1 May 1991, Stephan Abarbanell, W&M
Portrait (de)

Mit der Hörkunst den unendlichen optischen Raum erschließen

Über Heiner Goebbels Radio-Kunst

Mit der Hörkunst den unendlichen optischen Raum erschließen Über Heiner Goebbels Radio-Kunst Außergewöhnliche Hörstücke hat er beigetragen zum Programm: Heiner Goebbels, Komponist aus Frankfurt und kongenialer Collageur etwa von Heiner Müller-Texten, die er selbstbewußt und akribisch be— und verarbeitet, das Radio bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten strapazierend. Über Heiner Goebbels bereichernde und mehrfach preisgekrönte Radio-Arbeit schreibt Stephan Abarbanell. Heiner Goebbels Hörspiele sieht man am besten im Kino. Wenn es im Saal dunkel geworden ist und das Publikum schweigt, steigen an der stummen Leinwand Bilder auf, die aus Lautsprechern kommen. Collagen aus Texten und Textfragmenten, Geräuschen, Straßeninterviews, Punkrock und bayerischer Blasmusik, kunstvoll verschachtelt, übereinandergelegt und wieder zerrissen, sich ständig fortentwickelnd, hin auf ein offenes Ende, füllen sie den Raum und verdichten sich im Halbdunkel zu sperrigen Audiovisionen. Zur Uraufführung seines letzten großen, vom Südwestfunk produzierten Hörstücks, der in fünf Bilder zerfallenden Heiner Müller-Adaption »Wolokolamsker Chaussee<< kamen allein in Berlin an die Sechshundert, die lauschten und schauten und dann, als das Stück verklungen war und es wieder helle wurde im Saal, mit den Autoren Goebbels und Müller zu streiten begannen. Umstritten war bislang eigentlich alles, was Heiner Goebbels für Radio, Theater, Konzertsaal und für die Straße komponiert hat. Er will mit seinen Stücken provozieren, um die Zuhörer zu dem zu bringen, was er von ihnen will: Partizipation am Gehörten. »Was ich erreichen will, ist die eigenständige Komplettierung des Gehörten im Kopf«, sagt Goebbels und fügt ohne einen Anflug von Arroganz hinzu: »Ich weiß, die Zuhörer haben bei mir sehr viel zu tun.« Goebbels spricht leise über seine lauten Stücke und sanft über seine rauhe Musik. Er lebt in Frankfurt, in einer ruhigen Straße des Westends, nicht weit von der Schumannstraße entfernt, die den jungen Musiker einst zu ihren Hausbesetzern zählte. Doch über diese und andere Geschichten der Vergangenheit, die ihm anlasten wie Revolutionslegenden, nur weil irgendeiner einmal Irgendwo ‚angefangen hat, über sie zu schreiben, spricht er nicht gern. Nicht deshalb, weil er sieh früherer Zeiten und Taten nicht mehr erinnern will, sondern weil er seine Biographie und Person im Grunde für nebensächlich hält. Es sei denn, biographische Details erklären, was sonst in seinem Werk unerklärt bliebe. Und so beginnt er zu erzählen, als fiele ihm dies selber erst wieder ein: »Als ich noch recht jung war, hatte ich einmal ein Hörspiel gehört. was mich damals sehr bewegt und angeregt hat. Erst kürzlich, über zwanzig Jahre danach, habe ich erfahren, daß ich beim Hören auf einen Klassiker des experimentellen Hörspiels gestoßen war. nämlich auf >Drei Mann Menschen< von Ernst Jandl und Friederike Mayröcker.