17 August 2002, Hans-Thies Lehmann
Portrait (de)

Ein Städtebewohner

Heiner Goebbels zum Geburtstag

Heiner Goebbels, Komponist, Regisseur, Musiker, Professor, ist Weltbürger, präsent mit seinem Werk von Japan bis Brasilien, von Skandinavien bis Portugal, unterwegs zwischen den Städten und Kulturen. Zugleich ist er: Frankfurtbewohner sforzando, con moto, überzeugter, emphatischer Städtebewohner. Sogar der gnadenlos die Illusionen zerstäubende Realismus einer Stadt wie Frankfurt funktioniert für ihn auch als produktives Element des Widerstands. Er ist einer von denen, auf die solche wie Brecht (in seinem kühlen Lesebuch für Städtebewohner zum Beispiel), aber auch Poe, Baudelaire und Robbe-Grillet als Leser rechneten. Er hat wohl, schon als er Soziologie studierte, die Stimmen der Stadt gehört: "Lasst eure Träume fahren, dass man mit euch / Eine Ausnahme machen wird. Was eure Mutter euch sagte / Das war unverbindlich. Aber das soll euch nicht entmutigen!" Es gibt in jeder Stadt gewisse besonders interessante Orte, Treffpunkte, an denen man nicht vorbeikommt. Die Wege dahin sind immer auch Wege zu eigener weiterer Erkundung. Kommt man hin, fühlt man sich orientiert, gewinnt Blick und Überblick über das an Praxis, was "an der Zeit" ist. Dieses Stadtbild gilt auch für die Szenerie der Künste und es charakterisiert Heiner Goebbels' Werk, erstaunlich vielgestaltig, musikalisch und szenisch Markierungspunkte setzend, ungezählte nationale und internationale Preise sind nur das Indiz. Entscheidend die Arbeitsweise: kein Elfenbeintürmchen, keine in sich vergrabene Formfindung, kein heutiges Spitzweg-Loft für selbstgenügsame Avantgarde-Formeln. Anders als viele E-Komponisten weiß er, wie es auf der Bühne zugeht, ist vor allem selber Musiker. Auf den Abstand zu hirnigen Isolationisten unter den gegenwärtigen Musikschöpfern legt er durchaus Wert, begreift - modern, postmodern, pop-artistisch, seine Praxis denkend - Musik- und Theatermachen als streng situiert und inspiriert durch gesellschaftliche Wirklichkeit, er will "treffen" - wirkliche Hörer und Zuschauer. Reflexion auf diese wirklichen Menschen, die seine Musik, sein Theater treffen soll, kommt bei ihm aus dem Reflex auf Realerfahrung (Stadt, Personen, Kollegen, Klangwelten). Schon komponierend, streng aufs Herzustellende konzentriert, schafft er Szenen, Begegnungen, Wegekreuzen, Zusammenspiel. Warum alles selbst erfinden, verknoten, krampfig verschweißen, wenn die Reibung unterschiedlicher Individuen und Temperamente, artistischer Impulse vielleicht die leuchtenderen Funken schlägt. Genie elektrischer Kollaborationen, die er zu kom-ponieren weiß. (Damit hat er, wie nebenbei, den Begriff des Kornponierens überhaupt weitergebracht.) In seinen Arbeiten teilt sich das Dialogische mit, die Situation zwischen Performern, Hörern, Zuschauern. Wen er sucht, das ist nicht der connaisseur rätselhafter Avantgarde-Formeln, nicht der hörend glotzende Zeitgenosse jedes events, sondern der bewusst lebende, die Städte bewohnende, politisch wache, künstlerisch provozierbare und amüsierbare Hörer/Zuschauer. Urbane Haltung: dass Heiner Goebbels bei aller Emotionalität den Raum für Distanz lässt - lässig. Keine Tyrannei klebriger Intimität. Vielmehr Musik (Theater) als Denkraum, von Eisler, Brecht und Müller her. Das gibt einen Geschmack von Unabhängigkeit und Freiheit. Freiheit vom Diktat