09/2004, Zeitung schauspielfrankfurt
Interview (de)

Es gibt keine Hierarchie auf der Bühne

Heiner Goebbels im Gespräch mit Elisabeth Schweeger und André Wilms.

Elisabeth Schweeger: Versuchen wir mal eine Art Portrait. Heiner Goebbels ist eigentlich Frankfurter. Und dann irgendwie, wie so oft als Kind einer Stadt, sträflich vernachlässigt worden und hat dann in den letzten Jahren beschlossen, viel im Ausland zu arbeiten. Wobei sein Schwerpunkt Lausanne geworden ist. Heiner Goebbels: Ich bin einer Einladung gefolgt. Als 1998 das TAT mal wieder eine der vielen Schließungsphasen hatte, bekam ich am nächsten Tag einen Anruf vom Theatre Vidy in Lausanne mit dem Angebot, mir dort eine 'neue künstlerische Heimat' zu sein. Ich gestehe, dass es mir am Genfer See nicht schlecht geht. Schweeger: Das ist irgendwie eine größere Idylle als hier. Goebbels: Es sind die einzigen Arbeitsbedingungen, die denen am TAT nahe kommen. Und nur aus solchen Bedingungen kann etwas entstehen, von dem man vorher noch nicht weiß, wie es aussehen wird. Und mir geht es oft so. Schweeger: Also ideale Produktionsbedingungen. Du hast ein Team... Goebbels: Ein kleines Team. Schweeger: ...von den Technikern bis zu den Schauspielern bleiben alle immer an derselben Produktion . Und Ihr könnt ein Stück erarbeiten, es wird en suite gespielt und geht dann auf Tour. Goebbels: Und wir können unter Originalbedingungen proben, mit allem: Originalbühnenbild, Licht, Ton, Kostüme und so weiter. Schweeger: So ideal diese Bedingungen sind, glaubst Du, dass so ein Modell übertragbar wäre? Goebbels: Ja, wenn man bereit ist, sich von dem Repertoirebetrieb zu verabschieden: sofort! In einer Großstadt wie Frankfurt ist es m.E. kein Problem, en suite zu spielen und ohne festes Ensemble, mit einem relativ kleinem Kernteam, jede Produktion neu zu schaffen. Schweeger: Das ist an einem Ort, wo das Repertoiresystem etabliert ist, schwierig. Eine mögliche Umstellung würde natürlich seine Zeit brauchen. Goebbels: Das heißt, wir müssen warten, bis es vorher an die Wand fährt.... Schweeger: Nein, aber Du bräuchtest eine politische Struktur, die das trägt, die das fünf Jahre aushält, in der es vielleicht nicht funktioniert. So ein bisschen Erfahrung haben die Frankfurter mit en suite, Cambreling hat es ja probiert, und hat sich damit nicht durchsetzen können. Goebbels: Inzwischen sind wir zehn Jahre weiter. Wir haben nicht nur das Bürgertum, das seit langem hier wohnt, sondern haben auch sehr junge, flexible Zuschauer. Und vor allem ein internationales Publikum, das sich teilweise nur kurz in Frankfurt aufhält. Wenn eine Produktion auf sich aufmerksam macht, dann kann sie auch zwei Wochen hier spielen. Wenn ich in Lausanne 12 mal en suite ausverkaufte Vorstellungen habe, sollte das in Frankfurt doch auch möglich sein. Der große Vorteil ist ja vor allem, dass eine Produktion mit einer ganz anderen Sorgfalt geprobt, inszeniert und aufgeführt werden kann, weil die Schauspieler während der Proben nicht am Abend andere Stücke spielen müssen, weil man nicht jeden Tag innerhalb von zwei, drei Stunden die Vorstellungen wieder aufbauen muss, usw. Der Repertoirebetrieb mag für den musealen Teil der darstellenden Künste der effektivste Weg sein. Für den kreativen ist er es definitiv nicht. Schweeger: Das sind nach meiner Ansicht von der künstlerischen Seite wirklich die enormen Vorteile, auf der anderen Seite bietet das en-suite-Spiel nicht die Möglichkeit, künstlerische Prozesse in größerem Umfang so voranzutreiben, wie es das deutsche Repertoiresystem natürlich macht, wie zum Beispiel die Suche nach und die Pflege der Autoren. Das kannst du natürlich in so einem Repertoiresystem eher machen, weil du aufteilen kannst, du kannst ausbalancieren, du kannst Risikoproduktionen machen und es durch Produktionen abdecken, die eine sichere Nummer sind. Wenn du einen en-suite-Betrieb dagegen hast, glaube ich, denkst du auch anders, du denkst immer in Kategorien der Sicherheit, probierst nicht soviel aus, denn die Produktion muss stimmen und Erfolg haben. Goebbels: Sie hat auch eine viel größere Chance 'zu stimmen'. Und den Ensemblegedanken praktiziere ich auch: man könnte André und mich und die vielen anderen Künstler und Mitarbeiter, mit denen ich seit