17 August 2002, Christian Rentsch, Tages-Anzeiger
Portrait (de)

Geschichten einkreisen, nicht erzählen

Heute Samstag wird der Frankfurter Komponist und Regisseur Heiner Goebbels fünfzig. Porträt eines Kulturarbeiters.

Heute Samstag wird der Frankfurter Komponist und Regisseur Heiner Goebbels fünfzig. Porträt eines Kulturarbeiters. Einer passe in keine Schublade, das sagt sich leicht. Bei Heiner Goebbels ist es anders: Für ihn gibts keine passende Schublade, allenfalls seine eigene. Allein die Berufsbezeichnung füllt gute elf Zeilen: Komponist von zeitgenössischer und elektronischer Musik, von Theater- und Ballettmusiken, Pianist, Saxofonist, Computermusiker, praktizierender Jazz- und Rockmusiker, Kollagist von musikalischen Hörspielen, Autor und Regisseur ungewöhnlicher Musiktheater, Musikalischer Leiter des Schauspiels Frankfurt während der Ära Palitzsch, Professor für angewandte Theaterwissenschaften an der Universität in Giessen und anderes mehr. Kein anderer mir bekannter Musiker bewegt sich so souverän nicht bloss zwischen den verschiedenen Genres und Stilistiken, sondern in allen möglichen Schubladen zugleich. Bekannt geworden ist Heiner Goebbels in den 70er-Jahren zunächst als Jazzmusiker; zusammen mit dem Saxofonisten Alfred Harth gehörte er zu den Vertretern der jungen deutschen Freejazzszene. Allerdings: Während die Brötzmanns und Schlippenbachs den konventionellen Jazz in wilden Orgien kaputtspielten, bearbeiteten Goebbels/Harth Lieder von Hanns Eisler. In Freejazzmanier, aber ohne wildgewordene Raserei, sondern mit dem aufmüpfigen Respekt der jüngeren. Und für das Sogenannte Linksradikale Blasorchester, einen fröhlichen Musikerhaufen der Frankfurter Politszene, arrangierte Goebbels Revolutionslieder, Zirkusmusik und Weihnachtslieder, deutsche Blasmusik und Freejazz, Frank Zappa und Eisler, Bach und Sun Ra, kurz: Hausmusik für Demonstrationen und linke Feste. Geschürtes Gefühl mit Denkfreiheit In den 8oer-Jahren gehörte sein Trio Cassiber zu den weltweit aufregendsten experimentellen Free-Rockgruppen; parallel dazu schrieb der studierte Soziologe und Musikwissenschafter seine ersten Theatermusiken für Koryphäen wie Hans Neuenfels, Claus Peymann, Matthias Langhoff und Ruth Berghaus, später war er während langer Jahre gleichsam der Hauskomponist für den grossen ostdeutschen Dramatiker Heiner Müller. Und ebenfalls damals collagierte er seine ersten Hörstücke, etwa «Berlin Q-Damm 12.4.78», eine Musik- und Toncollage über eine Demonstration, wo ein Polizist einen Teilnehmer mit der Pistole bedroht. «Stehen bleiben! Ich schiesse! Ich schiesse wirklich!» Immer wieder hört man diese angstlustvoll drohenden Sätze aus einem Fernsehbericht; Goebbels montiert sie zusammen mit Demonstrationslärm, Schreien, finsteren Geräuschen und Klängen und bedrohlicher Musik zu einem musikalischen Hörspiel, das Emotionen schürt, aufwühlt und zugleich Raum lässt fürs Denken. «Ich brauch' ein Thema», meinte er schon früh in einem Gespräch, und spöttelte über jene Komponisten, die «denken, ach, ich hab das in mir drin, jetzt muss das raus, das Streichquartett, ich hörs schon». Das ist für ihn 19. Jahrhundert, das Bild eines von Obsessionen geplagten Individualisten. Er braucht ein Thema, etwas, an dem er sich abrackern kann, Fragen, Texte, aber auch eine musikalische Konstellation, an denen sich seine musikalische Kreativität entzünden, reiben kann. «Klar könnte ich sagen, gut, ich schreib ein Streichquartett. Aber es