2008, Heiner Goebbels
Text (de)

Theater als Museum oder Labor

Eine Rede anlässlich des Symposiums "Neue Theaterrealitäten" beim Körber Studio Junge Regie 2008 in Hamburg

Einem klugen Hinweis und dem Archiv alter Emails folgend konnte ich feststellen, was mir selbst kaum aufgefallen ist: dass sich nämlich unter der Hand das Thema des heutigen Nachmittags verändert hat. Wo ursprünglich einmal von »neuen Formen« die Rede war, sind wir jetzt angehalten von »neuen Theaterrealitäten« zu sprechen. Nun man kann das verwechseln und das eine für das andere nehmen, aber de facto ist es doch ein Unterschied, ob wir über das sprechen, was inzwischen bereits zu einer neuen Realität des Theaters geworden ist – wenn auch nur partiell, in experimentellen Spitzen –, oder ob wir über die Zukunft des Theaters sprechen, nämlich über neue Formen, die uns noch überraschen werden. Das Theater befindet sich, wie wir gerade von Hans-Thies Lehmann gehört haben, in einer grundsätzlichen und schnellen Entwicklung des Aufbruchs, und wir sollten uns zweierlei fragen: Wie muss ein Theater heute aussehen, wenn wir wollen, dass in ihm morgen etwas entsteht, was wir jetzt noch nicht kennen? Und wie können wir für neue Theaterformen ausbilden, von denen wir noch nicht einmal wissen, wie sie aussehen sollen? Es gibt eine relativ klare Abfolge für das Verhältnis von Repertoire und Ausbildung. Aus der Majorität einer künstlerischen Praxis (nicht aus den Theateravantgarden) entsteht der Konsens eines Kunstbegriffs (oder umgekehrt) und daraus resultiert die Entwicklung eines Handwerks (des Musikers, Sängers, Schauspielers, Tänzers). Dafür werden die Institutionen, die Konzertsäle, gebaut (immer noch für eine Orchestermusik des 19. Jahrhunderts), die Opernhäuser und Theater; und für deren Nachwuchs wiederum sind schließlich die Ausbildungsmodelle und -strukturen entwickelt. Das heißt, wir sind mit der Ausbildung in der Regel am äußersten Ende einer langen Kette. Es ist ein frivoler Wunsch – von unserem kleinen Institut vielleicht manches Mal mit Aussicht auf Erfolg geäußert – diese Kette umdrehen zu können: Aus der Seherfahrung und Reflektion der neuesten künstlerischen Praxis – und relativ unbeschwert von institutionellem Ballast und Handwerk – eine eigene Forschung zu betreiben, die (noch) nicht für den Markt ausbildet, sondern für alternative Strukturen, die nicht als beharrende Kraft den künstlerischen Prozess aufhalten, sondern in ihrer Unabhängigkeit Anteil an der Herausbildung neuer Formen haben könnte. Was man einer Handbewegung ansieht Dabei gibt es einen untrennbaren, aber unterschätzten Zusammenhang von Produktionsweisen und ästhetischen Resultaten. Sie sehen einer Produktion an, wie der Regisseur gearbeitet hat, d.h. ob die Schauspieler (oder sagen wir im weitesten Sinne die Performer) eingeschüchterte oder gelangweilte Darsteller oder Schachfiguren sind, mit denen in autoritären Prozessen herumprobiert wird – oder ob sie als selbstbewusst agierende, ästhetisch eigene Entscheidungen treffende Akteure zu sehen sind, mit Talent und Humor begabt – wie zum Beispiel kürzlich im Sommernachtstraum bei Jürgen Gosch –, behutsam angeleitet in einem Verfahren, das sie vor dem Abrutschen aus dem gemeinsam definierten Rahmen schützt. Man sieht sogar einer Handbewegung an, ob sie nur einem Regieeinfall entspringt oder einer inneren Logik des ›Materials‹ im weitesten Sinne: dem Körper des Schauspielers, der Szene, dem Text, einer choreographischen Logik etc. Es geht mir nicht um eine weitere gewerkschaftliche Arbeitsschutzmaßnahme, die Reibungen und Konfrontationen vermeiden will – ich weiß sehr wohl, wie belastbar wir für interessante Arbeiten sind – sondern um den Genuss einer produktiven Zusammenarbeit, in der die gemeinsamen Interessen aushandelbar sind, und um die Erfahrung, dass das nicht zum Nachteil des Einzelnen gerät; kurz: um einen unentfremdeten Arbeitszusammenhang, auch und gerade wenn wir über Kunst reden. Dass eine solchermaßen entstandene Arbeit vielschichtiger sein kann, weil sie nicht mehr