sich durch den Abend die vergebliche Suche nach Sinn. Man kann in Ruhe beobachten, hinhören, rätseln. Niemand steht auf der Bühne, der einem sagt, was man denken soll. Es ist kurzweilig und entspannend und übrigens für die ganze Familie. Wo gibt es das sonst im zeitgenössischen Musiktheater?

on: I went to the house but did not enter (Music Theatre)