zehn, fünfzehn Jahren immer wieder zusammenarbeite, gut als Ensemble bezeichnen. Es ist aber meines Erachtens eher das "Ensemble Modern", das den Ensemblegedanken auch wirklich realisiert und den Namen verdient. Weil es ein selbstverwaltetes Ensemble ist. Ich finde, das gehört zu diesem Wort dazu. Eigentlich wundert mich, warum im Theater alle diesbezüglichen Versuche Anfang der achtziger Jahre zu Ende gingen, obwohl diese für Frankfurt und Berlin auch künstlerisch zur besten Zeit gehörten. Seitdem wird dieses Modell von den Musikern übernommen; die Musiker praktizieren das - vom "Ensemble Modern" über die "Junge Deutsche Philharmonie" bis hin zu den "Berliner Philharmonikern" - mit großem Erfolg. Es ist erstaunlich, dass das im Theater keine Chance hat. Schweeger: Ich denke, dass hängt im Theater mit festgefahrenen Strukturen zusammen, die sich leider nicht von heute auf morgen verändern lassen. Goebbels: Das Theater ist sehr hierarchisch. Schweeeger: Eben. Und wenn die Bereitschaft da wäre, das wirklich zu verändern, dann könnte man das innerhalb von fünfzehn Jahren höchstwahrscheinlich umstrukturieren. Aber nachdem das ein generalisiertes Problem ist, kannst du nicht von Haus zu Haus gehen, sondern es müsste eine politische Entscheidung getroffen werden, um es in Deutschland generell zu ändern . Und dann geht es vielleicht. Aber wenn du da unterschiedliche Strukturen hast... Goebbels: Nein, in der Musik ist das Gros der Orchester auch immer noch hierarchisch strukturiert und Musiker werden gemietet oder verbeamtet. Das "Ensemble Modern" ist immer noch eine utopische Insel, die für alle selbstbewussten und verantwortungsbereiten Musiker ein Attraktionspunkt ist. Es ist ein Quantensprung in der Frage, was Motivation und Selbstverantwortung Aller möglich machen. Schweeger: Weil du auch engagierter bist. Aber Du, André, bist ja jemand, der beide Systeme kennt und der in beiden gearbeitet hat. Wie ist das für Dich? Also erstens, wie ist die Zusammenarbeit mit Heiner Goebbels gewesen, die sich ja über viele Jahre jetzt hinweg gezogen hat und wie empfindest Du es, hier in einem Repertoiresystem zu arbeiten, was dem entgegensteht und was ganz anderes ist? André Wilms: Als Schauspieler habe ich nie in einem Repertoireensemble gearbeitet. Ich habe nie Repertoire gespielt. Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Das ginge für mich überhaupt nicht. Ich kann mich nicht umstellen. Ich bin zu langsam, ich habe nur eine Idee pro Abend. Wenn ich jetzt den nächsten Abend "Richard III" spielen sollte und vorher Goebbels gespielt habe und danach in einem Stück von Wanda Golonka und schließlich dann noch in einem Stück von Armin Petras, da würde ich verrückt werden. Ich kann nicht mit vielen Leuten arbeiten. Das ist sehr schwer für die Schauspieler im deutschen Repertoiresystem, ich bewundere sie, dass sie sich auf so viel Menschen einstellen können. Immer ein anderer Stil, andere Bedingungen, andere Fragen, da bewundere ich sie. Ich dagegen könnte das gar nicht. Ich habe es aber auch nie probiert. Ich kann auch nicht zwei Texte gleichzeitig lernen. Ich muss mich auf einen konzentrieren können. Das ist schon kompliziert genug. Es ist wie in der Liebe, man kann nicht jeden lieben. Eigentlich müsste man sich entscheiden. Goebbels: Aber in Deinem Körper trägst Du noch die alten Texte. Du hast zum Beispiel "Max Black" in Vancouver gespielt zwei Wochen nach der Premiere von "Eraritjaritjaka" in Lausanne. Wilms: Einen! Die anderen könnte ich nicht mehr. Was ich immer erstaunlich finde, ist, daß so viele mit so vielen Regisseuren arbeiten, das finde ich wahnsinnig schwer. Schweeger: Und wie ist das für Dich, wenn Du als Regisseur in so einem Repertoire-Betrieb arbeitest? Wilms: Friendly Speaking? Schweeger: Not friendly, sondern real. Authentisch. Wilms: Man kann, glaube ich, schon in großen Häusern arbeiten, aber es fehlt an Flexibilität. Goebbels: Es ist ja nicht so, dass die Mitarbeiter nicht guten Willens sind. Ich habe ja viele Jahre im Repertoiretheater als Komponist gearbeitet. Es ist die Struktur, die die Leute verantwortungslos macht. Ein Beleuchter der nur für die linke Bühnenseite eingeteilt ist , darf gar nicht auf der rechten Seite aktiv werden - sonst bekommt er