selbstversponnener Avantgarde, die nach keinem Hörer fragt; von der Forderung nach Popularität unter Niveau; von Produktionszwang und Sparten-Grenzzäunen. Urban ist aber noch in anderer Hinsicht ein Begriff, der hier den allerbesten Klang hat: Profession. Denn das strahlen diese Arbeiten aus: Professionalität, auch und gerade dort, wo sie die Professionen in ungewohnter Weise fordern. Viele Gesichter zeigt sein Vokal- und Instrumentaltheater, das musikalische Stimmen sprechend werden und Sprachformen sich musikalisieren lässt - von den Zeiten des Sogenannten Linksradikalen Blasorchesters und des Duos Goebbels/ Harth über die Bühnenmusiken der 70er Jahre zu der langen Reihe von Arbeiten seit Mitte der 80er Jahre mit dem anderen Heiner, Müller, aus Deutschland: "Der Mann im Fahrstuhl", "Maelstromsüdpol" "Wolokolamsker Chaussee" "Befreiung des Prometheus" usw. Goebbels ganz besonderer Sinn für Sprache, ihre Eigenrhythmik und poetische Dichte, macht seine Müller-Vertonungen singulär, macht seine Musik insgesamt fast undenkbar ohne das literarische Material darin. Und wie haben seine Inszenierungen das Gesicht des Frankfurter TAT mitgeprägt - besonders in den Jahren vor und nach 1990: Diese präzisen, leicht erscheinenden, eleganten und zugleich hochreflektierten Inszenierungen ("Newtons Casino", "Römische Hunde" etwas später "Die Wiederholung", um nur einige zu nennen). Jetzt sind sie schöne Erinnerung - und schmerzliche in einer Zeit, wo sich die Frankfurter Spitzen anscheinend verschworen haben, alle jüngere Stadtkultur und -geschichte abzuwürgen. Die Kette seiner markanten Arbeiten setzt sich fort bis in die Gegenwart - bei "Hashirigaki" (2000), einer großen internationalen Ko-Produktion. zeichnet er für Konzeption, Regie, Arbeit an japanischer Musik verantwortlich. Großartig in ihrer Selbstrücknahme die Hommage "Eislermaterial", die fast minimalistisch, asketisch das einfache Aufführen von Musik szenisch eindrücklich machte. Oder "Max Black", Reflexion auf Wissenschaft und Theater ineins, mit pyromanisch-szenischem Witz, mit André Wilms, der da allerlei Gerätschaften betätigt und von den durch ihn selbst erzeugten, zeitversetzt erklingenden Klanggeräuschen eingeholt, verwirrt aus der Fassung gebracht wird. Oder die höchst spielerische Inszenierung des Ensemble Modern, für das er eine ganze Reihe von Auftragskompositionen geschrieben hat, in "Schwarz auf Weiß". So viel anderes wäre noch zu nennen, die vielen "Hörstücke", das riesenhafte "Surrogate Cities", Kompositionen und Vertonungen. Heiner Goebbels, Moderner und Postmoderner, Pop-Artist und Theaterdenker, ist inzwischen eine Autorität, einer den man fragt, weltweit (nebenbei bemerkt, in Frankfurt öfter hätte fragen sollen, wenn es um spannende Musik- und Theaterarbeit für diese Stadt ging). Gut, dass es ihn gibt, den brillanten Künstler, lebensklugen Städtemitbewohner, liebenswürdigen Nachbarn und Freund, den Denk- und Theaterspielkumpan, seit 1999 auch Professor der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen und immer aktiv, wo es um junge Talente, um ihre Ausbildung geht, auch am Mousonturm, bald auch mit der Hessischen Theaterakademie. Die Lust des Beginnens hat er sich erhalten. Darum darf man gespannt bleiben auf das nächste Neue von Heiner Goebbels. (Hans-Thies Lehmann)

in: Programmheft zur Jubiläums-Performance-Reihe im Mousonturm, 2002