11/1997, Achim Heidenreich, Musik-Kultur
Article (de)

Auftrag und Identität

Heiner Goebbels vertont Heiner Müllers Monolog "Der Mann im Fahrstuhl"

Die Rezeption der Dramen des DDR-Autors Heiner Müller in der vor 1989 noch auf den westlichen Teil Deutschlands beschränkten Bundesrepublik erreichte gegen Bude der achtziger Jahre ihren Höhepunkt. Als die Berliner Mauer schließlich fiel, ahnte Müller, daß damit die Aussagekraft seiner Literatur, die sich auf das politische System der DDR bezogen hatte, relativ geworden war. Im Dezember 1989 wurde er von einer Journalistin gefragt:
"Es gab in den vergangenen Jahren auch in der DDR so eine Art 'Heiner-Müller-Welle' Schwimmen Sie noch darauf?"
Müller antwortete:
"Ich rechne jetzt (...) durchaus damit, daß ich für ein paar Jahre hier, in der DDR, eher nicht "in" bin. Das finde ich auch völlig normal. Schon wenn das Wort Sozialismus in einem Text vorkommt, schalten jetzt sehr viele Leute einfach ab".
Die Retrospektive seiner Dramen während des Theaterfestivals Experimente! 6 in Frankfurt/Main war 1990 gleichzeitig deren Abgesang und bestätigte Müllers Voraussicht. Nach und nach verschwand sein Name von den Spielplänen der deutschen Theater. Bereits gut zwanzig Jahre vor dem Fall der Berliner Mauer stellte Müller sein Theaterkonzept und Gesellschaftsbild radikal in Frage, als er 1977 Kritik am Theaterideal des Brechtschen Lehrstücks und somit am idealistischen Geschichtsverständnis übte:
"Ich werde nicht die Daumen drehen, bis eine (revolutionäre) Situation vorbeikommt. Aber Theorie ohne Basis ist nicht mein Metier, ich bin kein Philosoph, der zum Denken keinen Grund braucht, ein Archäologe bin ich auch nicht, und ich denke, daß wir uns vom LEHRSTÜCK bis zum nächsten Erdbeben verabschieden müssen. [...] Die Geschichte hat den Prozeß auf die Straße vertagt[...]".
Müller kündigte zwar chiffriert, dennoch unmißverständlich das Scheitern des Sozialismus an. Für ihn war die Geschichte Mitte der siebziger Jahre an einem Endpunkt angelangt. Fortan umkreiste die Thematik seiner Dramen diese ihm zur Befindlichkeit gewordene Erkenntnis: Es gibt keinen geschichtlichen Fortschritt; die Katastrophen der Geschichte wiederholen sich; der Intellektuelle kann deswegen tun und lassen was er will, es gibt ohnehin keine moralischen Instanzen und letzten Wahrheiten mehr, vor denen und von denen für eine gerechtere Gesellschaft geschrieben werden könnte. In Müllers fatalistischer Sicht hatte es die Menschheit bisher nur soweit gebracht, daß sie eine schlechte gleichsam als die für sie beste aller möglichen Welten nicht nur erträgt, sondern scheinbar sogar will.'
Zugleich stellt Müller die Identität des dem gesellschaftlichen Fortschritt verpflichteten Kunstschaffenden - und damit sich selbst - radikal in Frage. In seinen Dramen Die Hamletmaschine (Uraufführung: 30.1.1979 Saint-Denis bei Paris) und Der Auftrag (Uraufführung: 16.11.1980 Berlin/DDR, Volksbühne) verhandelt er mit bedeutungsüberfrachteten sprachlichen Mitteln seine weltanschauliche Befindlichkeit anhand des Problems der Identität seiner Protagonisten. Stellvertretend für die Rolle des Intellektuellen in der Gesellschaft und die Sinnlosigkeit jedes aufbegehrenden Gestus umschreibt Müllers Hamlet die Dynamik seiner Biographie mit der an sprachlicher Banalität schwer zu überbietenden Sentenz "Von Loch zu Loch aufs letzte Loch zu".