eine Abmahnung. Wenn man einmal mit einem Lichttechniker gearbeitet hat, der sich für die Produktion interessiert, der auch mal zwölf Stunden auf der Probe mitarbeitet, bis er selbst zufrieden ist, egal ob auf der linken oder rechten Bühnenseite, dann will man nie wieder zurück. Schweeger: Diesbezüglich ändert sich aber bereits einiges, trotzdem kann man noch immer sagen, dass im Augenblick die Struktur das Theater bestimmt, und nicht das Theater sagen kann, welche Form es braucht, in der es effizient produzieren kann. Goebbels: Man verliert aus dem Blick, dass es hier eigentlich um Kunst geht. Schweeger: André, hast Du noch das Gefühl, dass Du künstlerisch arbeiten kannst in einem solchen System? Wilms: Das ist natürlich schwer. Du bist abhängig von so vielen Sachen. Die Schauspieler spielen abends. Und morgens ist Probe. Das ist doch Tierquälerei. Wenn ich abends spielen und morgens um zehn proben soll, höre ich sofort damit auf. Nicht weil ich faul bin, ich kann nur nicht so schnell umdenken. Goebbels: Es wird im Theaterbetrieb in der Regel viel zu viel gemacht; kein Mensch hat noch Zeit. Der Regisseur bereitet sich nicht mehr richtig vor, die Dramaturgen haben keine Zeit mehr, jenseits einer Produktion Bücher zu lesen, die Schauspieler und Schauspielerinnen haben keine Zeit, über ihren Beruf nachzudenken, weil sie von einer in die nächste Produktion gesteckt werden, und die Leute in den verschiedenen technischen Abteilungen haben keine Zeit. Ich glaube, es werden einfach zu viele Produktionen gemacht. Weniger könnte mehr sein. Schweeger: Das ist leicht zu erklären. Also gelesen wird genug. Das Problem ist nur, dass man natürlich aus der Enge, in der man sich befindet, dann noch Zusatzprojekte macht, die das Produktionsproblem im Theater zusätzlich reflektieren wollen. Dafür hat man oft wenig Zeit. Wie z.B. unser Projekt "Flucht. Punkt. Kunst". Da brauchst du viel Zeit, die du nicht hast , und dann machst du es zwischen Tür und Angel. Und das vermehrte Produzieren ist die Reaktion auf eine veränderte Aufmerksamkeit zurückzuführen. Wir haben registriert, dass wir vor zehn oder fünfzehn Jahren ohne weiteres ein Stück machen konnten, das dann fünfzig, sechzig Mal, zwei, drei Spielzeiten hindurch lief. Das kannst du heute kaum mehr. Wenn man heute ein Stück ansetzt, dann ist es nach fünfundzwanzig Mal einfach abgespielt. Goebbels: Aber es ist schwer das Gegenteil zu beweisen, weil mit einer anderen Sorgfalt, mit dem Luxus von Vorbereitung und Reflexion, eine Produktion natürlich auch eine faire Chance hat, besser zu werden und damit eine größere und länger anhaltende Aufmerksamkeit zu bekommen. Schweeger: Das glaube ich nicht. Auch sehr gute Produktionen sind sehr schnell mit Publikum nicht mehr zu füllen. Goebbels: Man muss ja nicht jeden Abend spielen, man muss ja nicht jeden Abend ins Theater gehen. Schweeger: Ich denke, man müsste sich auch überlegen, wie viel Theater braucht die Stadt tatsächlich. Wenn man im Mai/Juni feststellt, dass weniger Menschen ins Theater gehen, warum spielt man dann nicht weniger? Weniger spielen heißt aber auch Abbruch der Kontinuität und weniger Präsenz. Zu Gastspielen kommt aber das von der Jahresarbeit erschöpfte und von der Frühjahrssonne verführbare Publikum noch. Das ist ein Event, und das weckt eher die Aufmerksamkeit. Man müsste die Programmschiene diesbezüglich vielleicht einfach etwas umändern. Goebbels: Man braucht bei der Budgetierung der Mittel auch einen größeren Spielraum für Gastspiele - auch an den festen Häusern; das sind entscheidende Impulse, die können oft nur von außen kommen; Impulse, die sich nicht nur für das Publikum, sondern für das ganze Ensemble, auf das ganze künstlerische und technische Team auswirken können. Schweeger: Das machen ja schon viele Häuser, die kommen gar nicht drum herum. Der Austausch funktioniert schon. Goebbels: Dein Haus ist eins der wenigen, die das tut. Ich kenne in Deutschland kaum ein festes Haus, das Gastspiele finanzieren kann. Das können nur die Festivals. Solange es sie noch gibt. Schweeger: Das fängt jetzt aber an. Kammerspiele München, das Thalia-Theater etc.. Das Problem mit den Gastspielen in unseren Strukturen ist aber wie du richtig sagst ein finanzielles. Das hängt z.T. an den