der Vision eines Einzelnen entspringt, ist der künstlerische Mehrwert. Ohne Visionen Es geht überhaupt nicht um ›Visionen‹, um eine ungestört sich ausagierende Phantasie der Theatermacher. Die Internationale Bühnenbildausstellung in Prag im Juni 2007 zeigte eins ganz offensichtlich: Die ausstellenden Bühnen- und Kostümbildner, auch die Studierenden, hatten alle viel zuviel Phantasie. Da hatte die Imagination der Betrachter keine Chance; da wurde nicht das Sehen ermöglicht, sondern zugestellt. Nur die überladene, letztlich totalitäre Bebilderungswut von Theatermachern wurde hier präsentiert. Auch geht es nicht um Theaterformen, die um jeden Preis gegen die Möglichkeiten eines Raumes, gegen die Möglichkeiten von Darstellern, gegen die Potenzen eines Textes oder einer Musik entwickelt werden, nur weil jemand eine Idee hat. So ist es auch kein Zufall, dass sich an unserem Institut immer wieder Regieteams und Performancegruppen zusammenfinden, die programmatisch zu zweit, zu dritt arbeiten – wie Rimini Protokoll, She She Pop oder Showcase Beat le Mot schon seit etlichen Jahren – in den letzen Jahren z.B.: Hofmann & Lindholm, Auftrag: Lorey, Herbordt & Mohren, Eiermann-Hänsel oder das Duo Big Notwendigkeit und das Regiekollektiv Monstertruck. Diese Arbeitsweise ist die Ursache wie die Folge einer versuchten Balance der Mittel, in der es nicht darauf ankommt, sein Ego auszustellen, nicht eine Sichtweise der Welt auf die Bühne zu bringen. Sie ist die notwendige Voraussetzung einer Vielstimmigkeit eines ästhetischen Resultats, das dem Publikum die Lust an einem Text oder einer Musik nicht mit einer einzigen Interpretation oder Vision verstellen, sondern eher das Material mit all seinen Möglichkeiten aufschließen will. Es geht darum, einen künstlerischen Prozess anzuzetteln, an dessen produktivem Ende das Vergnügen der Betrachter sich erst zu einer Auseinandersetzung entzündet, die reicher ist, als vieles, was wir uns vorher als Produzenten vorzustellen in der Lage sind. Die institutionelle Schwerkraft. Die Ästhetik der Hardware Wir haben von Arbeitsweisen gesprochen, aber da das autoritäre Theater ohnehin ausstirbt, meine ich damit vor allem auch die Hardware des Theaters. Technik ist eben nie nur das, was sich der künstlerischen Produktion neutral zur Verfügung stellt und nur gebraucht werden muss. Technik hat eine eigene Dynamik, die die Produktionsweisen wesentlich definiert. So begrenzt unsere Möglichkeiten sind, es ist auch eine Maxime, die wir unseren Studierenden zu vermitteln versuchen, von Anfang an mit allen Mitteln zu arbeiten. Denn nur das, was von Anbeginn reflektiert und auch in Frage gestellt werden kann, hat die Chance, eine mehr als nur illustrative Rolle zu spielen. Nur dann sind die strukturellen Potenzen der Technik zu nutzen. »Da ist noch eine andere Lektion Brechts, die ich hier erwähnen will«, schreibt Roland Barthes 1955 (in einem Text, den man seinem Buch mit dem schönen Titel Ich habe das Theater immer sehr geliebt und dennoch gehe ich fast nie mehr hin entnehmen kann,) »weil sie für uns unmittelbar greifbar ist: Nicht nur das Repertoire, sondern auch die Theatertechniken müssen von Zwängen befreit werden ... alle Techniken, selbst die ›natürlichsten‹, bedeuten immer etwas: Es gibt ... eine verantwortliche Art und Weise, einen Reflektor hier oder dort aufzustellen, einen Vorhang anstelle eines gemalten Bühnenbildes zu verwenden. Brecht hat diese Verantwortung für die Techniken wohl überdacht.