18 February 2005, Bauwelt Nr. 8
Interview (de)

Transparenz der Einzelklänge

Welche Erfahrungen haben Sie bei der Aufführung Ihrer Werke in den speziell für kleine bis mittlere Ensembles konzipierten Räumen - dem Kammermusiksaal - gemacht? Wieviel akustische und architektonische Identität ist notwendig? Ist eine Spezifik eher störend oder sinnvoll?

Heiner Goebbels:
Die Konzerthallen sind für eine Verschmelzung der Klänge gebaut - entsprechend der klassisch-romantischen Orchestermusik, für die sie immer noch entworfen werden. Sie kennen die Parameter, die dafür verantwortlich sind: Resonanzen und Reflektionen, die für die klassische Instrumentierung bei der Entwicklung der Klänge so wichtig sind. Sie tragen den Klang zum Zuschauer während sie dabei verschmelzen. Je länger der Nachhall einer Raumakustik – also je 'überakustischer'der Raum mit-reagiert – desto mehr vermischen sich, desto mehr verschmelzen die Klänge. Dies ist eine Grundvoraussetzung zum Beispiel für die romantische Instrumentierung, der übrigens mit wenigen Ausnahmen aber auch die Moderne folgt. Bei aller Komplexität und Schroffheit der Kompositionen: der Raum versöhnt.
Je trockener aber eine Raumakustik, umso transparenter können die Einzelereignisse für sich stehen. Seit Beginn der Studiotechnik und Schallplatte besteht aber zum Beispiel das Projekt der U-Musik eher in einer Trennung der Klänge, in deren Fragmentierung, Transparenz, Tiefenstaffelung. Das bedeutet: große Nähe (auch für kleine, leise Klangquellen) und große Entfernungen sind gleichzeitig möglich und durchhörbar – und somit ist auch eine individuelle 'Raum'gestaltung in der Studioabmischung machbar, unterstützt von einer Vielfalt künstlicher Hall- und Verzögerungsräume. Zum Beispiel ist selbst innerhalb des Schlagzeugs ein anderer Klangraum für die snare möglich als für die Bassdrum usw.
Eine räumlich getrennte Instrumentierung, die ja auch den Orchesteraufbau prägt, ist auf diese Weise radikalisierbar. Die Transparenz der Einzelklänge läßt dem Hörer andere Möglichkeiten und autonomere Spielräume: er ist nicht mehr einem Raum ausgeliefert - sondern muss und kann sich das jeweilige Stück aus den mannigfaltigen Möglichkeiten der verschiedensten Klangräume und vor allem der getrennten Instrumentationen überhaupt erst selbst synthetisieren.
Daß sich diese Erfahrungen zunächst auf die Popmusik beziehen, soll uns nicht davon abhalten, hinter diesem Hören möglicherweise ein moderneres und komplexeres Wahrnehmungskonzept auszumachen als wir es in der konventionellen Zentrierung und Verschmelzung des Klangs finden. Die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, hat selbst die zeitgenössische E-Musik bei aller Differenzierung und Komplexität der Werke noch kaum wahrgenommen. Das hängt auch damit zusammen, dass die Räume, in denen sie aufgeführt wird, immer noch dagegenanarbeiten.
Meine Kompositionen, gleich ob für Ensemble oder für großes Orchester, sind aus diesem ästhetischen Grund – und nicht um "lauter" zu sein – alle mikrophoniert. Das ist aber in den großen Konzerthallen wegen der Eigenakustik und dem Verschwimmen des Klangs nur sehr schwierig zu realisieren.
Mir fehlen also erstens Räume, die auch 'trockener' sein können. Zum Zweiten spielt der Gesichtspunkt der Inszenierung von Musik (zum Beispiel mit Lichtkonzepten) nicht nur in meinen szenischen Konzerten eine zunehmende Rolle. Aber selbst die neuen Konzertsäle sind dafür immer noch nicht entsprechend ausgestattet.

Nennen Sie einen alten und einen neueren Saal, der Ihren Vorstellungen von einem idealenAufführungsort für neue Musik nahekommt.

