11 December 2003, Ulrich Stock, Die Zeit
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Der Audiofilm, Soundcollage, Hörstück, Oper...

Zwischen Hörbuch und Musik-CD finden ideenreiche Künstler abenteuerlustige Hörer

Hörbücher mit vorgelesener Literatur oder deren Adaptionen fürs Hörspiel werden immer populärer. Weniger bekannt ist das weite Feld zwischen Hörbuch und Musik-CD, auf dem exotische Ohrenfrüchte wachsen: Stücke, die bis zu einer Stunde und länger dauern und sich aus literarischen Elementen, Geräuschen, OTönen und Musik zusammensetzen. Das noch namenlose Genre ist dem Hörspiel verwandt und aus ihm hervorgegangen. Versucht sei an dieser Stelle ein erster Überblick. Am Anfang steht Walter Ruttmanns Weekend, 1930 für die Berliner Funkstunde montiert. Eine rhythmisch geschnittene Collage aus Stimmen, Maschinen, Verkehr, Musiken – so klang damals die größte deutsche Stadt, und kein onkelnder Erzähler drängte sich zwischen sie und den Radiohörer. Diesen elf Minuten Moderne folgte lange Zeit nichts, dann kam der Krieg, und in den fünfziger Jahren erblühte zunächst das klassische Hörspiel mit reichlich Text, den Musik und Geräusch nur zu illustrieren hatten: Verbildlichung war wichtig zu einer Zeit, da dem Radio im Fernsehen Konkurrenz erwuchs. Ein Frankfurter Sponti befreit die Radiokunst In den Sechzigern und Siebzigern gab es Versuche, die starre Form aufzubrechen, von John Cage bis Rolf Dieter Brinkmann, von Ernst Jandl bis Mauricio Kagel und Luc Ferrari, doch die große Veränderung kam erst 1984/86 mit zwei Werken eines Frankfurter Spontis: Heiner Goebbels, der als Saxofonist im Sogenannten Linksradikalen Blasorchester auf Demonstrationen Stücke von Eisler und Zappa gespielt hatte. Er arrangierte für eine Theatermusik die Stimmen von 50 Berliner Passanten, die gebeten worden waren, einen Text des DDR-Dramatikers Heiner Müller laut zu lesen. Die O-Töne wurden durch Schnitt, Dehnung, Wiederholung und Überlagerung verfremdet, rhythmisiert und orchestriert. Seine Premiere erlebte das Theaterstück zwar nicht, aber Goebbels veröffentlichte den Soundtrack ersatzweise als – wie er es nannte – „Hörstück“. Der Hessische Rundfunk sendete Verkommenes Ufer, und: „Die Resonanz hat mich umgehauen“, erinnert sich Heiner Goebbels. Bald folgte – ebenfalls mit Heiner Müller – Die Befreiung des Prometheus; beide Stücke erhielten Preise. Wort, Geräusch und Musik haben bei Goebbels gleiches Recht; die Dominanz des Wortes ist verschwunden. Dabei geht es ihm jedoch nicht um die Entwertung des Textes. Kaum ein Musiker hat sich wie er auf den Rhythmus und die Untertöne, den Sinn und die Gewalt der Sprache eingelassen. Als Professor für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen lehrt er Studenten heute, „einen akustischen Blick“ zu entwickeln. Goebbels hat seine „Hörstücke“ von Anfang an vom Hörspiel abgesetzt, indem er sie von der Ausstrahlung unabhängig machte und sie auf Tonträgern verfügbar hielt. Anfang der neunziger Jahre folgten andere seinem Beispiel, zunächst das Duo aus FM Einheit, Musiker bei den Einstürzenden Neubauten, und dem Fernsehjournalisten Andreas Ammer. Wie Goebbels wählten sie politische, historische oder mythische Sujets (Deutsche Krieger, Apocalypse Live, Radio Inferno) und ließen es am nötigen Pathos nicht fehlen: „Opern“ nennt Ammer diese aggressiv-brachialen Revuen, die teilweise wie entfesselte, links gewendete Tönende Wochenschauen klingen. Letzthin arbeitet Ammer, der in Berg am Starnberger See lebt, viel mit dem Weilheimer Elektronikmusiker Martin Gretschmann zusammen, bekannt geworden sowohl mit seinem Solo-Projekt Console als auch mit der Knisterrockband The Notwist. Das jüngste Werk der beiden, On The