Das Problem der Identität wird in dem Drama Der Auftrag und dem darin enthaltenen Texteinschub Der Mann im Fahrstuhl auf zwei perspektivisch gegensätzlichen, jedoch unmittelbar zusammenhängenden Ebenen veranschaulicht. In beiden Texten geht es um die Dialektik von Auftrag und moralischer Pflicht und somit um das Problem der Identität. Während im Drama Der Auftrag französische Revolutionäre auf Jamaika vor der Frage stehen, ob der revolutionäre Kampf ihre Identität weiterhin definiert und ihr Auftrag auch dann weiterbesteht, wenn ihre Auftraggeber im nachrevolutionären Frankreich nicht mehr existieren und ob darüber hinaus eine allgemeine moralisch-ethische Pflicht zum Kampf für ein menschenwürdigeres Dasein besteht, geht es im Monolog Der Mann im Fahrstuhl um einen autoritätsgläubigen Befehlsempfänger, dessen doppelbödige und einzige Lebensmaxime lautet: "Fünf Minuten vor der Zeit / ist die wahre Pünktlichkeit." Auf dem Weg zu seinem "Chef, den er "in Gedanken Nummer eins nennt", erlebt er eine Fahrstuhlfahrt als Zeit- und Raumdimensionen sprengende Odyssee, die ihn seiner vermeintlich sicheren Existenz als kleines, aber gut geschmiedetes Rädchen im Geschichtsgetriebe beraubt. Die Protagonisten beider Texteinheiten, die Rahmenhandlung des Dramas sowie der Texteinschub werden gleichermaßen unvermittelt aus ihren jeweiligen Geschichten und somit aus dem Zeitstrahl eines linear-kausalen Geschichtsverlaufs geworfen, was mit dem Verlust ihrer Identität gleichbedeutend ist.
Indem die aus Frankreich entsandten Revolutionäre ihre ursprünglichen Identitäten als Masken wieder anlegen, verkörpern sie die Dialektik zwischen Auftrag und Identität: Der Erbe einer Pinntage spielt nun den Erben einer Plantage; der Hauer spielt nun den Bauern und der Neger spielt nun den Sklaven, um im Schutz der Masken einen Sklavenaufstand zu organisieren. Von dein Zeitpunkt an jedoch, an dem sie erfahren, daß die Revolution in Frankreich gescheitert ist, wird ihre ursprüngliche, auf Ungleichheit begründete Identität wieder aktuell und ihr idealistisches Handeln somit korrumpiert. Doch nur der Erbe der Plantage bliebe unbestraft, da nur seine bourgeoise Maske, die seine eigentliche Identität darstellt, ihm in diesem System Schutz vor Repressalien bietet, während für den Bauern und Sklaven der Auftrag zum revolutionären Kampf freilich moralisch weiterbesteht. Der Erbe der Plantage wird im Moment des Auftragsentzugs wieder zum Klassenfeind und die Akzeptanz seiner Maske würde Verrat bedeuten. Jeder Fortschrittsgedanke und jede angenommene geschichtliche Dynamik wird von diesem Zeitpunkt an entbehrlich, zeigt Müller mit seinem Drama doch deutlich, daß Überbaumodelle eben nur Modelle sind. Geschichtlicher Fortschritt, so kann Müllers Gleichnis interpretiert werden, liegt am unkorrumpierbaren Einzelnen.
Der Mann im Fahrstuhl, Abbild des charakterlosen Mitläufers und willfährigen Untertanen, nimmt in maßloser Selbstüberschätzung als Kehrseite seines Minderwertigkeitskomplexes an, daß er seine persönliche Geschichte im Griff habe. Was er zunächst als eine Art Auftragserteilung, Beförderung, Prämienzuteilung, Ordensverleihung oder zumindest Vertraulichkeit zwischen ihm und seinem Chef und somit als Aufwertung seiner Person erwartet, endet in einem geschichtslosen Vakuum, das mit dem Bild einer verelendeten Landschaft in Peru umschrieben wird:
"Mir wird klar, daß schon lange etwas nicht gestimmt hat: mit meiner Uhr, mit diesem Fahrstuhl, mit der Zeit.7 (...) Ich verlasse den Fahrstuhl beim nächsten Halt und stehe ohne Auftrag, den nicht mehr gebundenen Schlips immer noch lächerlich unter mein Kinn gebunden, auf einer Dorfstraße in Peru. (...) Ich gehe weiter in die Landschaft, die keine andere Arbeit hat, als auf das Verschwinden des Menschen zu warten. Ich weiß jetzt meine Bestimmung."