« Dieses Hörspiel hat, jenseits bewußter Verarbeitung, in ihm fortgewirkt, bis zu seiner eigenen, eigentlich un- gewollt entstandenen Hörspielarbeit, zu seinen Hörspielerfolgen Mitte der achtziger Jahre: »Verkommenes Ufer« 1984 und »Die Befreiung des Prometheus« 1985, für die er bedeutende Preise erhielt: Karl-Sczuka-Preis, Hörspielpreis der Kriegsblinden und Prix ltalia. Beide basieren, wie das neuere Stück »Wolokolamsker Chaussee«, auf Texten von Heiner Müller, dem sich Goebbels auch persönlich eng verbunden fühlt. Müller hat sich nie dagegen gewehrt, daß Goebbels Texte aus seinen Stücken herausgreift, musikalisch und dramaturgisch dekonstruiert, ummontiert und mit anderen, ferngelegenen Müller—Texten konfrontiert, sie auf diese Weise eigenwillig-kongenial interpretiert. Unter den Klängen eines harten und krachenden Speed-Metal-Sound ringt ein sowjetischer Oberstleutnant monologisierend mit sich, ob er einen Deserteur erschießen lassen soll — und ent- scheidet sich schließlich dafür, vor allem, um seine Soldaten abzuschrecken. Entscheidungskampf im 2. Weltkrieg an der »Wolokolamsker Chaussee«, einer großen Ausfallstraße Moskaus und hier Namensgeberin für eine Gruppe von Heiner Müller-Stücken, die Heiner Goebbels unterm selben Titel eigenwillig und voller stilistischer Gegensätze zerlegt und vertont hat. Vom Gewissenskampf vor Moskau bis in die Generationskonflikte der DDR in den siebziger Jahren führen Müllers Stücke, die bei Goebbels voll Ironie und aggressiver Lust -— mit durchaus lyrischen Passagen - im modernen Hip-Hop Sound der Frankfurter Gruppe »We are the Crown« in einem letzten Bild ihr bitteres Ende finden. »Den fünften und letzten Teil der >Wolokolamsker Chaussee< habe ich einer Reihe Frankfurter Disjockeys vorgespielt und sic waren alle interessiert. Doch gespielt hat ihn leider keiner«, erzählt Goebbels und macht damit deutlich, daß der Gattungsbegriff Hörspiel nur Ränder seiner Arbeit ab- zudecken in der Lage ist, sein ästhetisch- politisch begründetes Schaffen das vertraute Genre jedoch sprengt. »lch habe mich immer bemüht«, sagt er im Rück- blick, »das Genre Hörspiel möglichst schnell zu verlassen. Gerade die Abwesenheit vertrauter Radiophonie war es wohl dann auch, was meine Hörspiele besonders machte und mir völlig unerwartet die Preise einbrachte.« Tatsächlich sind Goebbels Stücke weniger vom Text als von der Musik her konstituiert. Sie pflegen nicht E-Musik, sei sie nun klassischer, dodekaphonischer oder serieller Provenienz, sondern engagieren Pop und Rock, Hip-Hop, Jazz und auch Fragmente von Volksmusik. Die Frage, ob er selber, da er doch im- mer wieder fürs Radio arbeite, überhaupt Radio höre, beantwortet er ohne Um- schweife mit »Nein«. Dann zögert er, als komme ihm diese Antwort zu apodiktisch vor und sagt: »Ich höre selten Radio, eigentlich nur im Auto.« Und wieder etwas sicherer: »Was mich am Radio am meisten fasziniert, ist der schnelle Senderwechsel.« So ist es auch kein Wunder, daß das Radio für Heiner Goebbels Radikalprojekte selten Quelle der Inspiration ist. Er nutzt es, um sich zu informieren oder unterhaltend ablenken zu lassen. überraschend da- her um so mehr, woher er immer wieder Anregungen bekommt. Er nennt sie »Mini- Pop-Hörspiele« und findet sie auf älteren Platten von Frank Zappa und Stevie Won- der, mehr noch auf der neuen von Prince und Janet Jackson. »In der Popmusik fin- den sich manchmal ganze Alben, die wie radiophone Hörstücke zusammengehalten werden. Texte, Geräusche, Dialoge und szenische Darstellungen unterbrechen die Musik, kommentieren sie oder halten sie zusammen.« Hier, in der Kombination von Hörspiel und Popmusik, liegt nach Ansicht Goeb- bels viel eher die Zukunft des gefährdeten und sich, so Goebbels, auch immer wieder sich selbst gefährdenden Genres, als in den vielen konventionell komponierten und inszenierten Stücken. Und er ergänzt: »Die funktionale Musik, die sich über das Verhältnis von Ursache und Wirkung ganz genau im klaren sein muß, ist für meine Arbeit viel spannender als die neue Musik in ihrem geschützten Reservat.