« Was meine ich mit Hardware? Ein Beispiel: Eine Bühne, die vor allem nur von oben beleuchtet wird, schließt aus, dass das Licht als starker, widerständiger Partner der Darsteller oder als sichtbares künstlerisches Objekt auf dem Boden der Bühne steht. Und eine Bühne, bei der diese Beleuchtungskörper, die schon oben hängen, nicht mehr umgehängt werden dürfen, weil »morgen spielen wir wieder das Weihnachtsmärchen«, ist in ihren Spielräumen noch beschränkter. Aus der institutionellen Schwerkraft und der in ihr fest verankerten Technik – und mit Technik meine ich auch den Automatismus von Theaterabläufen und Arbeitsteilungen und Schichtbetrieb – entsteht ein Denken, das gewissermaßen aus sich selbst heraus alle weiteren Handlungen hervorbringt. Man sieht nur noch das, was bereits formuliert ist, erwartet und akzeptiert wird, sich bereitstellt. Wenn wir aber auf der Suche nach neuen Formen des Theaters sind – und auf der Suche nach neuen Formen sind wir nicht als Selbstzweck, sondern weil nur mit ihnen die starken künstlerischen, sozialen, politischen Erfahrrungen möglich sind, denn diese kommen nicht aus dem zu Erwartenden, dem Repertoire, der Routine – brauchen wir eine Risikobereitschaft, das Unmögliche denken zu können und es nicht in die zahllosen Denkverbote, Konventionen und Automatismen des Theater- und Opernbetriebs einzureihen. Kein Lappen muss hoch gehen Wenn man eine eher schwächere Theaterarbeit sieht, und das kommt gelegentlich vor, dann kann man vom Regisseur oder von einem der Schauspieler oder vom Bühnenbildner eine ganze Kette von Argumenten hören: die Besetzung sei eben sehr schwierig gewesen, die Schauspieler in zu vielen anderen Stücken beschäftigt, die Bühnenproben zu knapp, die Zeit für die Beleuchtungsproben nicht ausreichend, die Probebühne war licht- und tontechnisch nicht ausgestattet oder die Hinterbühne als Lagerraum gerade nicht frei .etc. Man hört auch schon mal vom Regisseur, das Stück hätte er sich eigentlich nicht selbst ausgesucht, es läge ihm auch nicht, aber es wurde ihm aus spielplan- oder besetzungstechnischen Überlegungen nahegelegt. Sie wissen sehr wohl, ich übertreibe nicht. Und ich unterstelle nicht einmal, dass es sich hier um Ausreden handelt. Aber warum macht man das alles überhaupt? Dann kommt die Auslastung als Argument, das Repertoire, das man bedienen muss usw.; der Lappen müsse eben hochgehen – eines der denkbar schlechtesten Argumente in der darstellenden Kunst. Natürlich ist das nicht überall so, ich will das nicht verallgemeinern. Aber man muss das Theater – auch im öffentlichen Bewusstsein und vor allem gegenüber den Vorgaben der Politik – zurückholen in den Anspruch einer Kunstproduktion, die dem Besucher eine einzigartige künstlerische Erfahrung verspricht. Der Kompromiss ist ein schlechter Regisseur. Theater als Museum oder Labor – Plädoyer für eine Trennung Theater verhält sich neuen Formen gegenüber am neutralsten bzw. geeignetsten, wenn es die wenigsten Denkmuster vorgibt, am wenigsten Entscheidungen per se von vornherein getroffen sind. Wenn es also kein festes Ensemble (weder aus Schauspielern, Tänzern, Sängern noch aus Orchestern, die dann auch noch den gewerkschaftlichen Schwerkräften unterworfen sind) gibt, sondern freie Mitarbeiter, die wechselnden Produktionsteams zur Verfügung gestellt werden. Kein Haus mit hochgradig entfremdeter Arbeitsteilung, die man natürlich zur Aufrechterhaltung eines Repertoiretheaters braucht, um schnell umbauen zu können, sondern stattdessen ein kleines, hoch motiviertes, flexibles technisches Team, das bei Bedarf ausgeweitet werden kann; und ein Theater, das alle seine Kräfte auf eine Arbeit bündeln kann, um sie anschließend en suite zu zeigen. Ich erkenne gerne an, dass unser Theatersystem ›eines der besten der Welt‹ ist – wenn es um das Repertoire geht. Und als solches ist es auch unbedingt schützenswert. Wenn wir wissen, was wir spielen und zeigen wollen, und die Gesetze einigermaßen überschauen können, nach denen produziert wird, geht das hervorragend. Das ist ›Theater als Museum‹ im besten Sinne. Im selben emphatischen Sinne, in dem ich mein letztes Stück Eraritjaritjaka – ein Museum der Sätze genannt habe. Aber man kann am Fließband – und zu dieser Assoziation verleitet der steigende Output der Repertoiretheater – keine neuen Autos erfinden. Das kann nur unter Laborbedingungen geschehen. Die Ästhetik der neuen Theaterrealitäten – ob bei René Pollesch oder Rimini Protokoll – wurde genau unter solchen, allerdings wenig subventionierten Laborbedingungen entwickelt, bevor sie an den großen Häusern gezeigt wurde. Die wenigen