Das in dem Drama veranschaulichte Geschichtsbild blieb in den achtziger Jahren nicht auf den östlichen Teil Deutschlands beschränkt, sondern war ein Mosaikstein eines größeren kulturgeschichtlichen und ideengeschichtlichen Zusammenhangs. Was Müller am Beispiel des Sozialismus in der DDR zeigte, war die Kehrseite der Werkdiskussion im Westen, an der der Grenzgänger Müller ohnehin rege teilnahm. Auch das von vielen Intellektuellen im Westen vertretene geschichtsphilosphisch-idealistische Weltbild hing immer schiefer: Jürgen Habermas empfand Mitte der achtziger Jahre die Stilpluralität in der Architektur als eine "Neue Unübersichtlichkeit". Paul Feyerabend empfahl bereits Ende der siebziger Jahre mit der Formel anything goes das Überbordwerfen traditioneller Methodenzwänge bei der Suche nach einem neuen Weltbild. Und beiden Autoren voraus ging Arnold Gehlens bereits Anfang der sechziger Jahre definierter Begriff Posthistoire, der meinte, daß im angebrochenen Zeitalter der Nachgeschichte jede kulturell-geistige Kraft bloß noch Theater sei, aber auf keinen Fall gesellschaftlich aussagekräftig oder moralisch verbindlich wäre. Arnold Gehlens Posthistoire, Habermas' Neue Unübersichtlichkeit und Feyerabends anything goes waren essentielle Teilaspekte der in den achtziger Jahren geführten Postmoderne-Diskussion. Auch Heiner Müller wurde hier als Autor der Postmoderne diskutiert. Ihn verband mit den oben genannten Autoren das Aufkündigen eines idealistischen Geschichtsbildes, in dem das historische Ereignis als zwangsläufige Notwendigkeit und Ausdruck eines übergeordneten Prinzips erklärbar wäre.
Für den Bereich der Kunst schließlich bedeutete dieses Verständnis, daß die Kategorie des Neuen mit ihrem emphatischen Anspruch auf Innovation als maßgebliches Paradigma der Moderne obsolet geworden war, die Zeit der Experimente schien vorbei. Nach und nach entwickelte sich ein Bewußtsein dafür, daß ein Reflexionsstadium erreicht worden war, in dem nicht mehr nur ein geschichtlicher Zeitstrahl existierte, auf dem die Ereignisse nacheinander aufgereiht werden, sondern daß es viele verschiedene Geschichten gibt, die nebeneinander her existieren und sich gegenseitig beeinflussen können, aber nicht müssen. Was in idealistisch geprägter Anschauung mit der Formulierung Die Gleichzeitigkeit den Ungleichzeitigen nur mehr mühsam zusammengehalten werden konnte, wich nun der Anschauung einer pluralen Gleichzeitigkeit. Nun außerhalb von geschichtsphilosophisch determiniertem Denken wurde die Moderne einer Revision unterzogen. Das dabei entstandene Bewußtsein für das vorläufige Ende jeder Utopie verbot den Entwurf eines zukünftigen Weltbildes.
Freilich verband die Postmoderne mit den Phänomenen der Moderne das Festhalten am Fragment als adäquat zeitgenössische künstlerische Form und das Aktualisieren von Montage und Collage als ihre Gestaltungsmittel, um so zu dokumentieren, daß es ein exakt verortbares Identisches nicht mehr geben könnte: entsemantisierter Text anstelle von Kontexten. Heiner Goebbels' Vertonung mehrerer Dramentexte von Heiner Müller ist inmitten dieses geistig-weltanschaulichen Klimas entstanden. Der Fahrstuhltext wurde von Goebbels bereits 1985 als Teil der Vertonung Die Befreiung des Prometheus nach Müllers Theaterstücken Zement, Der Auftrag, Prometheus und Traktor verwendet. In dieser ersten Bearbeitung entläßt Goebbels seinen Mann im Fahrstuhl (1987) nicht in den geschichtslosen Raum, sondern läßt ihn retrospektiv sein "Heimweh nach dem Fahrstuhl" formulieren.