tariflichen Bestimmungen, und außerdem musst du auch mit den Gastspielen verdienen. Gehen wir noch einmal auf die Zusammenarbeit zwischen Dir, Heiner, und André, ein. Wie ist das entstanden und was ist das Besondere dieser Zusammenarbeit? Goebbels: Es ging um eine Aufführung meines Projekts "Der Mann im Fahrstuhl". Heiner Müller hat Dich, André, für ein Gastspiel in Paris vorgeschlagen. Aber Du hattest leider keine Zeit, weil Du in einem en-suite-Betrieb warst. Wir haben unsere Begegnung dann 1991 nachgeholt mit der Uraufführung des szenischen Konzertes "Die Befreiung des Prometheus", zusammen mit Heiner Müller unter einer Autobahnbrücke in Marseille. Danach haben wir begonnen, an einer Trilogie zu arbeiten: 1993 "Ou bien le d’ ébarquement désastreux", 1998 "Max Black" und jetzt 2004 "Eraritjaritjaka". Ich kann das nur für mich sagen, aber das Besondere ist das große Vertrauen, das André mir entgegenbringt, aber auch gleichermaßen das große Misstrauen, mit dem er mich immer wieder zur Überprüfung meiner Ideen zwingt. Das ist kein Widerspruch und immer produktiv. André sagt dann gern, er möchte ja eigentlich nichts sagen, aber 'von innen heraus' habe er den Eindruck, die Szene stimme noch nicht. Und meistens hat er recht. Er hat da ein untrügliches Gespür, guten Geschmack, und große Erfahrung, weil es eigentlich sehr schwer ist, das von der Bühne aus selbst einzuschätzen. Man kann es auch ruhig offen sagen: die Widerstände, die ich auf der Bühne gegenüber einem Schauspieler immer errichte - wie in der "Glücklosen Landung" fünfzig Ventilatoren und eine Pyramide aus Aluminium, die neun Meter hoch ist - die haben Dich, André, auch zur Weißglut gebracht. Bis Du schließlich gemerkt hast, daß Du um so besser bist, je mehr Ventilatoren auf der Bühne brummen... Ich glaube aber, daß ein Schauspieler auch Widerstände braucht. Auch in der Form. Wobei André aber auch wiederum Widerstand gegen meine Form mobilisiert; wenn ich z.B. Sprachrhythmen komponiere, wie in der "Glücklosen Landung", dann hat André immer den Impuls, dagegen anzuspielen. Die Form nie einfach nur zu erfüllen, das wäre ihm langweilig, sondern sie mit dem ursprünglichen Text zu einer gemeinsamen Textur zu machen. Und ich glaube, diese gegenseitige Spannung, zusammen mit seiner großen Musikalität, lässt die Stücke funktionieren. Wilms: Heiner hat mich gerettet. Ich war verzweifelt ums Theater. Zu der Zeit, als ich ihm begegnete, war ich an einen Punkt angelangt, wo ich mich fragte, was machst du eigentlich auf einer Bühne? "Ich liebe dich. – Ich liebe Dich nicht." Machst du das, bis du stirbst? Plötzlich ist jemand gekommen, der mich in eine Form hineingestoßen hat. Und er hat mir das Leben viel einfacher gemacht. Ich musste mich einfach definieren, korrekt sein, eine Haltung haben. Meine Texte gut sagen. Aber trotzdem ist die Musik - das unnatürlichste und unpsychologischte überhaupt - ein sehr angenehmes Gerüst für mich. Man kann sagen, was man will. Aber dieses Gerüst bringt eine innere Ruhe für mich. Eine Genauigkeit... Goebbels: Aber leider nicht zu Beginn der Proben.... Wilms: Bestimmt nicht! Schweeger: Und wie kannst du dann da Deine Haltung formulieren? Entwickelst Du die aus dem Text oder aus Deiner Persönlichkeit? Ist es eine künstlerische Haltung oder ist es eine, die mit Deiner Lebenshaltung zu tun hat? Wilms: Das mischt sich immer. Schauspieler sprechen niemals sehr schlecht über ihren Beruf. Deswegen habe ich, trotz allem was er sagt, ein unglaubliches Vertrauen in seinen äußeren Blick. Das ist so. An manchem Abend denke ich, ich war schrecklich und dann sehe ich die Techniker, die uns begleiten, wir sind ja auch eine Crew... und die sagen dann, das hast Du noch nie so schön gemacht. Das ist für mich so als Schauspieler, da muss ich jemandem vertrauen können. Ich vertraue übrigens nicht vielen Menschen. Goebbels: Die Frage nach der Haltung beantwortet sich eigentlich aus der Konzeption der Stücke. Man musst keine Haltung erspielen, sondern sie ergibt sich aus der jeweiligen Konstruktion. Bei der "Glücklosen Landung" aus der Begegnung mit den Afrikanischen Musikern und diesem gigantischen Bühnenbild von Magdalena Jetelova, das ich gerade beschrieben habe; bei "Max Black" ergibt es sich aus der