Tracks, das im Auftrag des WDR entstand, gewann bei der Hörspielwoche in Berlin gerade per Internet-Abstimmung den Online-Award, ein Stück, das eine Verfolgungssituation inszeniert: Verdeckt operierende Reporter suchen sich auf der Straße zufällige Opfer und heften sich an ihre Fersen. Jede Handlung wird beschrieben, gedeutet und klanglich ausgelotet. Dass der Musiker Console, der an Hörspielen bisher nur Die drei Fragezeichen aus seiner Kindheit kannte, nun Neuland betritt, ist dem Bayerischen Rundfunk zu danken. Herbert Kapfer und Barbara Schäfer von der Redaktion Hörspiel & Medienkunst haben im zurückliegenden Jahrzehnt die Tradition runderneuert und junge Künstler ans Radio herangeführt. Zudem haben sie die Reihe Intermedium begründet, eine gediegene CD-Edition, die es selbst NDR-Hörern ermöglicht, wegweisende Tonkunst zu empfangen, wenn auch nicht im Radio. 1998 luden Kapfer und Schäfer Musiker ein, um Walter Ruttmanns Klassiker Weekend zu remixen. Einzige Bedingung war: sich auf elf Minuten zu beschränken. Am gelungensten erscheint die Arbeit des Berliner Elektroniktrios To Rococo Rot, die das Original unangetastet ließen, weil es ihnen perfekt erschien. Stattdessen nahmen sie mit Mikrofon und Minidisc-Recorder den heutigen Klang der Stadt auf, den sie dann nach Methode Ruttmann rhythmisch-melodisch montierten. Robert Lippok von To Rococo Rot ist unsicher, wie er das Ergebnis nennen soll, „Soundcollage“ vielleicht? Er entstammt der DDR-Punkszene und sammelte seine ersten Erfahrungen mit der Kombination verschiedener Genres als Mitwirkender bei Ostberliner Dichterlesungen zwischen 1986 und 1989. „Da gab’s Text, Musik, Text im Wechsel“, erinnert er sich, „parallel eher selten.“ Inzwischen ist ihm die Verzahnung von Klang- und Wortpartikeln selbstverständlich. Ganz unabhängig vom Radio hat der Münchner Produzent Stefan Winter zu seinen „Audiofilmen“ gefunden. Vor Jahren drehte er Videoporträts europäischer Städte für den japanischen Markt. Die Bilder sollten mit Musik und O-Tönen unterlegt sein, die harten Informationen in einem Booklet beigegeben werden. Als Winter sein Stück über Wien fertig hatte, bemerkte er: „Es braucht die Bilder überhaupt nicht.“ Im Verzicht auf die Optik sieht er seither keine Einschränkung, sondern eine Erweiterung. „Ich lese auch lieber Orwells Animal Farm, als dass ich mir den Film ansehe.“ Stücke wie Im Zauber von Verdi oder Wagner e Venezia sollen nicht nebenbei gehört werden – das Konzept hat Erfolg. Innerhalb des Programms von Winter & Winter, das von Jazz bis Klassik reicht, verkaufen sich die Hörfilme am besten, obwohl es in kaum einem Plattenladen dafür ein Fach gibt. Improvisationen in Hannovers Ereigniskeller Goebbels ist 51, Winter 45, Ammer 43, Lippok 37, Console 30 – nach unten geht es munter weiter. Sebastian Reier aus Hamburg ist 26 und hat gerade im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie einen Workshop Hörfilme für experimentierfreudige Studenten gegeben. Zusammen mit Jürgen Hall, 34, nennt er sich Augsburger Tafelconfect. Das Duo tritt live vor ein jugendliches Publikum, mal im Berliner Club „Ausland“, mal in Hannovers Ereigniskeller „Silke Arp bricht“, mal in der „Hörbar“ auf St. Pauli. Auf Laptop, präparierter Gitarre und allerlei Gerätschaften improvisieren sie zu einem abstrakten Video einen nichtrhythmischen, nichtmelodischen, nichtharmonischen Fluss von Klangereignissen, der den Zuhörern Assoziationsräume eröffnen soll. Ihr erstes Album wird auf dem eigenen Label NNeon, mit doppeltem N wie bei einer flackernd anspringenden Röhre, im März als Mini-CD erscheinen: 18 furiose Minuten, die mit Radio nichts mehr zu tun haben. (Ulrich Stock)

Beilage Literatur und Musik, S.70.