05/2003, Joscha Schaback, Theater der Zeit
Portrait (de)

Von der Schwierigkeit, Heiner Goebbels zu beschreiben

Eigentlich war ich enttäuscht, als Goebbels damals zu uns kam. Ich hatte mir einen Berserker vorgestellt oder wenigstens einen "Künstlertypen", der eine Horde neugieriger Projekttutoriumsstudenten mit Macht in seinen Bann schlagen kann. Stattdessen stieg da ein stiller, eher vorsichtiger Mann die schmale, völlig ver-gammelte Treppe des Musikwissenschaftlichen Seminars der Humboldt-Universität empor. Fragen zu seiner Person, ja zu seiner musikalischen Herkunft, wies er eher ab. Auf Themen wie "Personalstil" oder "Originalität" ließ er sich überhaupt nicht ein. Und das, obwohl wir, als Höropfer mancher Kratz- und Fiepkünstler aus dem Donaueschinger Dunstkreis, gerade eine derart konkrete, ja "theatrale" Musik aus seiner Produktion "Schwarz auf Weiß" gehört hatten, die wir für absolut exzeptio-nell hielten. Und für genau diese Arbeit wollten wir eine Er-klärung, bekamen aber keine. Wieso er so ungern von "seinem unverwechselbaren Sound" oder dem "persönlichen Profil" seiner szenischen Arbeiten spre-che, wollten wir wissen. Seine Musik sei schließlich unverkennbar "Gobbelsch": Rhythmische Bläserpartien mit den charakteristischen Unisonostrecken; jazzige Riffs in häufig "klassischer", d. h. verfremdeter Instrumentierung; offener Gebrauch des Samplers; Gegensatz von eingespieltem und live gespieltem Material; Einsatz von Sprechstimme als musikalisches Instrument; harte Brüche und Schnitte zwischen zwei Abschnitten, Stimmungen, Instrumentierungen; häufige Strukturierung eines musikalischen Komplexes durch live- oder eingespielten Beat, Verweigerung von "Schmelzklängen" zugunsten von Zusammenspiel bewusst widersprüchlicher Klangqualitäten. Und auf der Bühne gäbe es nicht weniger Kriterien, die seine Arbeit charakterisierten: kollektive unautoritäre Arbeitsweise; Materialfülle; Heterogenität sauber voneinander getrennter Mittel; das Ausstellen des Musizierens als theatralen Vorgang; Vermeidung von "Schau-spielerei", die immer reellen Gegenstände auf der Bühne und das Vermeiden von "Kulissen-Illusion". Goebbels antwortete auf soviel Musikanalyse etwas salomonisch: "Das Vertrauen auf das eigene Genie', das individuell alles auskocht, dafür, glaube ich, ist die Zeit vorbei." Außerdem sei er weniger an "absoluter Musik" interessiert, sondern daran, seine Musik in immer neue Zusammenhänge zu stellen: auf Bühne, Platte, Video, in die Körper von Laien und Menschen aus außereuropäischen Kulturkreisen, in den Zusammenhang mit Bildender Kunst oder einer politischen Aktion. Überhaupt würde er lieber über "Material" als über persönliche "Erfindungen" sprechen, das hätte er mit Georg Büchner, Bertolt Brecht und Heiner Müller gemeinsam. Nicht ohne Grund würde er gerne mit dem Sampler arbeiten - als einer besonderen Aufbereitungsmaschine von "Vorgefundenem". Nun gut, dann sollte er eben von seiner musikalischen Herkunft erzählen. Ob seine Zeit mit dem Sogenannten Linksradikalen Blasorchester nicht wesentlich sein politisches Bewusstsein beeinflusst hätte, fragten wir schlau und erhielten zur Antwort: "Ich habe immer ein Saxophon in der Hand gehabt und daher keine Hand frei für Molotowcocktails." Aber seien denn die hochaggressiven Arrangements des Blasorchesters und dessen funktionale Auf-führungspraxis nicht bis in die jüngsten Arbeiten hinein spürbar? "Vielleicht" - doch, wenn er es "definieren sollte", käme er in "Schwierigkeiten". Nur, dass