19 February 2004, Claus Spahn, Die Zeit
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"Gegenwart als Lebensform"

Ein Besuch beim Frankfurter Ensemble Modern, das sich ganz darauf spezialisiert hat, Musik von heute zur Darstellung zu bringen

Als der mexikanische Musik-Erfinder Conlon Nancarrow es satt hatte, auf die Beschränktheit des menschlichen Geistes Rücksicht zu nehmen, komponierte er nur noch für eine Maschine. Er baute ein mechanisches Klavier für seine Bedürfnisse um, fütterte die Klimperkiste mit seinen auf Papierrollen gestanzten Partituren und verabschiedete sich in eine mechanische Fantasiewelt der geschredderten Rhythmen, der kurios eiernden Metren und einer Amok laufenden Vielstimmigkeit. Nancarrow musste sich keine Gedanken mehr darüber machen, ob der musizierende Mensch es schaffen kann, ein ganzes Büschel an Tönen pro Taktschlag zu produzieren. Er setzte einfach den Keilriemen seiner Apparatur in Bewegung, und das Klavier spuckte eine faszinierend ratternde, stotternde, swingende Musik aus. Den meisten Musikern stehen die Haare zu Berge bei dem Gedanken, sie müssten Nancarrows gestanzte Verrücktheiten selbst spielen. Aber für die 19 Mitglieder des Ensemble Modern ist dies genau der Kitzel, der sie zu ihren Instrumenten greifen lässt: Ob es nicht doch möglich wäre, die Sachen live im Ensemblesatz aufzuführen, zumal einige Transskriptionen der Partituren existieren? Schon zählen sie die Takte aus, rechnen, tüfteln, machen sich metrische Knoten ins Gehirn. Und seit einiger Zeit führen sie – “geht nicht” gibt’s nicht – eine Auswahl von Conlon Nancarrows studies for player piano im Repertoire.
So ist das Ensemble Modern: ein Club von unermüdlichen Experimentatoren, Grenzerfahrungsvirtuosen, Musikverrückten. Mit Gleichmut spielen sie über Partiturstellen hinweg, in denen sich die Noten zu schwarzen Riesengebirgen türmen. Sie bringen Kratz-, Wisch-, Atemgeräusche und Spaltklänge hervor, von denen die Instrumentenbauer nicht einmal geahnt haben, dass sie möglich sind. Sie durchrasen Stücke wie Wolfgang Rihms Jagden und Formen, als wolle die Musik sich jeden Moment selbst überholen, und stellen ihre inneren Rhythmusuhren auf Superzeitlupe um, wenn sie in der Minimal Music von Steve Reich die Melodieraster unmerklich gegeneinander verschieben. Käme ein von ihnen geschätzter Komponist auf die Idee, sein Werk unter dem Eis der Antarktis erklingen zu lassen, sie würden bestimmt ernsthaft über Realisierungsmöglichkeiten nachdenken.
Hört man das Ensemble Modern Conlon Nancarrow spielen, vernimmt man allerdings noch mehr als die Musik eines genial verqueren Komponisten. Die Häckselwelt der Töne erklingt zugleich wie eine Signatur unserer Zeit und scheint ganz grundsätzlich zu erzählen vom Künstlerdasein in der fortgeschrittenen Moderne: wie die musikalische Wirklichkeit beschleunigt und löchrig, von geheimnisvollen Kräften getrieben, vorüberrauscht. Wie die (Lebens-)Tempi immerzu asynchron auseinander streben. Wie sich mit dem motivischen Material gleichsam alle Inhalte stotternd ins Unübersichtliche verästeln. Und trotzdem bringt eine Gruppe von Individualisten das Kunststück fertig, das alles zusammenzuhalten und aufeinander zu beziehen. Das ist das große Geheimnis des Ensemble Modern – in der Musik wie im richtigen Leben.
In einer umgebauten ehemaligen Fabrik im Frankfurter Osten residiert es. Vier Altbauetagen mit Holzstiegen im Treppenhaus, lichte Probesäle, großzügige Kellerstudios, Büros, Instrumentendepots – ein Arbeitsort mit Loftcharakter. Auf den Probenpulten liegen Partituren in übergroßem Format. Hinter der Theke im Aufenthaltsraum steht ein altersschwacher Cappuccinoautomat, auf dem Glastisch der Couchgarnitur quillt der Aschenbecher über. Das Ensemble Modern spielt zeitgenössische Musik – ausschließlich. Die Werke, deren es sich annimmt, sind selten älter als 20, 30 Jahre. Mit allen Großmeistern der Avantgarde haben die Musiker schon zusammengearbeitet, von Luigi Nono über Mauricio Kagel bis György Ligeti. Sie waren sogar die letzte Band von Frank Zappa, der sie kurz vor seinem Krebstod nach Los Angeles einlud, um mit ihnen das Konzert- und CD-Projekt The Yellow Shark auf die Beine zu stellen.
