12 June 2012, Annette Wollenhaupt
Portrait (de)

„Sensibilität für etwas, was man nicht kennt“

Mit 60 Jahren zählt Heiner Goebbels zu den Stars des Musiktheaters

Heiner Goebbels ist ohne Zweifel ein Multitalent. Und ein Grenzgänger des Musiktheaters, der neue Möglichkeiten von Klang, Szene, Raum und Licht erschlossen hat. Seit 1972 ist der am 17. August geborene Musiker in Frankfurt beheimatet. Für die im Sommer beginnende Ruhrtriennale hat Heiner Goebbels die künstlerische Leitung übernommen. (pia) Man übertreibt nicht, wenn man von Heiner Goebbels als einem Weltstar spricht. In der Welt des zeitgenössischen internationalen Musiktheaters ist der Frankfurter Komponist und Regisseur seit Jahrzehnten einer von höchstem Range. Seine Werke, Aktivitäten und Auszeichnungen alleine der letzten zehn Jahre erschlagen einen fast, und man fragt sich, wie schafft einer das? In nur einem Leben? Ohne dass das Private zu kurz kommt, auf der Strecke bleibt? Heiner Goebbels sitzt am großen, wuchtigen Holztisch im Wohnzimmer seiner im Frankfurter Westend gelegenen Altbauwohnung und versichert durchaus glaubhaft: „Ich schaffe das sogar mit einer relativen Entspannung.“ Seine Bindung an Frankfurt ist groß Auf dem Tisch liegt das Programm der im August beginnenden Ruhrtriennale, Goebbels hat deren künstlerische Leitung übernommen. So wie alles zuvor sei auch diese Aufgabe „einfach so auf mich zugekommen, ohne je geplant gewesen zu sein“. Erst vor wenigen Wochen hat er den Ehrendoktor für seine Verdienste in der der zeitgenössischen Musik erhalten und für seine Lehrtätigkeit am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Universität Gießen den Exzellenzpreis. Auch wenn Goebbels mehr unterwegs ist als zuhause, ist seine Bindung an Frankfurt groß. Seit 40 Jahren lebt er in der Mainmetropole, die für ihn durch die Nähe zum Flughafen ein idealer Punkt zum Ausschwärmen ist. Humor, amateurhaftes Durcheinander und Anspruch Die frühen Jahre in Goebbels Musikerleben waren geprägt von den Studentenunruhen. Er studierte Soziologie und Musik, lebte in einem besetzten Haus, lernte Saxophon und gründete mit anderen Musikern das „Sogenannte Linksradikale Blasorchester“. Der Zusatz „sogenannt“ war der Gruppe wichtig. „Denn die anderen sahen in uns ein linksradikales Blasorchester, wir selber hatten aber ein eher ambivalentes Verhältnis zu dieser propagandistischen Benennung. Es lag uns an anderem. Uns ging es eher darum, auf politische Weise Musik zu machen - mit Humor, mit amateurhaftem Durcheinander und mit kompositorischem Anspruch.“ Unterwegs mit improvisierter Musik im Gepäck Mit Alfred Harth gründete er ein Jazz-Duo, reiste später mit ihm durch Südamerika und ganz Europa. Improvisierte Musik im Gepäck, „mit Bezügen zu Hanns Eisler, Schumann, Bach, der Peking-Oper, No Wave und der Musik der 80er“. Worin lag der Reiz, sich bereits existierende Musik anzueignen? „Darin, anzuerkennen, dass es die so genannte Freiheit nicht gibt, dass die weiße Landkarte in der Musik am Ende des 20. Jahrhunderts nicht mehr existiert.“ Experimenteller Hardrock war schließlich die Musik, die Goebbels mit der Formation „Cassiber“ spielte: „Ein polyphones Mit- und Gegeneinander“. Parallel komponierte er für das Frankfurter Schauspiel, schrieb Hörspiel- und Filmmusiken. Er arbeitete mit den ganz Großen, mit Hans Neuenfels, Ruth Berghaus, Claus Peymann. „Es gab in meinem Leben damals immer die Hoch- und die Subkultur“, sagt er. Aus der Reibung entsteht Neues Heiner Goebbels braucht den kreativen Austausch mit anderen, braucht die Reibung, aus der heraus Neues, Spannendes entsteht. Er schätze vor allem „die Vielstimmigkeit“ der Teamarbeit. Am unglücklichsten ist er, „wenn ich ganz für mich alleine ein Orchesterstück schreibe“. Seine Werke wurden in den großen Konzertsälen und Theaterhäusern der Welt aufgeführt, in der Royal Albert Hall London, der Carnegie Hall New York, im Moskauer Bolschoi Theater, dem Théâtre Champs-Elysées in Paris. Und auch der Reigen namhafter Orchester, die Goebbels Werke bereits interpretiert haben, liest sich wie ein Who is Who der Musikwelt. Für das inzwischen international renommierte Frankfurter Ensemble Modern hat er schon in den achtziger Jahren Kammermusik komponiert, und in der Alten Oper Frankfurt wurde 1994 sein Orchesterwerk „Surrogate Cities“ uraufgeführt, mit dem er 2001 für einen „Grammy“ nominiert war. In seinen Musiktheaterstücken hat Goebbels auf Autoren wie Gertrude Stein, Edgar Allan Poe, Elias Canetti oder Bert Brecht zurückgegriffen. Dem Dramatiker Heiner Müller gewidmet war seine 1996 im Frankfurter TAT uraufgeführte Musiktheater-Produktion „Schwarz auf Weiß“. Die Stadt ehrte ihren herausragenden Musiker im Jahr 2002 mit der Goetheplakette, 2008 wurde er hier auch mit dem Binding-Kulturpreis ausgezeichnet. An der Triennale schätzt er den Laborcharakter An der vor Industriekulissen spielenden Ruhrtriennale mag Goebbels „den Laborcharakter“ und dass es sich bei ihr eben gerade nicht um ein repräsentatives Festival handele. Ganz besonders freut er sich auf eine noch von John Cage selbst entworfene Oper, in der zehn Sänger Arien aus ihrem Repertoire singen, „dabei komplett aus allen Kontexten herausgerissen sind“. Cages Herangehensweise – für Goebbels „das radikalste und genialste Opernkonzept“. Stücke für eine andere Art des Sehens und Hörens Im Herbst wird Heiner Goebbels nach vierjähriger Kompositionspause mit seinem neuen Stück „When the mountain changed his clothing“ auf Tournee gehen. Ein Mädchenchor wird dabei eine wichtige Rolle spielen. Die Titel seiner Kompositionen sind mal poetisch, dann wieder rätselhaft. Mit ihnen setze er „auf ein neugieriges Publikum“. Das müsse im Übrigen „keine Voraussetzungen mitbringen“. Goebbels nennt als Beispiel „Stifters Dinge“. Fünf Klaviere bewegen sich über die Bühne, Regen fällt, Wasser spielt eine Rolle, Nebel und Eis. „Meine Stücke laden zu einer anderen Art des Sehens und Hörens ein.“ Und es funktioniere. „Stifters Dinge“ wurde 250 Mal aufgeführt, und „auch bei Jugendlichen ist es ein Hit“. Ob seine Werke denn auch eine politische Dimension hätten? Goebbels denkt einen Moment nach, sagt dann: „Ja, ich denke schon. Denn sie wecken die Aufmerksamkeit und die Sensibilität für etwas, was man nicht kennt.“

"Stadt Frankfurt am Main, Presse- und Informationsamt".