6 September 2021, Rainer Nonnenmann, Kölner Stadtanzeiger
Interview (de)

Der Raum zwischen Text und Gesang

Heiner Goebbels über sein neues Orchesterwerk „The House of Call“

„Es geht nicht um einen Gesang, der sich selbst und seine Schönheit feiert, sondern um die Reibung, die dadurch entsteht, dass jemand zugleich eine wichtige, existenzielle Mitteilung macht.“ Statt Sängerinnen oder Instrumentalisten fremde Stimmen vortragen zu lassen, versammelt Heiner Goebbels in „A House of Call“ das Reden, Singen oder Rezitieren phonographisch aufgezeichneter Menschenstimmen. Die Aufnahmen stammen aus verschiedenen Quellen. Manche fand er selbst auf Reisen, andere in der Berliner phonographischen Sammlung auf teils mehr als hundert Jahre alten Wachswalzen, die knacksen und rauschen. Die Aufnahmen entstanden alle in verschiedenen Zusammenhängen, Situationen, Kulturen, Traditionen aus unterschiedlichen Gründen: aus ethnologischem, musik- oder sprachwissenschaftlichem Interesse oder anthropologischen, kolonialistischen und rassistischen Motiven.
Goebbelsʼ jüngst beim Musikfest Berlin uraufgeführtes Orchesterwerk ist an diesem Montag in der Kölner Philharmonie zu erleben. Der 1952 geborene Regisseur und Theatermacher sammelte die Aufnahmen seines „My imaginary notebook“ zunächst mehr zufällig und intuitiv. „Während der Arbeit kamen dann andere Kriterien hinzu. Bei aller Varianz des disparaten Materials gibt es eine verbindende Qualität, die alle diese Stimmen haben. Es geht um das, was Roland Barthes die »Rauheit der Stimme« genannt hat, »Grain de la voix« – das gesungene Schreiben der Sprache, also den Zwischenraum zwischen Text und Gesang.“
Die Instrumente behandelt Goebbels dagegen nicht primär als eigene Stimmen: „Das Orchester reagiert auf die Aufnahmen nach der Call-and-Response-Struktur wie in einem Responsorium. Ich bin kein routinierter Orchesterkomponist, das können andere besser“, gesteht der Theatermacher. Den Komponisten interessiert mehr das, was in den aufgezeichneten Stimmen alles mitschwingt, weniger das reine Orchester: „Das ist ein Instrument des 19. Jahrhunderts, für das leider auch die meisten Philharmonien gebaut wurden. Mit deren Akustik tue ich mich sogar schwer, weil sie auf die Verschmelzung der Klänge aus ist. Mich interessiert die Transparenz.“
Die Bezeichnung des neuen Orchesterwerks als „Ein Liederabend“ legt eine Nähe zu Mahlers Orchesterliedern und Liedersymphonien nahe, in die ja auch Stimmen, Volkslieder, Tänze, Märsche und Naturlaute wie von der Straße eindrangen. Doch eine solche Parallele ist nicht intendiert: „Ich habe das 19. Jahrhundert – so wie das Brecht und Eisler einmal gesagt haben – weitgehend „übersprungen. Das Vorbarock, Barock und 20. Jahrhundert sind für mich wichtigere Inspirationen, auch die vorbürgerlichen Produktionsformen und funktionalen Zusammenhänge.“ Geprägt haben Goebbels zudem Jazz, Improvisation, Rockmusik und deren antibürgerliche Impulse. Im Gegensatz zum romantischen Ideal des reinen Hörens möchte er den Raum und die Architektur des Aufführungsorts wahlweise stützen oder umformen – in »A House of Call« zum Beispiel mit einer starken Lichtregie: „Ich begreife das Konzert auch immer als szenische Erfahrung, die ich visuell mitstrukturiere.“

on: A House of Call (Composition for Orchestra)