Häuser, die es überhaupt noch gibt und die die Freiheit haben, unter solchen Laborbedingungen zu arbeiten, sind im Verhältnis zu den anderen Häusern in ihren finanziellen Möglichkeiten stiefmütterlich ausgestattet. Deutschland hat über 80 Opernhäuser, die alle in etwa dasselbe spielen , und Hunderte von Stadttheatern. Warum werden nicht ein paar davon aus dem Repertoirebetrieb entpflichtet und einem Laborcharakter gewidmet, den die Gattung Oper dringend nötig hat, wenn sie den Anschluss ins 21. Jahrhundert noch erleben will und von dem das Theater der Zukunft sehr profitieren wird? Kunst und Handwerk Wie können wir unsere Studierenden auf die Komplexität neuer Formen vorbereiten, ohne uns eines Tages vorwerfen zu lassen, eine beharrende Kraft im künstlerischen Prozess zu sein und damit letztlich zu den Kompromissen beizutragen, die in der Kunst nichts verloren haben? Nur, indem man zugleich Handwerk vermittelt (für Regisseure, Sänger, Instrumentalisten, Tänzer, Schauspieler, oder quer zu diesen Kategorien – kurz: Theaterleute) und die Fähigkeit der Reflexion darüber, damit dieses Handwerk nicht das Einzige ist, worauf es in Zukunft ankommt. Es muss immer das oberste Kriterium der eigenen künstlerischen Arbeit sein, der Nachfrage nach einem zeitgenössischen Kunstbegriff standzuhalten hält. Und es kann im Übrigen auch nicht um die Beschäftigung an sich gehen. Es gibt keine Vollbeschäftigung in der Kunst. Neue Theaterformen haben im Bannkreis des Dienstleistungssektors nichts zu suchen. Sie entstehen nicht aus dem Kompromiss. Neue Formen entstehen

  • auf der Suche nach dem ungesehenen Bild,im weitesten Sinne; aber man erfindet diese Bilder nicht, man findet sie: bei der genauen Beobachtung, dem Hinsehen und Bündeln der Kräfte – weil sie nur als kritisches Sensorium einer veränderten Gesellschaft eine Chance haben, mehr zu sein als ein Einfall
  • im Hinterfragen der Gesten und Bilder; beim Versuch all das wegzulassen, was man schon tausendmal gesehen hat und nicht die Klischees zu bedienen und wiederholen, die uns Film, Fernsehen und Theater immer wieder entgegenschleudern; beim Versuch überhaupt nichts mehr aufzudrängen oder entgegenzuschleudern, auch keine Texte ›nahe‹ zu bringen, sie in der Entfernung belassen zu können und die Zuschauer die Bilder selbst entdecken zu lassen
  • mit dem Anspruch zugleich medien-kompetent und medien-kritisch zu sein, um nicht die Gesellschaft des Spektakels nur zu spiegeln und sich damit ihren Gesetzen zu unterwerfen
  • im Vertrauen auf die kollektive künstlerische Intelligenz, die mehr weiß, als sich einer alleine auszudenken in der Lage ist
  • im Versuch, die Hierarchien zwischen den beteiligten Medien und unseren Wahrnehmungsweisen auszuhebeln und die sozialen Prozesse des Theaters nach künstlerischen Kriterien zu organisieren
  • im Versuch, verantwortungsvoll mit den Mitarbeitern, Ressourcen, Prozessen Materialien, Texten und Themen umgehen
  • im Versuch ,nicht nur in Theater- und Opernstoffen und -figuren zu denken, sondern das Hören und das Sehen zu organisieren und zu untersuchen, was das eine mit dem andern zu tun haben mag
  • wenn man lernt nicht nur narrativ zu inszenieren – sonst wird man zum Beispiel neuen Textformen, neuen Opern, neuen Themen und der Komplexität unserer Wahrnehmung nicht gerecht
  • im Vertrauen auf die Form – d.h. sich nicht nur mit Inhalten zu beschäftigen, mit Stoffen, mit Rollenstudium, Figurenpsychologie, mit der Interpretation dramatischer Texte und dabei den alten Formen ungefragt ausgeliefert zu sein
  • wenn im Vertrauen auf die Form neue Produktionsweisen und – auch finanzielle und organisatorische – Strukturen geschaffen werden, die neuen Formen angemessen sind, oder aus denen sie entstehen können
  • auf der Suche nach Alternativen zur Repräsentation, damit man auch mit Schauspielern arbeiten kann, die wie Josef Bierbichler sagen »ich hab keine Lust mehr, mich zu verstellen«.

in: Theater der Zeit, 6/2008 Berlin, p. 18-21
in: "Eigensinn zeigen" edition Körber Stiftung, Hamburg 2008, p. 65-68