Nur ganz selten leistet sich das Ensemble Modern Betriebsausflüge in die Vergangenheit. Im nächsten Jahr wird es zum 70. Geburtstag von Helmut Lachenmann die Alpensinfonie von Richard Strauss aufführen – auf persönlichen Wunsch des Jubilars. Einmal hat es sogar Beethovens Fünfte für die CD aufgenommen. Skurrile Stippvisiten sind das, mehr nicht. Fünf Streicher, neun Bläser, zwei Pianisten, zwei Perkussionisten und ein Klangregisseur haben sich in der musikalischen Gegenwart eingerichtet, und wer sie besucht, kann studieren, wie es sich dort so lebt.
Ist es eigentlich gemütlich in dieser Moderne, die von weiten Teilen der musikinteressierten Gesellschaft nach wie vor als unbehaust empfunden wird? Kommt da nicht manchmal Sehnsucht auf nach der warmen guten Stube der Tradition, nach Mozart, Schubert, Brahms oder Bruckner? Hermann Kretzschmar, einer der beiden Pianisten, zuckt mit den Schultern: Klaviersonaten von Beethoven zu interpretieren gehöre gewissermaßen zur ersten Hälfte seines Musikerlebens, das habe er hinter sich gelassen. Und der Perkussionist Rainer Römer fragt zurück, mit welchem Lebenskonzept man sich eigentlich dem klassischen Repertoire heute noch glaubhaft widmen könne. “Da musst du schon eine ganze Menge Scheinwerfer um dich herum ausknipsen.” Außerdem gebe das vermeintlich Wohlvertraute ja keineswegs weniger Rätsel auf als etwa eine Partitur von Helmut Lachenmann. Die allgemeine Gewissheit, einen Klassikliebling wie Schubert zu verstehen, erweise sich bei genauem Hinsehen ja schnell als trügerisch. “Da lobe ich mir die Skepsis von Svjatoslav Richter, der Mozart als ein Buch mit sieben Siegeln empfand und deshalb nichts von ihm spielte.”
Aus der Jungen Deutschen Philharmonie, dem Orchester der Musikhochschulstudenten, ist das Ensemble Modern einst hervorgegangen. Die Musiker haben sich zu Neue-Musik-Arbeitsphasen verabredet und nach einiger Zeit den Weg in die institutionelle Eigenständigkeit gewagt. Ihre Idee von einem freien, unabhängigen Ensemble für zeitgenössische Musik ist eine Erfindung der frühen achtziger Jahre – aus dem Geist von “Jute statt Plastik”, Basisdemokratie und kollektiver Selbstverwaltung. Die Musiker haben sich jenseits der dem öffentlichen Dienst angegliederten staatlichen Symphonieorchester als freie Kunstunternehmer organisiert. Sie sind Gesellschafter in einem eigenen GbR-Betrieb. Sie haften für ihr Geschäftsrisiko und denken in Projekten, nicht in Dienstjahren. Nur 15 Prozent im Jahresetat des Ensemble Modern sind durch institutionelle Förderungen gedeckt, zum Beispiel durch die Stadt Frankfurt, die die Fabrik als ständige Residenz mietfrei zur Verfügung stellt. Der Rest des Budgets muss Jahr für Jahr mit Konzertserien gleichsam im Einzelverkauf am Markt erwirtschaftet werden (ein “Markt”, der freilich auch in erster Linie aus Subventionen für Festivals, Konzerthäuser et cetera gespeist wird). Die Musiker strukturieren ihre Projekte in “Dienste”, der Arbeitswährung aller Musiker, und jeder Gesellschafter verpflichtet sich, mindestens 250 Dienste pro Jahr abzuleisten. Die Bezahlung (pro Dienst) ist für alle gleich, unabhängig davon, ob man an einem Abend den Solopart in einem schweren Klavierkonzert oder nur drei schöne Einzeltöne zu spielen hat.
Auch unbefristete Arbeitsverträge kennen die Musiker nicht. Einmal im Jahr entscheidet die Vollversammlung über die Weiterbeschäftigung jedes einzelnen Gesellschafters. Dann gehen sie einzeln vor die Tür und im Plenum wird diskutiert und abgestimmt. “Wenn du länger als fünf Minuten draußen stehst”, sagt der Klarinettist und Geschäftsführer Roland Diry, “hast du ein Problem. Kommt aber nicht oft vor.”
