Juni 2009, Heiner Goebbels, Theater der Zeit
Text (de)

Im Rätsel der Zeichen

Laudatio zur Verleihung des Hein Heckroth Bühnenbildpreises an Robert Wilson

In the basement of a black building
behind a black curtain,
in the black wall
of a dark, large, black room
there is a white hole.

And in this hole
there is a small, white shoe,
an old, white leather shoe,
beautifully manufactered
probably of the 19th century, probably the shoe of a child.

and next to this small white shoe – in the white hole of that black wall in the black room behind the black curtain in the basement of that black building called „black diamond“ – next to the shoe is a headphone.
And when you put on this headphone while you look into this opening in the black wall
you hear a child’s voice saying:

okay
okay
okay
okay
okay
okay
okay
okay
okay
okay
okay

This is surely one of the smallest works of Robert Wilson I ever saw, but nevertheless there are a lot of things about it, which are very characteristic for his work: the reduction of signs, the use of texts, the role of the spectator, the seperation of sound and image / of listening and seeing, and the incredible use we can make and pleasure we have out of that free space - between these two modes of perception – a space for our own imagination.

Let me speak a bit about this experience and please let me switch to German...

Ich spreche über einen Ausstellungsraum von Robert Wilson: an einer schwarzen Wand ein Kopfhörer mit der Aufnahme einer Kinderstimme, daneben eine hell beleuchtete, weiße ...ffnung. Und in dieser ...ffnung sehen wir ein ganz gewöhnliches Objekt: einen alten, kleinen, kunstvoll hergestellten Schuh.
Auch wenn wir nicht genau wissen, was die Geschichte dieses Schuhs ist - wir sehen aber an seiner Machart und den Spuren seiner Nutzung, daß er eine hat. Wir kennen nicht das Jahr, in dem er gefertigt wurde, wer ihn in Auftrag gab, für wen er entworfen und wessen Fuß damit geschmückt wurde - wir ahnen nur: es ist ein besserer Schuh, ein Schuh aus besserer Gesellschaft, vielleicht nur für Sonn- und Feiertage - und wir glauben zu wissen, es ist der Schuh eines Kindes - und bringen die Stimme, die wir im Kopfhörer hören und die immer wieder „okay“ sagt, mit der Größe des Schuhs zusammen: vielleicht ein Junge von 7, 8 oder 10 Jahren.
Wir wissen nicht, wieviel Zeit das Kind brauchte, um den Schuh zuzubinden, wer es ihm beigebracht hat, oder ob der Schuh ihm geschnürt wurde, von seinen Eltern, vom Kindermädchen, der Gouvernante, einem Hauslehrer vielleicht...Vielleicht stellen wir uns vor, wie der Junge aussieht.
Und auch wenn wir nicht hören und nicht wissen, auf welche Äußerungen das Kind mit „okay“ antwortet - wir vermuten, daß es Instruktionen, Anweisungen, vielleicht Befehle, Regelsätze aus dem Erziehungs- und Disziplinierungskatalog der Erwachsenen sind - vielleicht aber auch Spielregeln unter Gleichaltrigen - wir wissen es nicht, aber wir fragen es uns.
Und die Zeit zwischen diesen „okays“ - die Dauer, die wir uns selbst genehmigen für das Hören und Sehen - gibt uns die Möglichkeit einer spielerischen Reflektion von Kindheit, Erziehung, Heranwachsen, Disziplinierung, Unterdrückung, von Einübung, Unterwürfigkeit, Anpassung, Aufbegehren.
Mit einer Stimme und einem Schuh, d.h. mit einer großen Reduktion der Mittel - man könnte fast sagen einem Minimum an Inspiration - eröffnet Robert Wilson dem Betrachter eine Vielfalt von Eindrücken, evoziert Bilder und Situationen - einen Raum des Nachdenkens, „a mental space, a mental freedom“. So wie er es selbst einst beim Betrachten der Choreographien von Balanchine empfunden und beschrieben hat.
Und wir beginnen vielleicht damit, unserer eigenen - vielleicht glücklichen, vielleicht unglücklichen - Kindheit nachzuhören, vielleicht der unserer Eltern, Großeltern, vielleicht der unserer Kinder; und wir überlegen vielleicht wieviele „okays“ wir unseren Kindern abverlangt haben, und wofür, und ob das so „okay“ war.
Und der, dem sie bekannt ist, denkt vielleicht auch über die Biographie von Robert Wilson nach, seine Kindheit, oder über die des gehörlosen, afro-amerikanischen Jungen Raymond Andrews, den Wilson adoptiert hat, und ihn damit aus den Fängen der Polizei vor der Straße und dem Heim in Sicherheit brachte. Oder man denkt an den vierzehnjährigen Christopher Knowles, dem man Autismus und Hirnschäden diagnostiziert hatte und mit dem Robert Wilson Ende der 60er Jahre seine ersten Stücke schrieb und DiaLog Performances aufführte.
Denn immer sind Kinder auf der Bühne Wilsons. „Sein Arsenal“, hat Heiner Müller einmal gesagt, „kommt direkt aus seiner Kindheit.“
All das geht uns dabei durch den Kopf. Aber jedem von uns anders.

