Die Kultur umarmt die Großstadt

Die Ruhrtriennale überzeugte im letzten Jahr unter Intendant Heiner Goebbels

"...Der Komponist Heiner Goebbels hat
drei Jahre die Ruhrtriennale als Intendant
geleitet. Zum Ende seiner Amtszeit -
2015 übernimmt der Niederländer Johan
Simons - kann er zufrieden auf die nun
zuende gegangene Festivalsaison blicken.
Rund 90 Prozent Auslastung, etwa
53 000 verkaufte Tickets plus 20 000 Besucher
einer frei zugänglichen Installation
im Landschaftspark Duisburg-Nord. Die Rekord-
Bilanz zum Ende der dreijährigen Intendanz
von Heiner Goebbels vermeldete
erwartungsgemäß Glanzvolles. Interessanter
waren da vielleicht statistische Details
wie dieses, dass 2013 das Durchschnittsalter
der Besucher von zuvor 53 auf 47 Jahre
sank. Das mag an der Zugänglichkeit des
Angebots in den alten Industriedenkmälern
des Ruhrgebiets unter Goebbels gelegen haben.
Interaktive Projekte und Einbeziehung
der Bevölkerung waren von Beginn an Teil
seines Programms. Paradebeispiel dafür
war das Abschlussprojekt des Intendanten
mit der französischen Choreographin Mathilde
Monnier: "Surrogate Cities Ruhr",
eine bewusste szenische Umarmung der
Ruhrstädte.
Die Orchestersuite "Surrogate Cities", uraufgeführt
1994, ist vielleicht die wichtigste
Komposition im Oeuvre von Heiner
Goebbels. Das vielschichtige Werk, das versucht,
den Tönen und dem Lärm der Metropolen
musikalisch nachzuspüren, ist einerseits
Dokument von Goebbels’ ekklektizistischer
Auseinandersetzung mit den wichtigen
Tendenzen der klassischen Moderne.
Andererseits entsteht durch Goebbels’ geschicktes
Sampling von "echtem" Großstadtlärm
ein manchmal fast neoimpressionistisches,
dann wieder grotesk verzerrtes oder
überhöhtes Klangbild.
Zur Darbietung dieses Werks durch die Bochumer
Symphoniker unter Steven Sloane
im Mittelpunkt der riesigen Spielfläche in
der Duisburger Kraftzentrale hat Mathilde
Monnier 130 Laien in einer Tanz- und Bewegungschoreografie
angeleitet: Duisburger
Grundschulkinder genauso wie Essener
HipHop-Tänzer, Dortmunder Standard-
Tänzer oder Duisburger Wing-Chun-Kämpfer.
So entsteht ein großes, buntes, ungemein
aufwändiges Bild des Großstadt als
disparates Ganzes, eine ästhetische Behauptung,
mit eindrucksvoller Musik gefüllt.
Und dies obwohl die Arbeit Monniers in
Anbetracht der schieren Masse der Mitwirkenden
in der - durchaus einkalkulierten -
Ungenauigkeit zwischen Hüpfen, Schreiten,
Zappeln und Wippen verwischt und verrutscht
. . .
"Auch Musik wird ja aus einer sehr subjektiven
Perspektive komponiert (...). Das
trifft für mich nur bedingt zu. Ich versuche,
etwas mehr Abstand zu halten, ich baue etwas,
das gegenüber dem Publikum einen
Platz einnimmt, und das Publikum reagiert
darauf, hat in der Musik einen Raum, in
den es mit seinen Assoziationen, Vorstellungen
reingehen kann," sagt Goebbels
über seine eigene KompositionsArbeit. Mit
der gleichen Haltung versuchte er auch,
seine Zuschauer zu den Musiktheater-Kreationen
seiner Gastregisseure zu verführen.
Castelluccis surreale Bildwelt
Diese prägten eine Ära der Ruhrtriennale,
die sicherlich prägnanter in Erinnerung
bleibt als die von Willy Decker, der bewies,
dass auch opulenteste Opernproduktionen
in große Industriekathedralen passen,
oder Jürgen Flimm, der Guckkastenbühnen
in die Ruhrgebiets-Hallen bauen ließ, um
seine luxuriösen Salzburger Festspiel-Produktionen
einer lukrativen Zweitverwertung
zuzuführen.
Heiner Goebbels ist der Intendant, der sich
wieder zurückbesonnen hat auf das Ursprungskonzept
des genialen Gründungsintendanten
Gérard Mortier, ohne den die
Ruhrtriennale wahrscheinlich nie die Relevanz
erlangt hätte, die ihr seit ihrem Start
2002 zugeschrieben wurde und die sie jetzt
annähernd wieder erlangt hat...."

dpa
Nürnberger Nachrichten (DE), 29 September 2014