Wenn Goebbels bekennt: "Ich muß nichts loswerden"', spricht daraus kein Mangel an Sendungsbewußtsein, vielmehr wird ein ästhetisches Programm umrissen. Musik jeder Art ist für Goebbels bereits vorhanden, bevor er sie zu strukturieren beginnt. So entstehen seine Werke aus Versatzstücken und musikalischen Allgemeinplätzen seiner akustischen Umwelt oder werden im direkten Kontakt mit den ausführenden Musikern improvisatorisch und prozeßhaft erarbeitet. Es ist also nicht die Subjektivität des Komponisten, kraft derer Musik inspirationsästhetisch imaginiert wird, sondern das Potential an musikalischen Möglichkeiten, das durch Kommunikation - Unterhaltung im weitesten Sinn -freigesetzt wird. Goebbels Rückgriff auf Vorhandenes beschränkt sich dabei jedoch nicht nur auf die Musik, sondern auch auf die Musiker, deren Individualität seine Arbeiten prägt. Was jeder der Musiker - im Mann im Fahrstuhl bspw. die New Yorker Jazzmusiker Don Cherry (Trompete), Fred Frith (Gitarre und Bass) oder Charles Hayward (Percussion) - an spontaner Kreativität einbringt, dient Goebbels als strukturbildendes Mittel.
Das Mittel der Montage und Collage, das er in den Texten bereits vorfand, übertrug er nun auf seinen Umgang mit Musik. Er verdeutlichte dadurch musikalisch, daß es weder Stil- noch Genregrenzen gibt, deren Gebrauch oder Nichtgebrauch einem Kanon des Verbotenen oder einem geschichtsphilosphisch hergeleiteten Materialbegriff unterlägen, sondern, analog zum pluralistischen Geschichtsbild, allenfalls gleichwertige Stile und Genres. So reagiert Goebbels mit seiner Vertonung des Monologs auf Müllers Sprache, ohne deren Inhalt zu verdoppeln:
"Alle Parameter des eigenen Komponierens, alle Selbstverständlichkeiten des eigenen Genres müssen auf ihre Gültigkeit und ihre Selbstreferenz untersucht werden. (...) Nur indem man die strukturellen Angebote seiner [Müllers] Texte zu musikalischen macht, kann man illustrativ interpretierendem Quatsch entgehen".
Sein Rückgriff auf das Prinzip der Collage - horizontal und vertikal gleichermaßen unter Verwendung von Rock-, Jazz- und Noise-Art-Elementen angewendet -ergänzt den Text um eine selbständige Reflexionsebene, auf der das Problem Identität nunmehr musikdramatisch veranschaulicht wird, was bereits bei der Gattungszuordnung der Vertonung beginnt. Goebbels Verfahren "mit Musik, Geräuschen (...), mit der Haltung der Sprecher und mit dem Assoziationsmaterial, das die Art des Sprechens hervorbringt" zu komponieren, ist dem Verfahren des Filmschnitts eher zuzuordnen als rein musikalischen Gesetzmäßigkeiten. So prallen frei improvisierte Passagen auf gleichmäßig rhythmisch strukturierte oder auf die strophenartige Songform, deren schöner Schein entlarvend in einen neuen Kontext gestellt wird.
Mit den Begriffen narratives Konzert, Hörstück oder Hörfilm kann jedoch nur unzulänglich Goebbels Absicht und deren Umsetzung umschrieben werden, daß sich die fragmentarische musikalische und textliche Information "im Kopf des Hörers neu zusammensetzen" soll.| Insofern ist in der Aufführungssituation das Werk nicht einmal mehr mit sich selbst identisch, da die traditionelle Kategorie des Werks ein mit seinem Notentext identisches Klang- und Rezeptionsereignis meint.
Der in der Verlaufspartitur dargestellte erste Großabschnitt der Komposition beginnt mit der Autorenstimme Heiner Müllers. Nach einer knappen halben Minute tritt der artifizielle deutsche Sprecher hinzu. Die Musikebene setzt nach einer Minute seit Beginn mit instrumentalen Imitationen der Fahrstuhlgeräusche ein. Im weiteren Verlauf des Abschnitts nimmt die Dynamik auf der Musikebene zu, bis sich songhafte Strukturen gebildet haben. Gleichzeitig dazu werden die deutschsprachige und englischsprachige Textebene übereinander geschichtet. Der Textinhalt wird dabei zeitlich versetzt rezitiert.