Everything you can think of is true -

Das ist der Titel dieser Ausstellung, die ich kürzlich mit einigen meiner Studenten in Kopenhagen besucht habe: „All das, woran du denkst, ist wahr“ Und dennoch ist, was man denkt, keineswegs beliebig. Die Präzision, mit der diese Assoziationen umstellt sind, verhindert das. Die Tiefe, die berührt, wird möglich, weil man sie selbst entdeckt und zuläßt - und dazu nicht überrumpelt wird.

Man konnte ja im Zusammenhang mit dieser Preisverleihung in mehreren Veröffentlichungen lesen, daß Wilson „viele Disziplinen zu einem einheitlichen Ganzen“ verbinde; das ist nicht falsch, bedarf aber vielleicht der Erläuterung. Denn dieses einheitliche Ganze - und das ist Schöne daran - ist nur unser jeweiliges Eigenes. Und es ist für jeden Zuschauer, jede Zuschauerin ein anderes, eigenes Ganzes.

Von Einheit zu sprechen, das klingt schon sehr nach Gesamtkunstwerk. Und bei Richard Wagner werden tatsächlich alle Theatermittel miteinander zu einer Einheit verschmolzen - was Brecht dazu verleitet hat, von „einem Aufwaschen“ zu sprechen, und Heiner Müller von „einem Eintopf... „als synthetischen Brei“.
(Müller sagte das aber im übrigen bevor er selbst in Bayreuth - auf andere Weise – den Tristan von Wagner inszeniert hat; daß er es auf andere Weise konnte, verdankt er sicher auch der Erfahrung gemeinsamer Projekte und der engen Freundschaft mit Robert Wilson.)

Obwohl Robert Wilson alle Disziplinen der Bühne selbst verantwortet - verschmilzt er sie nicht, ganz im Gegenteil: er erreicht diese Einheit durch eine radikale Trennung der Elemente. Das wäre Brecht sehr recht gewesen, der aber - zu seiner Zeit - nur so denken, es ästhetisch noch nicht realisieren konnte, weil ihm die Schwerkraft der Disziplinen noch zu sehr im Wege stand - Und in diesem Punkt muß man Brechts Vision auch als Institutionskritik lesen. Wilson spricht tatsächlich von seinem Theater selbst als „epic theatre“ und: er trennt:

- die Bewegungen von der Sprache, - denn die Schauspieler Sänger Performer tun in der Regel nicht das wovon sie sprechen, und wenn dann nicht naturalistisch

- er trennt die Sprache von den Körpern – denn die Töne erreichen die Zuschauer nicht auf direktem Wege, sondern durch Mikrophonierung über die Lautsprecher

- er trennt die Körper, schafft zwischen den agierenden Figuren Abstand durch verschiedene Lichtschichten und trennt sogar die Körperteile voneinander; auch sie werden durch Licht fragmentiert, sodaß eine einzelne Hand, ein Kopf, ein Fuß, ein Schuh zu erzählen beginnen kann.

All das versetzt uns als Betrachter in die Lage, das Getrennte frei zusammenzudenken, und das kann trotz aller Irritation über die Selbständigkeit der Elemente eine glückliche Erfahrung sein, weil wir - und „wir“ heißt hier „jeder für sich“ - die Einheit als eigene selbst entdecken können. D.h. die „Einheit“ wird uns eben nicht verabreicht, sondern ist Resultat eines, wie Heiner Müller es beschrieben hat, quasi„demokratischen“, „anti-diktatorischen Theaters“ .

Deswegen - wegen dieser Trennung der Elemente, weil wir die verschiedenen künstlerischen Realitäten getrennt wahrnehmen und würdigen können, kann man Robert Wilson - obwohl er so vieles zugleich ist - auch guten Gewissens einen Preis als „Bühnenbildner“ verleihen - als jemandem, der die Sache des Bühnenbildes eben nie nur als dienende betrachtet, sondern immer als eigene künstlerische Realität stark gemacht hat - ganz im Sinne Hein Heckroths .
Robert Wilson ist aber nicht nur Bühnenbildner, sondern Opern- und Theater-Regisseur, besser gesagt Theatermacher – denn er erfindet es von Grund auf neu; Theatermacher auf den wichtigsten Bühnen der Welt, und mit wunderbaren Opernsängern, Schauspielern und Schauspielerinnen. Er ist Choreograph, Lichtdesigner, Möbeldesigner, Performer, Filmemacher, Kunstsammler, Maler, Zeichner, Architekt, Autor - und wie wir gerade gehört haben, auch Ausstellungsmacher. Kurz: „It’s all part of one concern“ wie er sagte, er ist Künstler. - einer der größten Künstler der letzten 40 Jahre, nicht nur in den darstellenden Künsten. Er gehört zu denen, die Theatererfahrung als audio-visuelle, ästhetische Erfahrung begreifen und die das Theater nicht auf Bildungsauftrag, Mitteilung oder Unterhaltung reduzieren.

