1 February 1983, Michael Lütscher, CUT
Portrait (de)

Heiner Goebbels

HEINER GOEBBELS SPIELT BEIM DUO GOEBBELS/HARTH UND BEI CASSIBER, HAUPTBERUFLICH SCHREIBT ER FILMMUSIK. ER IST KEIN FESTGEFAHRENER JAZZER, SONDERN HAT AUCH EIN OHR FÜR NEUE KLÄNGE. AUSSERDEM IST ER POPMUSIK NICHT ABGENEIGT. Heiner Goebbeis hat seinen Background im Rock, Blues und Rock-Jazz erworben. Seit 1975 spielt er mit Alfred Harth, der in den späten Sechzig-gern mit Free-Jazz begann (und für ECM und FMP Free-Jazz-Platten gemacht hat), im Duo zusammen. ihre ersten beiden LPs gaben Goebbels/ Harth dann auch bei der Free Music Production heraus. "Unsere Musik galt damals als Free-Jazz", so Feiner, "aber es war kein üblicher Free-Jazz, wie man ihn so kennt, wo sich ein paar Leute hinstellen und ausflippen. Wir machten eigentlich recht konkrete Improvisationen, auch motivisch-thematisch, über Hanns Eisler und andere. Das war wesentlich konkreter als sich nur auszudrücken." Der Schönberg-Schüler Hanns Eisler beeinflusste das Duo, weiches seine Stücke auch vertonte, am massivsten. "Eisler interessierte mich in seiner Mischung von Avantgarde und Popularität. Für Alban Berg und Anton Webern (zwei andere Schüler Schönbergs) habe ich mich erst viel später interessiert, Ich habe erst Soziologie studiert und , kam dadurch in ein theoretisch-musikalisches Terrain." Auf ihrer dritten LP "Indianer für morgen"(auf Eigelstein) setzten Goebbels/ Harth Synthis ein und nahmen aktuelle Strömungen auf. Das Stück "Der moderne Mensch" etwa entstand, als Goebbels aus Spielerei eine Viertelstunde lang am Synthie experimentiert hatte. Herausgekommen sind verschiedene kurze, Residents-artige Stücke. Da sie Alfred Harth gefieIen, wurden sie dann gemeinsam erarbeitet, Die beiden sind alles andere als festgefahrene Jazzer. Material ("Memory Serves"), Pere Libu, Rip Rig & Panic, Residents, sowie aktueller Rough Trade Pop á la Scritti Politti und Robert Wyatt sind Gruppen der neuen Generation, die es Heiner Goebbeis angetan haben. Ausserdem mischte er beim Zickzack-Doppelalbum 'Kirche der Ununterschiedlichkeit" mit. Goebbels, der von den Produktionen des Duo allein nicht leben kann (die Master verkaufen sich lediglich 3000/4000 mal), arbeitete damals für drei Monate in Hamburg an einem Theater. Der von Film- und Theatermusik lebende Goebbels pflegte engen Kontakt zu DD (ex-Sound! dem Goebbeis Musik sehr gefiel, während dieser selbst ein Fan der "'Politik für junge junge Leute“-Single (Nachdenkliche Wehrpflichtige) war/ist. Gemeinsam kam man auf die Idee, eine Platte zu machen. Im Gegensatz zu bornierten Musikern, die seit Jahren ihren Stil haben und diesen kultivieren und sich demgegenüber, was draussen läuft abschliessen, ist Goebbels für neue Impulse empfänglich. "Ich höre sehr viel Platten und verändere damit auch meinen Geschmack. Ich geh auch in die Disco tanzen, kontinuierlich verändert sich auch unsere Musik." Parallel zum Duo spielten Heiner Goebbels und Alfred Harth ab '76 beim sog. LinksradikaIen Blasorchester aus Frankfurt. 1981 vertonten Goebbels/Harth (zusammen mit Dagmar Krause und Ernst Stötzner) Brecht-Texte, auf der LP " Zeit wird knapp". "Wir hatten manchmal Mühe mit den Brecht-Texten, da sie oft gradlinig und pathetisch sind. Wir suchten nach einer musikalischen Lösung", um das differenzierter zu erzählen, anstatt dieses üblichen leuchtturmhaften Gesangs, wo man oben steht und alles besser weiss. Mit "Zeit wird knapp" haben wir versucht, Musik zu machen, die auch etwas Zusätzliches zu den Brecht-Texten erzählt. Wir wollen damit wegkommen von der Form von Brecht-Lesungen und Liederabenden; bei einigen Stücken ist es uns jedoch nicht gelungen, die Lese-/Sprechtechnik zu bekämpfen.