9 December 2014, Michael Struck-Schloen, Goethe.de
Portrait (de)

Freiheit ohne Nostalgie

Die Ruhrtriennale unter Leitung von Heiner Goebbels

"Drei Jahre lang leitete der Komponist Heiner Goebbels die Ruhrtriennale, bevor er turnusmäßig sein Amt 2015 an den Niederländer Johan Simons weitergibt. Und das war Zeit genug, um einem der wichtigsten Kunst- und Musikfestivals Europas eine eigene Richtung zu geben. Ein Resümee einer vielfältigen Intendanz. Am Anfang steht eine kritische Nachfrage: Warum ein Budget von 14,5 Millionen Euro für ein Festival, bei dem es – glaubt man den Medienberichten – vor allem auf den Showcharakter anzukommen scheint? Warum spendiert die Regierung von Nordrhein-Westfalen das Geld nicht ihren heruntergesparten Orchestern oder Theatern, statt damit für anderthalb Monate experimentelle Kunst in renovierten Fabrikhallen zu finanzieren? Man könnte antworten wie die Wirtschaftspolitiker im Lande: Weil sich ein Festival mit der internationalen Ausstrahlung der Ruhrtriennale auch ökonomisch für die Region zwischen Duisburg und Dortmund auszahlt. Doch zentral bleiben sollte in der Argumentation das Grundsätzliche: die Bedeutung des Theaters als Spiegel und sozialer Impulsgeber. Eine Gesellschaft, die zwar ihre Technologien, nicht aber ihre Kunstformen weiterentwickelt, rutscht zwangsweise in jene institutionelle Erstarrung, die der Komponist Heiner Goebbels – von 2012 bis 2014 Intendant der Ruhrtriennale – gerade vermeiden will: „In unseren Stadttheatern findet das Nachdenken über die Struktur des Betriebs, über das Verhältnis zum Publikum oder die Dramaturgie einer Aufführung ja kaum statt. Man sollte das deutsche Theatersystem endlich für andere Produktionsformen öffnen, die in der freien Szene mit großem Gewinn entwickelt wurden. Dafür haben Sie bisher in Deutschland nur kleine, unzureichend ausgestattete Spielstätten – oder die Ruhrtriennale.“ Künstlerische Unabhängigkeit als Prinzip Prinzipiell kauft dieses Festival also keine Produktionen bei anderen Theatern oder Festivals ein, sondern engagiert Regisseure und Künstler, die unter besten Arbeitsbedingungen vorhandene Stücke inszenieren – am liebsten aber eigene Stücke entwickeln. „Kreationen“ taufte dies einst der erste Ruhrtriennale-Intendant Gérard Mortier. Und weil Heiner Goebbels im Gegensatz zu Mortier besonders den Tanz liebt, hat er in den letzten drei Jahren internationale Choreografen eingeladen, die vielfarbige Ariadnefäden durch das geballte Programm der Triennale knüpften. Lemi Ponifaso aus Samoa etwa, ließ Carl Orffs spröde, statisches Alterswerk Prometheus – in altgriechischer Sprache – zu einem magischen Ritual aus Licht und Bewegung gerinnen; Anne Teresa de Keersmaeker schweißte in einer nächtlichen Performance bis zum Sonnenaufgang Tänzer und Sänger eines Chores zusammen; der Franzose Boris Charmatz ließ im Projekt manger (essen) seine Darsteller eine Stunde lang Esspapier in sich hineinschlingen, während Mathilde Monnier im Ballungsgebiet an der Ruhr Menschen aus drei Generationen mit unterschiedlichen Talenten ausfindig machte, die in Goebbels‘ Komposition Surrogate Cities symbolisch für die polyzentrische Region und ihre Bevölkerung standen. Goebbels’ Visionen „Ästhetik auf drei Jahre“ hat Heiner Goebbels das Prinzip Ruhrtriennale für sich definiert. Die eigene Ästhetik des Komponisten, Hörspielmachers und Regisseurs aus Frankfurt, die er seit 1999 am Institut für Angewandte Theaterwissenschaften an der Universität Gießen lehrt, vermeidet prinzipiell das psychologisierende, narrative Theater („Geschichten erzählt mir auch mein Gemüsemann“) – eine Vorgabe, die er mit den meisten der eingeladene Künstler teilte. Louis Andriessen, der niederländische Komponist des Jahrgangs 1939, reflektiert in seinem Musiktheater-Essay De Materie von 1989 über Zusammenhänge zwischen geistigen Errungenschaften – vom Schiffsbau bis zur Entdeckung der Radioaktivität –, Kunst und Philosophie auf die Gesellschaft. Goebbels hat das Werk in der „Kraftzentrale“, einer aufgelassenen Industrielandschaft im Duisburger Norden, als assoziativen Bilderbogen inszeniert – inklusive Zeppelinen, Schafsherde und der Nachstellung eines historischen Fotos, das Marie Curie bei einer wissenschaftlichen Konferenz zeigt. Damit wurde 2014 einmal mehr ein zentrales, aber selten gespieltes Musiktheaterwerk des späten 20. Jahrhunderts wiederbelebt – nach den Europeras von John Cage, der Hippie-Oper The Delusion of the Fury von Harry Partch oder Helmut Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzern in den vergangenen Spielzeiten. Den radikalsten Verzicht auf jeden werkbezogenen Inhalt wagte wohl der Italiener Romeo Castellucci in seiner Neudeutung von Igor Strawinskys Ballett Le sacre du printemps, in der man weder heidnischen Opferriten aus dem alten Russland noch überhaupt Tänzern begegnete. Zur kantigen Musik aus dem Lautsprecher tanzten, kurbelten und trudelten eigens konstruierte Maschinen im Bühnenhimmel: seltsame Trichter und Gefäße, die im perfekt koordinierten Rhythmus (Tier-)Knochenstaub auf den Boden oder in Richtung Publikum pusteten – eine gespenstische Veranstaltung ganz ohne Menschen, ein Schlachthaustanz der frühen Moderne. Dagegen verfiel Romeo Castellucci in seiner Bebilderung der Oper Neither von Morton Feldman auf einen Originaltext von Samuel Beckett auf das gegensätzliche Prinzip und erfand Bilder aus dem Genre des Film noir zu einer Handlung, die es bei Feldman gar nicht gibt. Heute, nicht gestern Vieles gab es also unter der Intendanz von Goebbels zu entdecken – nur auf eines verzichtete er völlig: auf die Industrie-Nostalgie, die dem Ruhrgebiet heute noch anhaftet und auch von den meisten Intendanten der Ruhrtriennale liebevoll gepflegt wurde. Goebbels aber schaute nicht in die Vergangenheit, sondern in die Gegenwart, holte ein junges Publikum in die Hallen, erfand eine Kinder-Jury für die besten Stücke eines Jahrgangs, ging mit seinen Projekten in die Museen und Locations der umliegenden Städte, suchte die Zusammenarbeit mit der Initiative „Urbane Künste Ruhr“. Die Ruhrtriennale gibt eine Besucherauslastung von 90 Prozent an – ein Rekord, der sicher auch Goebbels‘ eigenem Anspruch zu verdanken ist: „Es kann nicht sein, dass im 21. Jahrhundert ein junger Mensch in die Oper kommt und denkt: Oh Gott, was ist denn das, warum singen die so albern? Neues Musiktheater darf keine Kunst für Spezialisten sein.“ Hier wird auch der künftige Ruhrtriennale-Intendant, der holländische Theatermacher Johan Simons, anknüpfen müssen."

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