er definitiv aus Pop und Jazz stamme, nicht aus der klassischen Musik, ließ er zu, obwohl man das vielleicht jetzt so nicht hören würde. Auch über seine Zeit als Theaterkomponist verlor Goebbels nur ein, zwei Sätze: "Ich habe zehn Jahre an der Seite von Regisseuren gesessen und mich als Musiker gelangweilt", sagte er trocken. Immerhin hat er in entscheidenden Inszenierungen nicht nur Musik "zugespielt", sondern als echter Theatermusiker auch sich selbst und die Schauspieler musikalisch ins Spiel gebracht, sollte man nachträglich hinzufügen, wie je beispielsweise in "Marie. Woyzeck" 1980 am Bochumer Schauspielhaus. Schon damals muss er. indem er Schauspieler durch Singen oder Geigespielen überforderte, vom "professionellen Dilettantismus" fasziniert gewesen sein, der später in seinen eigenen musikalischen Inszenierun-gen auftaucht, von der Differenz zwischen Ausdruck und Ausführung, die meistens eine humoristische Note ins Spiel bringt. Und liegt es nicht auch an seiner Erfahrung als Bühnenmusiker, dass seine Musik gestische Kraft hat? Goebbels sagte nichts dazu. Ober seine Beschäftigung mit Eisler sprachen wir ebenfalls wenig. Später erst erfuhren wir, dass Goebbels über Eisler zur klassischen Musik gekommen sei. Mehr noch: Bei Eisler hätte er zum ersten Mal den Eindruck gehabt, "da ist einer, der meine Hauptinteressen anspricht- nämlich: Musik zu machen und die politischen Fragen, derentwegen ich nach Frankfurt gekommen war und Soziologie studiert habe. Diese beiden Interessen konnte ich plötzlich zusammendenken." Wie? An Eislers Vorbild "in der wechselseitigen Durchdringung von Zeit, politischer Haltung, musikalischem Material und das nicht nur auf der Ebene des Schreibtischs", sondern auch im Sinne einer großen "Körperlichkeit", eines musikalischen Engagements, einer Haltung zu gesellschaftlichen und außermusikalischen Fragen. Leichter fiel es Goebbels, über Heiner Müller und ihre lang-jährige Zusammenarbeit zu sprechen. Die Prosatexte des Autors hätten ihn stärker gereizt als die dramatischen, weil deren dyna-misches Relief weniger offen läge und "dicht" sei. Goebbels er-klärte, dass er Müllers Texte zuerst strukturell zerlege und sich an der Interpunktion, dem häufigen Vorkommen von Vokalen und Konsonanten orientiere. Dabei bestünde in der Wiederholung von Textpassagen durch Menschen unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft die Möglichkeit, über Klang-qualitäten die Realität des Außerkünstlerischen in die Texte einzubringen, ohne dass die Texte "zerfielen". Fünf Jahre hat er in seinen Hörspielen das Verhältnis von Wort und Ton ausgelotet, ehe er damit auf die Bühne ging. Mit dem Stichwort Müller waren wir bei "Schwarz auf Weiß" angelangt, bei dem die Stimme des kurz zuvor verstorbenen Hei-ner Müllers ein tragende Funktion hatte. Es war das Projekt, zu dein Goebbels am meisten erzählte. Doch was das Stück letztlich ausmache, darüber blieb er eine definitive Antwort ebenso schuldig wie auf die Fragen nach seiner musikalischen Herkunft. Es sei eine Art "Suche nach dem abwesenden Autor", sagte er. Und hatte er sich in Bezug auf persönliche Erfahrungen vielleicht mit Bedacht zurückgehalten, konnte man jetzt nicht sagen, er wäre nicht bemüht gewesen, sein Stück zu beschreiben. Doch als er rückfragte, wie wir die Arbeit beschreiben würden, blieben wir eine Antwort ebenso schuldig. War es nicht gerade die Unbeschreibbarkeit eines Zentrums seiner Arbeiten, weit über "Schwarz auf Weiß" hinaus, die uns so