Klingt das nicht alles so, als habe sich die Hartz-Kommission eine Agenda 2010 für die Sanierung der Orchesterbranche ausgedacht? Ein paar Studenten aus der Post-68er-Generation erfüllen sich den grün-alternativen Traum vom selbst bestimmten Musikerkollektiv – und erscheinen plötzlich wie ein neoliberales Reformprojekt?
Die Bundeskulturstiftung hat dem Ensemble Modern gerade einen jährlichen Zuschuss von 450000 Euro bewilligt, begrenzt auf fünf Jahre. Die Musiker wollen ihre große Erfahrung im Umgang mit Komponisten und Partituren an Stipendiaten weitergeben und haben dafür eine Akademie gegründet, die der Bund mit seinen Subventionen unterstützt. Der Akzent scheint kulturpolitisch nicht ohne Bedacht gesetzt: Er wirkt wie ein Fingerzeig in die Richtung, in die der immer näher rückende große Strukturumbruch bei den Symphonieorchestern gehen könnte.
Davon wollen die Ensemble-Modern-Leute allerdings gar nichts wissen. Sie sehen sich nicht als Modell, wollen auf keinen Fall gegen die Kollegen im Dienstfrack ausgespielt werden und halten die Institutionen für “komplett verschiedene Baustellen”. Noch immer gelte die Faustregel, dass man im Ensemble Modern nicht einmal halb so viel Geld verdiene wie in vergleichbarer Position bei einem staatlichen Orchester, dafür aber doppelt so viel arbeiten müsse. Der Cellist Michael Kasper hat zwölf Jahre in einem der großen
Rundfunksymphonieorchester gesessen und dort die luxuriösen Arbeitsbedingungen kennen und schätzen gelernt, nachdem er an der Aufbauphase des Ensemble Modern beteiligt war. Inzwischen ist er wieder zurückgekehrt, weil er sich im Symphonieorchester irgendwann “wie bei der Bundeswehr” fühlte: “Immer ein- und untergeordnet in der Gruppe, deine persönliche künstlerische Meinung zählt nichts, darf gar nichts zählen.” Das Ensemble Modern baut nach wie vor auf dem Prinzip Idealismus auf, ein Stück Selbstausbeutung inklusive. “Der Gegenwert für die Arbeit bei uns ist nicht das Geld”, sagt der Flötist Dietmar Wiesner, “es ist die Luft, die du hier atmen darfst. Die ist exklusiv.”
Während sich die Berliner Philharmoniker frack- und staatstragend als Erste Orchesterrepublik des Landes verstehen, ist das Ensemble Modern eine Elitekapelle für die globalisierten Weltgesellschaft, buntscheckig in der ästhetischen Ausrichtung, gefragt von New York bis Melbourne. Zu seinen Lieblingskomponisten gehört Heiner Goebbels, der Frankfurter Sponti von einst, der sich wie eine Flipperkugel zwischen Jazz, E-Avantgarde, Rock, Hörspiel und Performancetheater bewegt und in seinen Werken Geräusche, elektronische Samples, freie Improvisationen und durchkomponierte Teile mixt. Für ihn sind die Musiker des Ensemble Modern, mit denen er eine ganze Reihe von Werken erarbeitet hat, mehr als nur Interpreten. Sie sind als Instrumentalisten, Sänger und Musikdarsteller Teil des kompositorischen Materials. Ihre Talente, ihr Denken, ihr Künstlerselbstverständnis gehen unmittelbar in die Kompositionen ein. Goebbels jüngstes Bühnenwerk, Landschaft mit entfernten Verwandten, vor eineinhalb Jahren in Genf uraufgeführt, lässt sich deshalb auch wie ein Bilderbogen aus surrealen, assoziativen Selbstbildnissen des Ensemble Modern lesen. Als Renaissancegesellschaft von Gelehrten hantieren die Musiker mit geheimnisvollen physikalischen Geräten, und als Sufi-Mystiker drehen sie sich traumverloren im Kreis. In einer improvisierten Tanzstunde üben sie den Foxtrottschritt aus der modernen Rhythmusmaschine, dann wieder randalieren sie mit über den Kopf gezogenen Strumpfmützen als Terroristengang über die Bühne. Schnappschüsse aus einem imaginären Familienalbum, selbstironisch inszeniert, trotzdem gut getroffen.