Tatsache, dass Du sehr viel in diesem Laboratorium zu tun hast:: Feuerexperimente, Klangexperimente, Rechenaufgaben etc.etc.... Und bei "Eraritjaritjaka" ist es die große Disziplin, die aus der Musik kommt, und das sehr präzise Spiel mit der Kamera, das den Spielraum erst mal eng macht, damit Du ihn wieder ausweiten kannst. Die jeweilige Haltung ergibt sich bei allen meinen Stücken aus ihrer Struktur und nicht aus einer Ansage. Wilms: Ich glaube, einmal hat Heiner in einem Interview gesagt, es gibt für mich keine Hierarchie auf der Bühne. Das Licht kann so wichtig sein wie der Schauspieler. Alles ist gleich behandelt. Da wird man fast ein bisschen eifersüchtig auf das Licht und den Ton. Die Gegenstände verändern sich, du musst sehr aufmerksam sein, du musst zuhören können. Viele Bühnenmenschen können nicht zuhören. Sie können spielen. Du aber musst zuhören können. Auf das Licht, auf den Ton, auf die Geräusche. Das gibt irgendwann eine Ruhe. Es ist immer ein komplizierter Prozess, natürlich. Und ich habe auch gelebt für Heiners Art. Ich glaube nicht, dass ein Schauspieler allen dienen kann. Das ist wirklich ein Unterschied in der Arbeit mit Heiner. Man lernt in der Schauspielschule, dass man alles geben soll. Sie müssen alles spielen können, sie müssen allen dienen können. Dann sind sie angeblich gut. Zadek, Ostermeier, Peymann... Dann bist du bist ein guter Schauspieler, wenn du allen dienen kannst. Ich aber kann nicht vielen dienen. Schweeger: Wenn jedes Element hierarchielos eine ähnliche Wichtigkeit hat, war das auch der Ausgangspunkt Deiner eigenen Arbeit, dass Du auch deine Musik nur im Zusammenhang mit dem Zusammenspiel von Licht, von Mensch, von Gestus, von Sprache, von Raum siehst? Goebbels: Es gibt für diese Arbeitsweise durchaus biographische Motive. Ich habe über zehn Jahre lang komponiert und an der Seite von großen Regisseuren gemerkt, wie viele Chancen verschenkt werden. Nicht nur die Chancen meiner eigenen Musik, über deren Reduktion ich natürlich immer getrauert habe. Wenn man für vier Stunden Shakespeare fünfzehn Minuten Musik macht und die dann nur in den Umbaupausen kommen, ist man als junger Komponist frustriert. Man sieht aber auch durch den Abstand, den man hat, wie viele szenische, bildhafte Möglichkeiten dabei neben den musikalischen vertan werden. Nach dieser Erfahrung war mir klar: so will ich nicht arbeiten. Deswegen versuche ich zum Beispiel, alle Elemente sehr lange in Bewegung zu halten. Ich entscheide mich zum Leidwesen meiner Mitarbeiter, zum Leidwesen von André, oft sehr, sehr spät. Andre fragt dann: "Wie willst du das jetzt haben?" und ich sage: "Ich weiß es nicht." Wahrscheinlich in der Hoffnung, dass z.B. der Toningenieur am nächsten Tag noch ein weiteres Angebot macht, und ich darauf noch eingehen kann: "Ja, Du hast recht, wir verschieben den Text noch ein bisschen. Wir verschieben den Anschluss, weil der Ton hier spannender ist." Ich versuche das möglichst lange in der Schwebe zu halten, damit alle Elemente, die Musiktheater ausmachen, zu ihrem Recht kommen können. Das Musiktheater ist ja vielleicht die größte und komplexeste Form des Zusammenspiels aller Medien. Und die Hierarchisierung sieht man nicht nur im Umgang mit den Schauspielern, wie der Filmkritiker Georg Seeßlen vor kurzem sinngemäß gesagt hat: "man sieht einer Produktion an, ob der Regisseur ein Arschloch ist." Man sieht es auch am Umgang mit den anderen Mitteln, ob sie eine Chance hatten, mitzuerzählen - oder ausgeschlossen wurden. Schweeger: Glaubst Du, dass Theater nur so funktionieren kann? Goebbels: Nur wie? Schweeger: Ja, in diesem Zusammenspiel von allen Elementen. Goebbels: Die letzten zwanzig, dreißig Jahre der Theaterentwicklung sind ja gerade dadurch definiert, dass sie - zum Glück für den Zuschauer - auch die anderen, nichtsprachlichen Mittel stark machen. Die Lichträume von Bob Wilson oder Erich Wonder, die Musik und die Abwesenheit von Text bei Marthaler, oder die Bewegung bei Pina Bausch, der Rhythmus bei Schleef usw. Das beweist ein immer größeres Zusammenspiel all dieser Möglichkeiten. Schweeger: Glaubst Du, dass das Sprechtheater weniger Zukunft hat? Goebbels: Im Gegenteil! Verblüffenderweise ist das ja kein Widerspruch. Das Sprechtheater wird besser, wenn