angezogen hatte? "Es geht um den abwesenden Autor" - das war schon an sich ein Vakuum, eine Leerstelle, frei für die Projektionen des Zu-schauers. Um sie herum hatte Goebbels sein Material angeordnet: Das Tonbandzuspiel von Edgar Allen Poes Parabel "Schatten" - gelesen von Müller; das Hörbarmachen von Schreiben durch Bleistiftgeräusche oder Samples, die an Druckerpressen erinnerten: das Lesenlassen des Textes durch die Musiker in ihrer Muttersprache; das Bühnenbild aus Papierbahnen und einem riesigen, herabstürzenden Portal sowie etliche Szenen, die asso-ziativ noch viel weiter vom "Zentrum" entfernt waren. Erst später habe ich begriffen, dass Goebbels diese Offenheit auf allen Ebenen eines Stuckes schon in der Vorbereitungsphase und bis hin zum szenischen Arrangement geradezu kalkuliert. In der Folgeproduktion mit dem Ensemble Modern. "Eislermaterial", waren die Musiker mit Sprecher und Sänger Sepp Bierbichler im Rechteck um eine ,.Leerstelle" angeordnet- den Platz, den sonst der Dirigent einnimmt. In der letzten Produktion mit dem Ensemble ist die Offenheit musikalischer und szenischer Konzeption schließlich in den Titel gewandert: "Landschaft mit entfernten Verwandten", in Anlehnung an ein Bild des Barockmalers Nicolas Poussin, das eine klare und hierarchische Perspektive vermeidet. In der Arbeit schichtet Goebbels wissenschaftliche und poetische Texte übereinander und kreuzt musi-kalisch-szenisch die Weltkulturen - eine Performance. die sich nicht nur im politischen Assoziationsfeld des 11. September und seinen Folgen aufhält, sondern gleichzeitig die Wahrnehmung selbst thematisiert: das Betrachten der Dinge im Verhältnis zu anderen und die ständige Anstrengung, eine eigene Perspektive zu gewinnen auf etwas, das die Inszenierung mit Absicht ausspart. Goebbels hatte, indem er uns mehr Andeutungen zu seiner Herkunft machte als direkte Beschreibungen, die Struktur seiner Arbeiten zum Ereignis werden lassen. Er hatte Material um ein Zentrum angeordnet, das leer blieb - bereit für uns Zuhörer, es anzufüllen. Man kann sich darüber streiten, ob dieses Bild voll-ständig auf den "Künstler" Goebbels zutrifft. Für seine Arbeiten allerdings scheint der Vergleich nicht abwegig. Das offene Zen-trum aber nacht es so schwer, etwas "Gültiges" darüber zu sagen. Goebbels Arbeiten lassen den Schreibenden nicht endgültig an sich heran. Die Schwierigkeit, über den Reiz seiner Arbeiten zu schreiben, liegt gerade in der Natur ihres Restes von Uner-klärlichkeit, Geheimnis, offenem Widerspruch und der Interak-tion des überreichlichen Materials. Manchmal kann die Leerstelle sehr groß werden und sich - in meiner Wahrnehmung - in Richtung Beliebigkeit auflösen, wie etwa in seiner Performance "Hashirigaki". Manchmal kann sie aber ungeheuer zwingend sein - wie zwischen den musikalischen Blöcken seiner letzten Orchesterkomposition "Aus einem Tagebuch. Kurze Eintragungen für Orchester" für die Berliner Philharmoniker. Wie soll man die Qualität von Zwischenräu-men, sogenannten "Pausen", beschreiben, in denen zwei Zeiten im Kopf des Zuhörers aufeinander treffen? So ging der ruhige Mann die vergammelten Stufen des Mu-sikwissenschaftlichen Seminars wieder hinunter, ohne dass wir irgendwelche Gewissheiten gewonnen hätten. Als er sich im orangefarbenen Laternenlicht der Ostberliner Baulandschaft ent-fernte, wurde mir klar, dass er uns durch die Leerstellen des Gesprächs und seiner Komposition allerdings nachhaltig in seinen Bann geschlagen hatte. (Joscha Schaback)