Goebbels hat sich in dem Stück vom französischen Barockmaler Nicolas Poussin inspirieren lassen, der mit seinen großflächigen Gemälden die Zentralperspektive außer Kraft gesetzt hat und das Auge zum schweifenden Blick herausfordert, von akribisch entworfener Detailszene zu Detailszene. Der Verzicht auf die Zentralperspektive – ist das nicht auch ein Kennzeichen des Ensemble Modern? Heute spielen sie Goebbels und Zappa, morgen bereiten sie ein Konzertprojekt gemeinsam mit indischen Musikern vor, und übermorgen heben sie das neue Werk eines jungen Komponisten aus der Taufe. Der eine trägt im Konzert bunte Hosenträger überm weißen Hemd, der Nächste hat ein Faible für Designerbrillen mit linealgeradem Metallbügel, der Übernächste nimmt seinen Leseproviant in der Aldi-Tüte mit auf die Reise. Es gibt Musiker, die nebenher komponieren, die Unterricht in persischer Rahmentrommel nehmen oder gerade an einem Ernst-Jünger-Hörspiel für den Hessischen Rundfunk basteln. Virtuosen des Multilingualen sind sie alle. Schließlich ist jede zeitgenössische Partitur, die auf ihren Notenpulten landet, eine komplexe Zeichenwelt, ein abgehobener Kunstkosmos, eine Sprache für sich, und atemberaubend ist die Auffassungsgabe, mit der die Musiker sie zu dechiffrieren und in Klang umzusetzen verstehen.
Schnelle Schnitte, jähe Perspektivwechsel
Eines interessiert sie dabei weniger – die Deutung des großen Ganzen, die ideologischen Debatten, die generellen Urteile. Früher waren das entscheidende Fragen für die Exponenten neuer Musik, die gleichsam vom Feldherrenhügel herab diskutiert wurden: Wo kämpft die Avantgarde, und wo stehen die Reaktionäre, wo ist der avancierteste Stand des kompositorischen Materials, und wo beginnt die Kollaboration mit dem Gefälligen und Kommerziellen? Wer für Hans Werner Henze war, konnte nicht für Helmut Lachenmann sein, wer Steve Reich verehrte, konnte kein Luigi-Nono-Apostel sein. Das Ensemble Modern aber hat mit all diesen Komponisten maßgebliche Ur- und Erstaufführungen erarbeitet.
“Der einfache Trick für unsere Offenheit ist, dass wir keinen künstlerischen Leiter an der Spitze haben”, sagt Rainer Römer, “denn die sind immer dahinterher, ein künstlerisches Profil zu schärfen und ihr Ego zu markieren.” Beim Ensemble Modern werden Dirigenten und Komponisten von Projekt zu Projekt eingeladen. Das pluralistische Interessenspektrum könne sich so in den Programmen widerspiegeln, und die starken Meinungen über ästhetische Präferenzen würden “eher privat” ausgefochten, “im Dienst des Ensembles sind das keine guten Diskussionen”.
Die Musiker sehen sich in erster Linie in der Rolle von Dokumentaristen, die zur Darstellung bringen, was die Kunst hergibt. Der Dirigent Ernest Bour, ein Veteran der Neuen Musik, der als Chef des Südwestfunk-Symphonieorchesters unzählige Uraufführungen geleitet hat, wird im Ensemble gern mit einem Spruch zitiert, der auch vom Fußballlehrer Sepp Herberger stammen könnte: “Bis zur ersten Aufführung ist immer die Partitur die Beste der Welt, die gerade auf den Pulten liegt.” Was nicht heißen kann, dass die Qualitätsfragen unerheblich sind. “Wir wissen immer, warum wir auf der Bühne stehen”, sagen die Musiker.
Surrogate Cities heißt eines der erfolgreichsten Stücke von Heiner Goebbels. Es ist ein rumorendes Großstadtpanorama mit schnellen Schnitten, jähen Perspektivwechseln und wild ineinander stürzenden Klangzeichen. In solchem modernen urban jungle ist das Ensemble immerzu unterwegs. 100 Konzerte geben die Musiker im Jahr, sind regelmäßig in Frankfurt, Berlin, London, Turin, Paris, New York. Aber noch abenteuerlicher ist ihre Reisegeschwindigkeit im Kopf. “Du musst schnell sein”, hat Goebbels einem der Musiker als grundsätzliche Lebensmaxime für das Auskommen in der Moderne zugeflüstert. Vielleicht ist das das Geheimnis des Ensemble Modern. “Beim Rennen siehst du aus, als hättest du etwas verloren”, hechelt der Stimmperformancekünstler David Moss in Surrogate Cities. “Du siehst aus, als wüsstest du etwas, was sonst niemand weiß.”