“ Seit letzten Herbst existiert die Band Cassiber, deren LP "Man or Monkey" in keine Schublade passen will, "Das ist bei uns meistens so. Wir interessieren uns nicht für alle diese Klischees und Wertungen. Dadurch, dass wir vier zuvor alle verschiedene Sachen gemacht haben, ist unsere Musik so was wie eine Collage verschiedener Biographien." An einen Trend hängen sie sich nicht. "Was wir mit Cassiber machen, ist ja überhaupt nicht modisch. Es gab eine derartige Gefahr bei unserer letzten Tournee als Duo. Es wurde uns vorgeworfen, diese Synthesizer-Geschichten wären modisch. Ich glaube, der Vorwurf stimmt nicht, weil es unsere eigene Sprache war." Bei Cassiber-Konzerten wird bis auf wenige Songs alles improvisiert. Geübt wird nicht, sie spielen, was ihnen gerade einfällt. Es gibt keine Abmachungen, jeder spielt aus seiner Erinnerung heraus, ist aber auch darauf gefasst, dass etwas ganz neu ausgehen kann. Lieber eine Reihen-Folge sprechen sie sich vorher nie aus. In der Regel spielt Heiner die Stücke an, wenn die andern einsteigen, hat er Glück gehabt, sonst wird etwas ganz anderes daraus. Woran liegt es, dass die Cassiber-Songs dramatisch aufgebaut sind, sich steigern? "Das liegt ein bisschen in der Struktur, wie wir arbeiten. Wenn du ohne Absprache arbeitest, auf einen A-, B-, oder C-Teil verzichtest, so passiert als erstes, dass man repetitiv wird oder aber die Form verlässt. Das machen wir ja auch. Dann spielen wir plötzlich etwas ganz anderes, machen ein neues Experiment usw. Aber damit sich eine Struktur, eine Festigkeit kristallisiert, ist es erstmal etwas Repetitives. Dieser minimalistische Aspekt im Sinne von auf-der-Stelle-stehen-bleiben interessiert mich jedoch nicht. Deswegen entwickelt sich die Eigendynamik. Das ist, was du mit "dramatisch" meinst." Chris Cutler (u.a. Schlagzeuger bei Cassiber) hält nur unkommerzielle Musik interessant, während Fred Frith auch kommerzielle Musik mag und spielt. "Ich denke nicht, dass Fred im Ernst meint, die Nummer auf der letzten Material-LP, wo er mitspielt, sei gelungen. Ich würde auch bei solchen Produktionen mitspielen, aber unter andern Aspekten. Jedenfalls nicht mit dem Gedanken, es würde eine gute Platte werden. Ich habe nichts gegen kommerzielle Aspekte. Meine neue Single, "Die letzte Buche", ist ja musikalisch gesehen kommerziell/konventionell. Wenn eine Musik echt, sinnvoll ist, einen Grad der Sentimentalität hat, den man noch vertreten kann, bin ich damit einverstanden. Ich bin sicher de "Kommerziellste" von uns vieren bei Cassiber. Ich habe aber schon sehr hohe Ansprüche an die Musik; dass sie nicht einfach so Hintergrundmusik ist. Man soll sie also schon genau anhören müssen und sie soll noch etwas erzählen, das über die Musik selbst hinausgeht." "Die letzte Buche", bei der die Musik selber eine untergeordnete Rolle spielt, erfordert Aufmerksamkeit, man muss dem Text zuhören. Die Stimme arbeitet sich Stück für Stück voran und macht nirgendwo Halt. Die Frau entwickelt ihre Gedanken bis zum Ende, wo sie sagt, sie wisse nicht, ob sie hier noch leben könne." Von der Arbeitsweise her ist "Die letzte Buche "das komplette Gegenteil zur "Berlin-Kudamm-Single, die hektisch, aggressiv und gebrochen klingt. "Die letzte Buche" ist ein politischer Text, aber nicht propagandistisch. Der Slogan "keine Startbahn-West" kommt nirgendwo vor. "Durch die Art und Weise aber, wie die Frau erzählt, wird der Zusammenhang - der natürlich politisch ist - klar. Aber weder die Frau noch ich machen in diesem Zusammenhang etwas Politisches. Politik wird gemacht durch die ausgeführten Baumassnahmen. Im Stück erzählt die Frau u.a., was nach 35 Jahren Ehe passiert ist. Die Mischung aus Privatsphäre und Oeffentlichkeit hat mich daran fasziniert."

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