die anderen Mittel eine Chance haben. Das wusste schon Brecht. Ich glaube, dass der Text z.B. in meinen Stücken eine ganz, ganz wichtige Rolle spielt. Gerade weil hier nicht so viel Text ist, weil er nicht in Besitz genommen, sondern dem Zuschauer angeboten wird. Und vielleicht auch, weil er sich mit anderen Mitteln messen muss. Da bin ich ganz unbescheiden. Aber man kann das nicht so einfach auf das Repertoire übertragen. Ich kann natürlich einen Klassiker nicht so inszenieren, wie ich meine Stücke erfinde. Meine Stücke entstehen in dem Versuch, den Blick auf einen Themenkomplex zu öffnen. Während die Interpretation eines vorliegenden Dramas in der Regel ja die umgekehrte Richtung hat und den Blick auf eine Interpretation hin verengt. Das interessiert mich nicht. Theater ist eine eigene Kunstform und nicht nur das Nachspielen von Dramentexten. Schweeger: Und was war jetzt die Beschäftigung? Wenn Du sagst, Du hast eine Trilogie gemacht, dann hast Du bei "débarquement" mit Texten von Heiner Müller und Joseph Conrad gearbeitet, und bei "Max Black" waren es ja wissenschaftliche Texte zum Teil von Lichtenberg und jetzt im dritten Teil Texte von Canetti, der ja für mich ein Autor des geistigen Widerstands ist. Wie siehst Du da die Verbindung, wie hat sich das eine aus dem anderen ergeben? Du sprichst ja von einer Trilogie. Goebbels: Im Nachhinein. Das wusste ich nicht vorher. Es gibt einige Gemeinsamkeiten; nicht nur, dass André Wilms in allen drei Stücken der tragende Schauspieler ist, sondern auch, dass es sich bei allen Texten im wesentlichen um nicht-dramatische Texte, um Tagebücher und Aufzeichnungen handelt. Tagebücher von Joseph Conrad über Valéry bis hin zu Lichtenbergs "Sudelbüchern". Auch jetzt sind es von Canetti nicht die großen Texte oder die Theaterstücke, sondern die kleinen Notizen, seine Aufzeichnungen. Das ist eine sehr angenehme Art von Literatur, die kurz und knapp ist, viel offen lässt und immer mit der Realität verbunden bleibt. Es waren aber immer andere Themenkomplexe: Im ersten Stück die Auseinandersetzung mit der Fremde, dem Kolonialismus; im zweiten eine Beschäftigung mit wissenschaftlicher Neugier, die sich nicht innerhalb enger Grenzen zufrieden gibt - verbunden mit theatralischen Kettenreaktionen; und jetzt bei Canetti sind es Texte, die sehr viel mit dem Anschreiben gegen Machtstrukturen zu tun haben: in Musik, in unseren Gewohnheiten, Beziehungen, usw. Alle drei Stücke sind Versuche, das Verhältnis von eigener Erfahrung und gesellschaftlichen Kräften zu begreifen; was natürlich nicht funktioniert. Deswegen enden die Stücke auch auf eigentümlich offene Art; sie stellen eher erhellende und anregende Fragen, als dass sie Antworten geben. Aus diesem Grund sind sie aber auch für die Erfahrungen der Zuschauer offen. Schweeger: Aber es ist schon so, dass es meistens Texte aus dem deutschsprachigen Raum sind? Wilms: Valéry nicht, Conrad auch nicht. Goebbels: Auch Ponge war Franzose. Schweeger: Und Canetti war eigentlich auch kein Deutscher. Und wie ist das für Dich, André? Hat es für Dich eine Bedeutung, dass es mehrheitlich deutsche Texte sind? Oder spielt das keine Rolle? Wilms:Nein, aber ich habe eine interessante Sache bei Heiner entdeckt. Wenn er mit der französischen Sprache arbeitet, erstaunt er mich. Er betrachtet die Sprache fast so, als wäre sie Klang. Goebbels: Weil ich sie nicht verstehe. Wilms:Er macht Sachen, die ein Franzose nie machen würde. Aber genau das ist interessant. Du kennst ja mein Problem mit dem Französischen. Débussy hat ja schon über das Französische gesagt, die französische Sprache ist unsingbar, die französische Sprache hat keinen Rhythmus, die französische Sprache ist nicht konkret, sie ist die Sprache der Diplomatie. Das war sie zu lange, deshalb ist sie so flach. Und der französische Zentralismus hat auch den Dialekten zugesetzt. Und in der Französischen Revolution wurdest du geköpft, wenn du zum Beispiel okzitanisch gesprochen hast, wie die Menschen im Languedoc. Ich wollte nur sagen, durch Heiners Umgang mit der französischen Sprache, entdeckt man sie selbst neu. Schweeger: Also klingt sie doch rhythmisch? Goebbels: Natürlich! Sie ist eine der musikalischsten europäischen Sprachen. Wilms: Und was die deutsche