Die Negation von Identität, wie die Verlaufspartitur zeigt, findet gleichermaßen in der Makro- wie in der Mikrostruktur statt. So wird die Identität des monologisierenden Protagonisten aufgebrochen und auf verschiedene Erzählstränge und Erzähler verteilt. In der ersten Vertonung des Texts von 1985 wurde der Monolog noch identifikatorisch von einem Sprecher deklamiert. Insgesamt verwendet Goebbels nun drei, wenn zwischen Sprechen und Singen unterschieden wird sogar fünf übereinandergeschichtete Textebenen, die fugatoartig aufgebaut sind: die Stimme des Autors Heiner Müller, die die Vertonung eröffnet, sowie die in ihrem Gestus entweder distanziert oder emphatisch wirkenden Stimmen in deutscher und in englischer Sprache, denen die Musikebene zugeordnet wird. Der Song "Fünf Minuten", bzw. "Five minutes" hat eine zentrale Bedeutung für die gesamte Vertonung wird in ihm doch das Problem der Identität mehr als deutlich veranschaulicht: Fünf Minuten vor, genauso wie auch fünf Minuten nach einem vereinbarten Zeitpunkt bedeutet gleichermaßen Unpünktlichkeit und somit nicht rechtzeitig am rechten Ort (s)einer Geschichte zu sein. Die Wahrnehmung von Identität und somit Sinnstiftung ist jedoch nur über die exakt meßbaren Kategorien Raum und Zeit möglich. Der vereinbarte Ort ist auf der Raum-Zeit-Achse eine von unendlich vielen Koordinaten. Der Mann im Fahrstuhl nähert sich dem Nullpunkt der Achse. Die Identität dieses Angestellten schwindet im gleichen Maß, wie er sich in seinem Fahrstuhl vom vereinbarten Ort und der vereinbarten Zeit und somit auch von der gewohnten Wahrnehmung entfernt.
Müller veranschaulicht mit diesem Bild das Scheitern eines linearen Fortgangs der Geschichte, nach dem - im übertragenden Sinn - planmäßig die Uhr gestellt werden könnte. Die zunächst gleichmäßig pulsierende Baßlinie im "Fünf Minuten"-Song steht demnach für eine bis zur Absurdität gesteigerte Verharmlosung der zu erwartenden Ereignisse und drückt damit gerade das Gegenteil von dem aus, was der zunächst überhebliche Sprachgestus des Textes an Bedeutung vorzugeben scheint. Ein letztes Mal scheint die Lebensmaxime "Fünf Minuten des Fahrstuhlfahrers blitzartig auf, nachdem die Fahrt beendet ist und er sich irgendwo in Peru wiederfindet. Nach Geräuschen aus der Wildnis erscheinen die in Englisch deklamierten Worte "Five minutes [...]" nunmehr gänzlich aus ihrem Kontext gerissen und vollends bedeutungslos geworden zu sein, denn der Mann befindet sich jetzt außerhalb jeder rationalen Zeitrechnung und Verortbarkeit, demnach außerhalb des geschichtlichen Gangs.
In Heiner Goebbels' Vertonung wird Heiner Müllers Geschichtsbild mit dem Mittel der Montage und Collage auf musikdramatischer Ebene adäquat umgesetzt: Die Identität des Protagonisten wird auf unterschiedliche sprachliche und musikalische Ebenen aufgesplittet; kausale Erzählstrukturen werden durch die Schichtung der Ebenen gleichsam prismatisch aufgefächert; vorhandenes musikalisches Material wird wertneutral und ohne Unterscheidung der stilistischen Fallhöhe neben- und übereinander montiert. Goebbels löst musikalische Allgemeinplätze und Zitate aus ihrem ursprünglich trivialen Kontext und fügt sie zu einem neuen Bezugssystem zusammen. Die Selbstreferenz der Zitate bildet in Verbindung mit dem Textinhalt eine eigenständige Bedeutungsebene. Die platten Sinn verheißenden Formen und Inhalte der Unterhaltungsmusik werden im neuen Kontext als Unsinn, Selbsttäuschung und mithin als Geschichtsfälschung ausgestellt. Durch diesen historisch und gattungstraditionell zunächst nicht wertenden Ansatz veranschaulicht Heiner Goebbels die geschichtsphilosophisch desillusionierte Befindlichkeit der achtziger Jahre vieler Intellektueller im damaligen West- und Ostdeutschland, wie sie in der Postmoderne-Diskussion ausgedrückt wurde, mit musikalischen und filmschnittartigen Mitteln.
In einem ideengeschichtlich vorsichtig formulierten Sinn können Müllers Text und Goebbels Vertonung als geistig-kulturelle Vorboten einer real eintretenden geschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklung gewertet werden, die seit dem Fall der Berliner Mauer Tatsache geworden ist und möglicherweise einer, je nach Perspektive, neuen Identität oder Identitätskrise geführt hat.

Band 7 (11/1997)
on: Der Mann im Fahrstuhl (CD)