Heiner Goebbels:
Die Anforderungen 'Neuer Musik' an das, was die Räume bereitstellen oder möglich machen sollten, lassen sich nicht auf eine einheitliche Definition reduzieren. Wenn ich über meine Erfordernisse spreche (zum Beispiel Licht, Raum, Mikrophonierung, Life-Elektronik) dann sind zur Zeit die konventionellen alten oder neuen Theater (Théâtre des Champs Élysées in Paris, das Barbican in London, das Haus der Berliner Festspiele, das Bolschoitheater in Moskau u.v.a.) für meine Arbeiten günstiger als die entsprechenden Konzertsäle (Royal Festival Hall in London, Philharmonie in Berlin, Köln u.a.).
Unter akustischen Bedingungen konnten wir auch mit kompletter Verstärkung (z.B. der Berliner Philharmoniker) im neuen Konzertsaal in Luzern gute Ergebnisse erzielen, weil dort mit akustisch flexiblen Maßnahmen die Klang-Laufzeiten verkürzt werden konnten (die Decke lässt sich herunter fahren, Vorhänge auf den Rängen können die Reflektionen reduzieren, Hallräume lassen sich schließen etc.). Dagegen ist dort aber keine räumliche Flexibilität gegeben.
Ein weiteres Problem stellt in vielen Konzerthallen die 'Untersicht' dar: das Publikum im Parkett sitzt in vielen Fällen zu tief, ist oft fast ohne Steigung hintereinander gereiht, so dass der Blick der Zuschauer nur bis zur vordersten Reihe der Musiker reicht. Eine Podesterie auf der Bühne für Bläser und Schlagzeuger ist in der Regel nicht hoch genug, um sie sichtbar zu machen.
Ein neuer Saal, der alle räumlichen, akustischen und medialen Voraussetzungen bestens erfüllt, ist mir - abgesehen von einigen black boxes - nicht bekannt.

Werke für neue Musik werden heute nicht selten an Orten aufgeführt, die vor allem durch ihr besonderes architektonisches Flair/ihre Atmosphäre ein interessiertes Publikun anziehen sollen: leer stehende Kirchen, alte Fabrikhallen, Galerien etc. Unter welchen Umständen - wenn überhaupt - ziehen Sie solche besonderen Orte den etablierten Aufführungsorten (Kammermusiksälen) vor?

Heiner Goebbels:
Das hängt davon ab, ob die künstlerische Arbeit mit den betreffenden Orten in Zusammenhang steht; ob also der Raum an dieser Arbeit 'mit-spielt' oder einen unter Umständen kreativen Widerstand bildet (zum Beispiel das Bockenheimer Depot in Frankfurt oder die Jahrhunderthalle in Bochum, Statione Leopolda in Florenz). Im Gegensatz dazu sind die akustischen Voraussetzungen in großen Industriehallen eher schwierig. Und eine akustische und bühnentechnische Verbesserung kann den architektonischen Charakter leicht zerstören (Batiment des Forces motrices, Genf).

Denken Sie beim Komponieren an einen Raum (einen Saal), an dem das Werk aufgeführt wird? Wenn ja, beeinflusst diese Vorstellung die Komposition?

Heiner Goebbels:
Ja - außerordentlich.

Wenn Sie selbst bei der Gestaltung eines neuen Saals für kleine bis mittlere Ensembles mitwirkten: Welche drei wichtigsten (technischen, architektonischen...) Bedingungen muss ein solcher Saal erfüllen?

Heiner Goebbels:
1) der Raum müßte - nicht nur, aber auch - akustisch trocken sein können.
2) sollte er über ein flexibles Rigging verfügen (Lichtbrücken, etc.).
3) Große Flexibilität der Zuschauer-/Bühnen-situation, d.h. das Publikum sollte variabel positioniert werden können, incl. der Möglichkeit von Zuschauertribünen (mit Aufsicht).

aus: "Braucht die neue Musik den Kammermusiksaal? - Neue Räume für zeitgenössische Musik - fünf Fragen an zehn Komponisten"