Robert Wilson hat einmal über die Verantwortung der Theatermacher gesagt, daß sie nicht nicht darin liege „zu sagen, was etwas ist, sondern zu fragen, was ist es? Und wenn wir die Frage, was es ist, jemals beantworten können, dann sollten wir es nicht tun, dann ist es einfach nicht nötig.“

„Kunst“ kommt zwar auf vielen deutschen Bühnen immer noch meistens nur als Schimpfwort vor - so nach dem Motto „wir machen doch keine Kunst“. Dennoch ist Wilson inzwischen einer der einflußreichsten Theatermacher, Bühnen- und Lichtbildner. Viele seiner Innovationen im Umgang mit Licht, Ton, Raum, Zeit und der Choreographie der Bewegungen haben längst Einzug gehalten in das Repertoire der zeitgenössischen Theatersprachen - mal mit, mal ohne Geschmack.
Seine Radikalität der formalen Bewältigung aber bleibt ohne gleichen. Damit inszeniert er auch die Texte von Shakespeare, Büchner, Bourroughs und Müller, oder die Musik von Wagner, Weill, Tom Waits und Rufus Wainright. Vieles davon ist immer noch eine Provokation in einer Theaterlandschaft, in der (ganz besonders auch in der Theaterausbildung) immer nur von „Stoffen“ gesprochen wird, nie von der Form - womit stillschweigend übergangen wird, was die unreflektiert übernommenen, quasi ‚natürlichen’ bzw. ‚natur’gewordenen Formen des Schauspiels und der Oper mit uns und unserer Wahrnehmung angestellt haben und immer noch anstellen.

Für die genußvolle Erkenntnis, daß es auch anders geht, haben wir ihm viel zu verdanken. Und damit ist nichts Geringeres gemeint, als die Tatsache, daß seine Arbeit z.B. mein Leben verändert hat: und das gleich mehrfach. (I said, „you have changed my life“, Bob, „several times“)

Ich verdanke ihm die auch körperliche Erfahrung daß „Zeit“ auf dem Theater künstliche, kunstvolle Auszeit sein kann - nicht vorgebliche Realität.

Daß Licht eine eigene Kunstform ist, der man hinterherschauen kann, wie einem Naturschauspiel; oder eine unsagbare Dramatik entsteht, wenn sich ein Schatten unerklärlich rot färbt; oder daß mit Licht auf der Bühne, wie im Film, „Nahaufnahmen“ möglich werden (indem man nur einen Finger beleuchtet).

Die Erfahrung, wie es sich anfühlt, von der Souveränität des Zuschauers aus zu denken. Den Bühnenraum nicht mit Ideen vollzustellen, sondern offen zu halten. Vielleicht habe ich bei ihm begriffen, daß ich mich als Zuschauer nicht wirklich dafür interessiere, wieviel Phantasie der Regisseur oder der Bühnenbildner hat, sondern ob es ihnen gelingt, die Imagination der Betrachter zu ermöglichen.

Daß die Zuhörer für Texte einen Raum brauchen, in dem man atmen kann. Und daß er solche Räume baut.

Daß man Texte anders und neu hören kann - wenn sie anfangen wie Litaneien zu klingen und Musik werden, ohne ihre Bedeutung zu verlieren. Und daß uns das in einen souveränen Zustand des Hörens von Sprache versetzen kann, wie ich das bislang in der gesamten deutschen Dramatik kaum kannte.

Die Erfahrung, daß Drama etwas anderes sein kann als die Vorherrschaft des Textes, etwas anderes als die Repräsentation von Welt / Modell für das Reale. Sondern daß bei Robert Wilson - wie es meine Kollegin Helga Finter einmal beschrieben hat - das Drama „in die Zeichensysteme verlegt“ wird: „Das Drama wird in die Sinne verlegt.“ heißt es da „Auge und Ohr haben die Bedingungen von Sehen und Hören, den Weg, der zum Verstehen führt, selbst zu konstruieren.“
Hierfür wird er zum Magier: wenn sich plötzlich die Theatermittel unerklärlich verselbständigen, verknüpfen und wieder voneinander lösen und wir uns in einem beständigen Rätsel der Zeichen jedoch nicht eingeschüchtert, sondern entspannt als Wahrnehmende und Sinnsuchende wiederfinden.

Und wenn wir im Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus Liebig Universität versuchen, Theater nicht als Konvention eines Handwerks zu begreifen, sondern Theater mit einem zeitgenössischen Kunstbegriff befragen, dann wäre auch das nicht möglich ohne die Arbeit Robert Wilsons. Deshalb - und als Reminiszenz einer Gastprofessur zur Zeit von Andrzej Wirth - heißt der Flur bei uns im ersten Stock von Haus A im Phil II schon lange „Wilsonstraße“

Everything you can think of is true -

Nicht nur mit dieser Ausstellung, von der eingangs die Rede war, sondern mit seiner ganzen Arbeit macht sich Robert Wilson stark für das Wertvollste, was wir haben: Unsere Wahrnehmung und unsere Vorstellungskraft.
not only in this exhibition, but with the entire body of your work you emphasize on the most precious thing we have: our perception and our imagination.

Dafür baut der Architekt und Bühnenbildner Wilson seine Räume.
Dafür danken wir ihm. - For this we thank you.