Sprache angeht: Heiner meint, dass ich sie nicht gut beherrsche. Goebbels: Ja, weil deine Sprachmelodie französisch bleibt. Als Pfälzer ist mir das Elsässische sehr nah. Und da merke ich, wie sich die Sprachmelodie, dieser Singsang oft gegen die deutsche Grammatik wehrt. Deswegen ziehe ich Dich als Franzosen vor.... Schweeger: Aber würdest Du zur deutschen Sprache sagen, sie passt nicht zu deiner Musik? Goebbels: Doch, Ich habe ja sehr viel in deutscher Sprache gemacht. Die meisten Heiner Müller Texte habe ich in deutscher Sprache komponiert. Sie verlangt aber eine andere Musik. Abgesehen von einigen wenigen Fällen - wie in der "Befreiung des Prometheus" - kann man die Texte nicht einfach übersetzen, ohne auch die Musik zu verändern. Ich arbeite ja mit gesprochener, nicht gesungener Sprache; deshalb ist der jeweilige Sprachrhythmus und die Sprachmelodie so konstitutiv für die Musik. Schweeger: Heiner Müller auf Französisch klingt ja auch ganz anders. Viel weicher, poetischer und wärmer, als es im Deutschen rüberkommt. Goebbels: Deswegen habe ich zum Beispiel in "Ou bien le débarqument désastreux", einer Arbeit mit Heiner Müllers "Herakles 2" in französischer Sprache, die harten Akzente in die Musik genommen - weil sie in der Sprache fehlten. Jetzt in "Eraritjaritjaka" ist beispielsweise die Streichquartettmusik zum großen Teil französisch und kommt gut mit der französischen Sprache zusammen, in der Du mit den Canetti-Texten arbeitest. Schweeger: Noch mal zur deutschen Literatur. Die Franzosen haben einen besonderen Blick auf die deutsche Literatur. Warum hat das so eine Bedeutung in Frankreich? Wilms: Das ist eine Riesengeschichte zwischen den Deutschen und den Franzosen. Stendhal hat, glaube ich, gesagt, es gibt keine anderen zwei Völker, die so unterschiedlich denken wie die Deutschen und die Franzosen. Die Franzosen sind fasziniert von den Deutschen. Schweeger: Worauf beruht das? Wilms: Wenn wir über das Heute sprechen, dann liegt es an der Philosophie: Heidegger! In den achtziger Jahren war es im Theaterbereich das Modell Schaubühne. Und jetzt kommt bald mit Castorf der Trash nach Frankreich. Wir haben mit dem Trash zwar noch unsere Schwierigkeiten, aber es kommt. Im Theater, bleiben wir dabei, hat es mit Brecht angefangen. Alles immer etwas verspätet, weil es ja über den Rhein musste. Schweeger: Diese Faszination in Frankreich auf die deutsche Theaterproduktion. Hat das was mit einer Konsequenz zu tun, die die Deutschen behaupten, und ihr Franzosen glaubt, nicht formulieren zu können. Wilms: Gegen unsere Oberflächlichkeit ist eine Gründlichkeit gesetzt. Es ist eine Sehnsucht nach... Also als Witz haben wir immer gesagt: "Schaubühne, Disziplin bitte!" Und wir waren beeindruckt von den Schauspielern der Schaubühne. Immer schwarz angezogen, hatten sie in den Cafés immer einen Stapel Bücher unter dem Arm, die "Ästhetik" von Hegel und so weiter. Wir wollten das auch machen, haben aber nur die Hälfte gelesen. Mein Gott, die proben ein Jahr für eine antike Tragödie, der Chor hat ein Jahr geprobt. Das ist jetzt ein bisschen lustig gesagt, aber es hat uns wahnsinnig interessiert. Schweeger: Und für Dich, Heiner, war es ein Unterschied in einer anderen Kultur, in der französischen Schweiz? Goebbels: Man muss sich erst mal dran gewöhnen, dass man morgens erst eine viertel Stunde später anfangen kann, weil sich zunächst alle küssen müssen. Und zwar, eine Besonderheit dieser Region, nicht zwei- sondern dreimal. Das kostet Zeit. Wir wurden sogar als unfreundlich und arrogant kritisiert, weil wir dachten, es sei mit einem freundlichen "Hallo" auch getan. Aber im Ernst: ich fand das System, das ich noch nicht kannte, als ich 1993 in Frankreich anfing, ich sehr angenehm. Von der Schneiderin bis zu den Schreinern und Schlossern aus den Werkstätten, sie saßen stundenlang bei den Proben zur "Glücklosen Landung" und haben sich das angesehen, angehört. Das kannte ich im deutschen Theater natürlich nicht. Da war wirkliches Interesse, sie haben sich fünfzehn Vorstellungen angeschaut. Ein solches Verantwortungsbewusstsein, Interesse und zeitlichen Luxus kannte ich aus Deutschland gar nicht. Das konnte ich erst im TAT wieder finden. Schweeger: Aber trotzdem gibt es in Frankreich weniger