1 February 2001, Harry Lachner, Die Wochenzeitung
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Sprechpfade im Sound-Dschungel

Vom Hörspiel zum Hörstück: das totgesagte Radio-Genre erlebt mit einer jüngeren Generation von Autoren, Musikern und Regisseuren einen neuen Aufschwung.

Was besässe das Radio doch für Möglichkeiten!... und was ist bloss daraus geworden: eine Abspielstätte für die neuesten Industrieproduktionen, ein Marketing-Spielfeld für die Schallplattenfirmen. Bereits 1933 lamentierten Marinetti und Masnata in ihrem "Futuristischen Manifest", das Radio sei "von Musik verblödet, die, statt sich originell und abwechslungsreich zu entwickeln, eine abstossend primitive und kraftlose Monotonie erreicht hat". Man fragt sich: Hat sich irgendetwas geändert? Das Radio als Kunstraum, als Erlebnisraum, der verstört, erhellt oder zum Widerspruch reizt -es besitzt tatsächlich diese Qualitäten. Aber man begegnet ihnen bestenfalls in der Nische des Hörspiels und auch nur dann, wenn ein Autor diese unendlichen Möglichkeiten zu nutzen weiss. Die Rede ist also nicht von den inszenierten Hörgeschichten, den theaterhaften Dialogwechseln, denen es an visueller Kulisse mangelt und in denen deshalb umso nachdrücklicher das Wort in den Vordergrund tritt. Gelegentlich, wie von fern, ertönt auch hier etwas Musik - illustrativ, als Emotionsverstärker oder um eine Zäsur im Textfluss zu markieren. Im Grunde verstand sich der Autor allein als Textproduzent, als Wortartist, wobei die Angaben zur Inszenierung zuweilen so vage formuliert waren wie in einem Stück von Ror Wolf. Er wünschte sich zur Begleitung einer Wortpassage "Eric Dolphy oder Musik einer Bord-und Strandkapelle, tibetanische Mönchsmusik, Free Jazz oder Instrumental Pop, zuversichtliches Werbe-Musik-Motiv".

TEXTCOLLAGEN UND LITERATURSAMPLING
In den achtziger Jahren begann sich das Selbstverständnis des Hörspiels zu ändern. Musiker wie Heiner Goebbels, denen weder Pop noch John Gage fremd waren, nutzten das Medium Radio zunehmend als Spielplatz konkurrierender ästhetischer Ideen: eine Verbindung von zeitgenössischer Musik, die sich über jeden Genrebegriff hinwegsetzt, mit vorgefundenen literarischen Texten. Heiner Goebbels verabschiedete sich in seinen Werken vom Begriff des Hörspiels und favorisierte stattdessen das "Hörstück". Inzwischen arbeiten Autoren wie Thomas Meinecke oder Andreas Ammer von Anfang an mit Musikern oder Komponisten zusammen - und Musiker montierten ihre eigene Textcollage: Ljteratursampling, bei dem sich die zersplitterte Struktur eines Textes auch in einer Musik spiegelt, welche die Idee von Kontinuität, vorhersehbaren Akkordfolgen oder affirmativem Wohlklang hinter sich gelassen hat. Heiner Goebbels' Hörstücke sind in ihrer Anlage Collagen. Aber diese Werke sind meilenweit entfernt von jeder modischen, postmodernen Zitatkunst. Denn aus der unendlichen Vielfalt der Segmente, der Bruchstücke und Anspielungen entwickelt sich wieder so etwas wie eine geschlossene und in sich logische Form. Eine, die allerdings um die Verlogenheit und den Täuschungscharakter des Kohärenzgedankens weiss. Hier begegnet sich das, was sich nach den Gesetzen der Konvention ausschliessen müsste, hier inszeniert Goebbels den musikalischen Widerstreit der Ideen und Ideologien. Er entwickelt es direkt aus dem Klang- und Gedankenmaterial selbst, lässt die verschiedenen Wirklichkeiten für sich selbst sprechen.
In den Werken jener Autoren, die nicht mehr die Grenzen ziehen zwischen Wort und Musik, die keinem das Vorrecht über das andere einräumen, finden nun die alten, so verschieden geglaubten Sehnsüchte wieder zusammen - an jenen Ort, wo Sprache wieder Musik wird und der Klang zu sprechen beginnt. Das gelingt, wenn die Musik als Sprache erfahren wird, die genauso zersplittert werden kann wie das Wort. Wenn Sprechpfade durch einen collagierten Sound-Dschungel gelegt werden, wenn ein paar Takte Monteverdi selbstverständlich aus dem anarchischen Klangchaos New Yorker Noise-Gewalt auftauchen können - eben seit HörerIn und MusikerIn sich vom Geschlossenheits- und Reinheitsgebot verabschiedet haben und Zerstückelung selbstverständlich wurde. Der mittlerweile wohlfeile Sampler als Zitatmaschine und Speichermedium aller Klänge verführt den Hörspielproduzenten zu ungehemmter Schnittfreude. Der Versuch, das Prinzip Pop auf die Radiokunst zu übertragen, zeitigt nicht selten lediglich eine unendliche Anzahl an Augenblicksemphasen, die sich gegenseitig nivellieren und in ihrer eruptiven Wirkung aufheben: Audio-Zapping. Der so genannte "attention span" tendiert zum Sekundenbruchteil. Technologiespass und Audio-Selbsterregung produzieren nur mehr reine Oberflächenekstasen, die wenig mehr als das reine Pop-Prinzip an sich triumphieren lassen. Dabei verweisen Klangergebnis und -erlebnis gerade mal auf den blossen, narzisstisch selbstgefälligen Erregungszustand des Mischens, Gollagierens und Verfremdens.

VOM CLUB INS HÖRSPIEL
Aber keine Überwältigungsstrategie ohne eine Gegenreaktion: Hörstücke wie "Bugs & Beats S Beasts" von Andreas Ammer und Console, Thomas Meineckes "Tomboy" mit dem DJ Move D oder "Frost" von Ammer/ Einheit mit den Musikern Pan Sonic und Gry nutzen ein Sounddesign, dessen Impulse aus ambitioniertem Techno und der Ambient Music der Clubs stammen. Ein Reduktionismus, der um die Kraft des kargen Beats, die Intensität der Leerstelle weiss. Der Klang schafft wieder Raum für den Text, lässt die Gedankensplitter freier ihren Weg bahnen. Gerade Thomas Meineckes Diskursliteratur sucht in der Realisierung ihr Pendant in der Abstraktion der Klänge eines Move D, in Sounds also, die ihren eigenen Ursprung reflektiert und überwunden haben. Die Wege der Klänge aus den Studios für Neue oder Elektronische Musik, die Reise der Worte aus den Hörspielstudios hinein in die Szene-Clubs sind eben kürzer, als man denkt.