« Doch einen wirklichen Hörspiel-»Dancefloor-Hit« zu schreiben, ist Goebbels dennoch bislang nicht gelungen, obwohl er es gerne einmal tun würde, ohne sich selbst dabei untreu zu werden. »Die Schwerkraft, die die Literatur in meinen Stücken hat, verträgt sich dann doch nicht mit der populären Radio— und Discokultur«, sagt er. Und doch klingt es, als habe er die Idee, einen Goebbels- Hit zu schreiben, noch nicht gänzlich aufgegeben. Hinter seiner Skepsis dem Radio gegen- über, aber auch hinter der Abneigung gegenüber konventionellem Hörspiel und Theater und der geschützten Neuen Musik verbergen sich jedoch seiner Meinung nach noch ganz grundsätzliche Probleme. Als erstes hier der Versuch der Medien, ein »un- unterbrochenes Kontinuum von Sinngebung« zu simulieren. Den gleichen Vorwurf macht er dem konventionellen Thea- ter, das ebenso wie Radio und Fernsehen so geschlossen operiert, daß er das Inter- esse an ihm verliert. »Im klassisch inszenierten Theater schlafe ich meist ein und wache erst dann auf, wenn sich einer ver- spricht oder sonst etwas Ungewöhnliches passiert<<, sagt er, der die Theaterarbeit kennt. Von 1978 — 1981 war Goebbels nämlich musikalischer Direktor des Frankfurter Schauspielhauses und arbeitet zur Zeit wieder einmal an einer neuen Theatermusik für das Burgtheater in Wien, eines von vielen Theaterprojekten der letzten Jahre. Härter urteilt er über die Neue Musik, die noch ein weiterer Vorwurf trifft: »Ihre deutlich beobachtbare Absenz vom Druck des Marktes führt letztlich zu einer Kultivierung elitärer Verschrobenheiten.« Das Wagnis aber, sich auf dem Markt - den er überaus kritisch sieht — zu behaupten und sich dem Publikum, auch in öffentlichen Veranstaltungen, mit künstlerischem und finanziellem Risiko immer wieder zu stellen, hält er für unabdingbar und für sein Schaffen, das auf Partizipation möglichst vieler aus ist, geradezu notwendig. as Goebbels will, sind Interpretationen von Wirklichkeit und künstlerische Beschreibungen, die vieles offen lassen. Sein schöpferisches Prinzip lautet daher »Wahrheitsfindung über Öffnung, nicht über Reduktion.« Das zeigt sich ganz praktisch, wenn der überaus Literaturkundige beginnt, einen Text auszuwählen, um ihn sodann zu zerlegen. Er hört ihn ab wie eine Partitur, ver- sucht nicht nur seinen Sinn, sondern auch Rhythmus, Feinstruktur und potentielle Klangqualität zu entdecken. Bei bestimm- ten Passagen fragt er sich, wie diese wohl klingen mögen, wenn ein Kind sie spricht oder der Autor, ein Sänger, ein' Passant auf der Straße vielleicht, der ihn nie zuvor gesehen hat. Oft entscheidet er sich dann für mehrere Möglichkeiten gleichzeitig, wie im Stück »Die Befreiung des Prometheus«, in dem sein damals fünfjähriger Sohn Jakob ebenso auftritt wie Autor Heiner Müller (mit zünftiger Blasmusik im Hintergrund) und der Schauspieler Otto Sander. Die vielen von ihm eingesetzten Sprecher, und das ist das Ungewöhnliche, ha- ben vor allem den musikalischen Vorgaben zu folgen: keiner schlüpft wirklich in seine Rolle hinein. Wie eine zusätzliche Stimme im musikalischen Gefüge behandelt er die Sprecher, die auch selten auf eine einzige Rolle festgelegt sind. Die dem zugrundeliegende Technik läßt sich noch am ehesten mit der des »sampling« vergleichen, in der Popmusik, eine Standardmethode zur Produktion von