1 October 2008, Die Zeit
Interview (de)

"Neue akustische Horizonte"

Was unterscheidet Musik von anderen Künsten? Und kann sie unsere Welt verändern? Ein Gespräch.

DIE ZEIT: Was kann Musik, was andere Künste nicht können? Heiner Goebbels: Sie kann ein körperliches Erleben sein, auch für den, der sie nur hört und nicht selbst spielt. Und sie verstellt die Bilder der eigenen Imagination nicht. Im Hören ist man freier als im Sehen. ZEIT: Kann Musik die Welt verändern? Goebbels: Leider nicht. Aber eine starke künstlerische Erfahrung kann Menschen verändern, davon bin ich überzeugt. Insofern... ZEIT: Hat die globalisierte Welt unsere Wahrnehmung von Musik verändert? Goebbels: Sicher auch das. So ganz nebenbei. Und nicht nur zum Nachteil. Sie eröffnet uns bislang unbekannte akustische, kulturelle Horizonte, die hoffentlich irgendwann auch an den deutschen Musikhochschulen wahrgenommen werden. Und die Dezentralisierung des Musikbusiness erlaubt uns inzwischen den unkomplizierten Zugriff auf ein weitaus größeres Repertoire, auch jenseits des Mainstreams. Ich glaube, unser Hören ist viel komplexer geworden. ZEIT: Was wird uns die Musik der Zukunft bringen? Goebbels: Ich bin kein Visionär. Vor denen sollte man sich in acht nehmen! Und für die Lehre gilt besonders: Wer unterrichtet, sollte nicht glauben zu wissen, wo es lang geht, sondern den jungen Studierenden dabei helfen, ihre eigene künstlerische Sprache zu finden – das heißt das, wovon wir heute noch nicht wissen, wie es morgen klingt und aussieht. ZEIT: Was ist für Sie das größte Missverständnis, dem Komponisten je aufgesessen sind? Goebbels: Daß die Welt auf sie gewartet habe. Die Zeit: Worüber musss sich ein Komponist heute im Klaren sein, wenn er Musik erfindet? Goebbels: Über die Erfahrbarkeit seiner Musik. Nicht die Klänge sind entscheidend, sondern die Bedingungen, unter denen man sie hört. Es reicht nicht, nur die Fragen des musikalischen Materials zu reflektieren. Man sollte sich über den Kunstbegriff, mit dem man arbeitet, im Klaren sein. ZEIT: Was hat die Musikgeschichte dem Pop und dem Jazz zu verdanken? Goebbels: Eine ganze Menge. Zum Beispiel, dass man als Hörer bei der Entstehung der Musik dabei sein kann wie beim Jazz oder in seine Strukturen eingeweiht ist wie beim Pop. Das sind wichtige antididaktische und – meist – antitotalitäre Impulse für die Souveränität des Hörers. Oder dass sich nicht alles nur um die Musik selbst dreht, sondern auch um das damit verbundene Lebensgefühl. Dass gute Musik nicht immer auf dem Papier entstehen muss und es wunderbare Teams gibt, die zusammen komponieren im Gegensatz zum genialen Eigenbrödler. Das kann zu einer Art von komplexer Polyphonie führen, zur Polyphonie von Haltungen beim Pop oder zur Polyphonie unabhängig agierender Musiker beim Jazz.