9/1996, Max Nyffeler, Fuge, Zeitschrift der Jungen Deutschen Philharmonie
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Das Nationale in der Musik - Die Kunst des Wo-Anders-Seins

Heiner Goebbels der Komponist der offenen Moeglichkeiten

Deutsche Musik - da denkt man spontan an den Bayreuther Weihezauber, an Pfitzner ("Aus deutscher Seele"), an Beethoven (aus Karajans Hand und Deutsche Grammophon), Hindemith, Distler, Stockhausen. Aber keineswegs an Heiner Goebbels. Nationale, gar nationalistische Töne sind bei ihm nicht zu finden, und einer Musik fehlt, was gemeinhin als Eigenschaft einer wie auch immer "deutschen Musik" gelten könnte: Das Spekulativ-Ahnungsvolle und Solid-Korrekte, das Faustische, Geniale, Innige, Tiefe, Systematische... Ganz abgesehen von den Attributen, die Nietzsche dem Reichs-Germanen zuschrieb, den er als Voraussetzung von Wagners Erfolg betrachtete: "Gehorsam und lange Beine". Denn, so der Verächter alles Großdeutschen auch in der Musik: " Nie ist besser gehorcht , nie ist besser befohlen worden ". Emotionale Rituale der Überwältigung und Unterwerfung sind Heiner Goebbels so fremd wie serielle Polizeimethoden zur umfassenden Kontrolle des Tonmaterials. Und undeutsch ist seine Musik auch darin, daß sie sich der Tradition expressiver Wortvertonung, die sich von Schütz über Bach, Schubert und Wagner bis Schönberg verfolgen läßt, verschließt. So ganz von ihrem deutschen, besser: bundesdeutschen Hintergrund ist Heiner Goebbels' künstlerische Erscheinung jedoch nicht abzulösen.
Welcher amerikanische, britische oder spanische Komponist hätte denn sein Studium mit einer Arbeit über Hanns Eisler abgeschlossen, dessen Konzept einer politischen Ästhetik in der eminent deutschen Tradition eines Hegel, Marx und Brecht wurzelt? (Nebenbei: Wie österreichisch war der in Wien geborene Eisler?) Und sollte Goebbels etwa unbeeinflußt geblieben sein von der jahrelangen Beschäftigung mit den Texten von Heiner Müller, der mit seinem Herumlaborieren an der Wunde Deutschland der vielleicht genuinste "deutsche Dichter" der Nachkriegszeit war?
Gewiß sollten solche "deutschen Wurzeln" bei Heiner Goebbels nicht überbewertet werden. Doch immerhin hatten Eisler wie Müller für ihn so etwas wie eine künstlerische Katalysatorfunktion. Bemerkenswert ist ferner, daß beide Bürger der DDR waren und dort der kritischen Intelligenz angehörten, die spätestens seit 1968 von der kulturellen Linken in der Bundesrepublik aufmerksam rezipiert wurde. Goebbels nahm also teil am kritischen Ost-West-Diskurs, der unter Künstlern und Intellektuellen, jenseits der Machtpolitik des Kalten Kriegs, seit den Ostverträgen der Regierung Brandt mit wachsender Selbstverständlichkeit geführt wurde - einem Diskurs, der so spezifisch deutsch war wie die Mauer, die da Land und seine Kultur teilte und der im Extremfall zur Nabelschau von Zwillingen verkommen konnte.
Der Gefahr, sich in den deutschen Paradoxien zu verheddern, ist Heiner Goebbels allerdings nie erlegen. Sein Interesse für intemationalistische Strömungen wie experimentelle Rockmusik und Jazz war da ein gesundes Korrektiv. Und bei allem politischen Engagement ist er zu sehr an Fragen der künstlerischen Produktion selbst interessiert, um Komponieren mit kulturpolitischer Praxis zu verwechseln. Gesellschaftskritik äußert sich in seinem Werk deshalb nie mit fundamentalistischer Strenge, sondern sie ist Teil eines Gesamtzusammenhangs von Materialien, Sprachbestandteilen und Assoziationen, dessen Syntax mehr spielerisch-ironisch als systematisch oder gar zielgerichtet-agitatorisch konzipiert ist. Öffnung des Wahrnehmungshorizonts ist seine Devise. Deshalb auch seine Vorliebe für internationale Literatur.
Die komplexen Wirklichkeiten in Surrogate Cities sind nicht zuletzt musikalische Spiegelbilder der Texte von Paul Auster. Hugo Hamilton, Italo Calvino, Franz Kafka. Und Heiner Müller, versteht sich.
Das alles mag mit seiner künstlerischen Sozialisierung in Frankfurt am Main zu tun haben, jener Finanzmetropole, die in den letzten Jahrzehnten aus dem Füllhorn des Wohlstands einen selbst für das reiche Westdeutschland beispiellosen Kulturboom finanzierte und damit ein unverwechselbares kulturelles Biotop ermöglichte. Im Schatten der Bankentürme, wo einst Adorno wohnte und die ersten Häuserkämpfe der Bundesrepublik ausgetragen wurden, wo das in Geldgeschäften nötige, extrem liberale Klima auch kritischen Geistern eine Existenzgrundlage garantierte, lag leichtfüßig-avantgardistisches Denken gleichsam in der Luft. Hier konnte jene Spielart engagierter Kunst entstehen, für die die Musik von Heiner Goebbels modellhaft steht:
Nicht schwitzende politische Agitation, sondern Spass am Musizieren, der die politische Botschaft zum 0bjekt lustvoller Erkenntnis machen soll; nicht bekenntnishafter Protest (der nur eine neuere Variante romantischer Ausdrucksmusik ist), sondern Anstösse zum Weiter-denken für ein intelligentes Publikum; nicht die Idealität es reinen Materialgedankens, sondern die kritische Wahrnehmung der real existierenden, multimedialen Klangwelt von E bis U.
In Heiner Goebbels verkörperte sich damit ein Künstlertyp, der für die Bundesrepublik der siebziger und achtziger Jahre charakteristisch war: Einer, der die pluralistischen Angebote einer offenen Wohlstandsgesellschaft, die vielfältigen Möglichkeiten an Lebensformen und kulturellen Ausdrucksmöglichkeiten vorurteilslos und ganz selbstverständlich zu nutzen verstand und sich dabei kritisches Denken nicht einfach abkaufen ließ; der lebenspraktischen Hedonismus und künstlerische Selbstreflexion zu einer fröhlichen Wissenschaft zu verbinden wußte und damit genau den Nerv eines urbanen, gewandten und kulturell verwöhnten Publikums traf; der ständig auf dem Sprung warn für den "Deutschland" die Operationsbasis und das Wort "deutsch" bestenfalls die Staatsangehörigkeit im Paß bezeichnete. Inzwischen hat sich das Klima gewandelt. Deutschland ist einheitlich verdoppelt und als Thema doppelt unersprießlich. In Wirtschaft und Politik ist Neoliberalismus angesagt. Die Kultur wird auf den freien Markt geschickt und das Frankfurter Biotop schrittweise finanziell trockengelegt. Auch darin ist Frankfurt wieder führend in der Bundesrepublik. Eine thatcheristische Verachtung der Kultur greift um sich. Ein neuer Aspekt der "deutschen Kultur"? - Es wäre ein Grund mehr für Goebbels, von diesem Begriffsgebilde nicht allzu viel zu erwarten. Inhaltlich ist er ohnehin schon längst woanders angelangt.