gibt ja wirklich wunderbare Streichquartette, auch neue. Ich würde also sicher ein halbes Jahr herumlaufen und mir überlegen, warum ich eigentlich ein Streichquartett schreiben soll. Oder mir Fragen stellen wie: Was ist denn das Besondere am Streichquartett? Oder: Was bedeutet eigentlich diese Konstellation von vier Leuten, die da zusammen im Halbkreis sitzen? Was bedeutet diese Klangkonstellation? Ich würde also vermutlich eine sehr lange konzeptionelle Phase vorschalten, bevor ich tatsächlich zum Schreiben käme.» In seinen Hörstücken über Texte von Heiner Müller, Rainald Goetz und anderen schafft er Assoziationsräume. Text und Musik umkreisen ein thematisches Zentrum, sie bewegen sich in Widersprüchen, Andeutungen, lösen sich wieder auf. In «La Jalousie» etwa, einer Komposition nach einem Textauszug aus dem gleichnamigen Roman von Alain Robbe-Grillet, in dem ein Mann durch eine Jalousie, einen Rollladen, seine Frau mit einem Freund beobachtet, wobei bis zum Schluss unklar bleibt, ob sie ihn wirklich betrügt, be-schreiben Text, Musik und Geräusche emotionslos nur zahlreiche scheinbar nebensächliche Details, Spuren, Signale, die verzweifelte Schärfe der Wahrnehmung. Das hart hallende Klappern von Stöckelschuhen einer Frau, die sich entschlos-sen und beschwingt ent-fernt, gibt den rhythmi-schen Grund-Track, der sich durch das ganze Stück zieht, eine Autotür schlägt immer wieder zu, ein Auto fährt mit aufheu-lendem Motor davon, La-chen und Flüstern durch-brechen die Musik. Von Eifersucht ist nie die Rede, sie wird auch nie musikalisiert; und dennoch ist sie da, lauert hinter jedem Satz, jedem Geräusch, jedem Ton, unerbittlich, grausam, obsessiv. Ein stetes Durchdringen Von den Hörstücken führt ein direkter Weg zu den Theaterprojekten. Auch hier werden keine Geschichten erzählt, sondern eingekreist. Im 3-Personen-Stück «Die Wiederholung» etwa, das auf der gleichnamigen Erzählung von Søren Kierkegaard beruht, in dem der dänische Philosoph eine von ihm aufgelöste Verlobung verarbeitet und über die Wiederholbarkeit von bereits gemachten Erfahrungen reflektiert, mischt Goebbels die Kierkegaard-Textfragmente mit Dialogen aus dem Resnais-Film «L'année dernière à Marienbad» und dem Prince-Song «Joy Of Repetition» zu einem vielschichtigen, verwirrend widersprüchlichen musikalischen, Essay. Texte, Musik, Licht und Bühnenbild, alles verweist aufeinander, durchdringt sich: auch die Musik - Rock, Funk, Techno, Bach, Brahms, Beethoven und Chopin - ist bis ins letzte Detail sorgsam ineinander verzahntes Material und Mittel, Form und Inhalt zugleich in diesem dialek-tischen Prozess. Und dennoch keine postmoderne beliebige Collage - Goebbels Hörstücke und Musiktheater haben ein präzi-ses Ziel; sie lassen den Zu-hörern die Freiheit, oder wie Goebbels iro-nisch meint, die eine Freiheit, genau in dieses Zentrum zu rennen. Goebbels weit verzweigtes Werk steht im heutigen Musik- und Theaterbetrieb ziemlich einsam da. Goebbels ist einer, der darauf besteht, dass Unterhaltung auch klug, emotional und zugleich intellektuell, schwierig und anstrengend sein darf. Oder mit Godard: Goebbels macht keine politische Musik, aber er macht Musik politisch, in einem überaus weit gefassten Sinn. Die neueren Hörstücke von Heiner Goebbels sind auf dem Plattenlabel ECM erschienen. In Kürze erscheint die Aufnahme seines Musiktheaters Eislermaterial mit dem Ensemble Modern und dem Sprecher Josef Bierbichler (ECM New Series 1779). (Christian Rentsch)