Erfolgshits. In Goebbels Umfeld läßt sich »sampling« am besten mit »Collage« wiedergeben, die letztlich nichts anderes ist als raffinierte Form der Bastelei, wie sie etwa Claude Levi-Strauss beschrieben hat. Denn der Bastler benutzt, was ihm brauch- bar erscheint, montiert Fertiges oder Abgelegtes, vielleicht auch schon wieder Demoliertes, um es in eine neue, von ihm er- dachte Ordnung zu bringen. Er gibt den Dingen innerhalb seines Konglomerats von Einzelteilen einen neuen, überraschenden Sinn. Doch zweierlei unterscheidet den Komponisten Goebbels wesentlich vom gewöhnlichen Bastler, der Dinge lediglich improvisierend reorganisiert, »second hand«-Elemente für sein neues Produkt noch einmal ordentlich auf- putzt. Zum einen: die Strenge und Striktheit der Herrschaft des Konzepts über den Schaffensprozeß; zum anderen, daß die montierten Teile hoch artifizielle Produkte sind. Für Improvisation und Spielerei bleibt bei alledem kein Platz. »In meinem Studio«, erklärt Goebbels, »kann ich so gut wie alles an Klang herstellen, und auch die Realität enthält an Geräuschen und Tönen einen unerschöpflichen, stets verfüg- baren Vorrat, so daß ich mich angesichts der unendlichen Möglichkeiten der lmprovisation verlieren würde.« Das eindeutige, durchaus hierarchisch zu sehende Verhältnis von Konzept und Werkstatt hat in Heiner Goebbels Wohnung auch seinen ganz sinnlich Ausdruck gefunden. In der Bel’ Etage des efeuumrangten Altbaus stehen der Flügel (auf dem Noten von Mozart und Beethoven lie- gen) und ein übervoller Schreibtisch. Am Boden Stapel mit Aufsätzen und Büchern, ordentlich voneinander getrennt und jeweils einem neuen Projekt zugeordnet. Hier wird geplant, gelesen, konzipiert und komponiert. Erst wenn dieser Vorgang gänzlich abgeschlossen ist, begibt sich Goebbels in das Dunkel des Kellers, wo sich hinter einer alten braunen Holztür ein hochmodernes Studio verbirgt. Was oben ersonnen wurde, wird hier Klang. Was an Elementen gesammelt und produziert wurde, wird hier zu einem guten Hörstück, das mit Hilfe der Akustik, so wünscht cr cs sich, »einen optischen Raum erschließt, der unendlich ist.« Denn die große Chance des Radios sei es, daß es Stimme und Figur, Akustik und Optik, Rolle und Sprache, Geräusch und Vision voneinander trenne und somit einen unermeßlichcn Raum visueller Phantasie erschließe. Damit aber tut das Hörspiel auf seine Weise nichts anderes als der Stummfilm, den man im Sinne Goebbels als das Komplementärmedium des Hörspiels ansehen könnte. Denn wie die Hörstück von Heiner Goebbels in eine ungesehene Welt der Bilder führen, so eröffnet der Stummfilm eine ungehörte Welt der Klänge. Zur Zeit befindet sich Goebbels in der geheimnisvollen Welt des antiken Troja und Mykene. Texte von Troja-Entdecker Heinrich Schliemann will er in einem neuen Hörstück verarbeiten. Und es sieht so aus, als habe Goebbels sich vorgenommen, die Arbeit Schliemanns gleichsam in einem entropischen Verfahren, wieder auf. zulösen. Denn hatte Schliemann in seinen Grabungsberichten textlich verdichtet, wie und unter welchen Umständen es zu seinen Funden kam, so macht sich nun der Dekonstrukteur Goebbels daran, das bei Schliemann systematisch gesammelte und geordnete wieder auf verschiedene Fundstellen zu verteilen — nur daß sie diesmal musikalischer Art sind. Die Frage freilich, 0b sich die Gedanken des alten Gelehrten mit dem Sound von Hip-Hop oder Rap vertragen, weiß wahrscheinlich zur Zeit nur einer wirklich zu beantworten: Heiner Goebbels.