Theater als in Deutschland. Goebbels: Es gibt keine achtzig Opernhäuser. Schweeger: Flächendeckend ist es nicht. Als Prinzip gilt immer noch, je mehr kulturelles Angebot desto besser. Goebbels: Wir reden ja nicht über Quantität. Schweeger: André, lange hast Du nur als Schauspieler gearbeitet. Was war der Grund für Dich, auch als Regisseur zu arbeiten? Wilms: Es macht einen wahnsinnig, wenn man sich immer nur mit sich selbst beschäftigt. Als Schauspieler musst du ein Egoist sein, du beschäftigst dich nur mit dir selbst. Und irgendwann beginnst du dich mit dir zu langweilen. Was ich an der Regie schön finde, ist, wenn ich ehrlich bin, du kannst anderen sagen: "Mach doch." Und du kannst als Regisseur mehr ausprobieren, als Schauspieler kannst du im Grunde nicht viel probieren. Schweeger:Hast Du das Gefühl, dass Du bestimmt bist von dem Regisseur? Oder von dem, was er vorgibt. Wilms: Nicht nur. Aber du musst dich viel mehr auf dich selbst konzentrieren. Oder auf deinen Partner. Vielleicht sogar mehr auf deinen Partner. Und als Regisseur habe irgendwo auch Angst, aber weniger, als wenn ich spiele. Weil das Spielen ist ein komisches Leben. Jeder Tag ist ab fünf Uhr nachmittags im Eimer, du denkst schon an den Abend, danach hängst du in einer Kneipe. Es ist ein ganz komischer Rhythmus. Du bist nie im Leben. Ich bewundere die Schauspieler hier manchmal, die so viel spielen. Wenn du älter wirst, kostet es eine Menge Kraft, wenn du es ehrlich machen willst, auch Physisch. Schweeger: Und als Regisseur brauchst Du weniger Kraft? Wilms: Du probst drei bis fünf Wochen. Du kannst es besser verteilen. Als Schauspieler bist du jeden Abend damit beschäftigt. Ich habe Angst vor der Routine des Schauspielers. Manche beherrschen die Routine und sind noch sehr gut dabei. Schweeger: Gibt es einen Unterschied in den Arbeiten mit französischen und deutschen Schauspielern? Wilms: Hier sind die Schauspieler seriöser als in Frankreich. Sie arbeiten viel mehr und sie sind schlechter bezahlt. In Deutschland müssen sie viel mehr arbeiten, mit viel mehr Regisseuren, sie müssen unendlich viel Text lernen. In Frankreich dagegen hast du es als Schauspieler schwerer zu überleben, du hängst immer in der Luft, die Konkurrenz ist größer. In Frankreich mußt du dich auf dem Markt behaupten. Schweeger: Kannst Du hier mehr bewirken als in Frankreich oder ist es nur anders? Wilms: Wenn ich ganz ehrlich sein soll, habe ich wenig Hoffnung in die Regie. Goebbels: Ich weiß nicht, ob das alles eine Frage der Herkunft oder des Systems ist. Ich hatte zwar immer Glück, mit sehr guten Schauspielern arbeiten zu können. Aber ich habe auch mit vielen Nicht-Schauspielern gearbeitet, die vorher noch nie als Darsteller auf der Bühne gestanden haben. Ob Marie Goyette in "Die Wiederholung" oder Yumiko Tanaka in "Hashirigaki" oder die Musiker des "Ensemble Moderns", die inzwischen große Textrollen mit Gertrude Stein Texten in meiner Oper spielen - ich glaube, sie machen da alle eine sehr gute Figur.Wenn man einem Menschen sehr aufmerksam zuschaut und zuhört, wenn man den Darstellern nicht etwas abverlangt, das man vorher als feste Konzeption im Kopf hat, wenn man sie nicht zu einem Bild zwingt, das ihnen nicht entspricht, sondern ihnen hilft, ihre Fähigkeiten und Persönlichkeiten zu entwickeln - dann kann man mit vielen Menschen auf der Bühne auch in einer wunderbaren Weise arbeiten. Zumindest bei meinen Stücken funktioniert das, weil sie dafür offen sind. Wilms: Für mich ist das komplizierter. Schauspieler sind Schauspieler. Wenn man so viel spielt wie hier, dann sichert man sich doch ab - vor dem Regisseur, vor dem Publikum. Ich muss ihnen daher in der Probenarbeit immer was wegnehmen, sie quasi abwaschen, reinigen. Natürlich habe ich die Hoffnung, wieder zu einer Klarheit zu kommen. Das ist Arbeit. Zu einer Einfachheit zu kommen. Gefühle wie Traurigkeit neu zu entdecken, sie aber nicht auf den Text zu schmieren. Goebbels: Es gibt aber auch die Möglichkeit durch starke Konstruktionen den Blick auf die Darsteller neu zu definieren. Als ich in "Schwarz auf Weiß" einen Ausdruck gesucht habe, der unmittelbar berühren kann, habe ich dem "Ensemble Modern" Instrumente gegeben, die sie vorher noch nie in der Hand hatten: auch dem Geiger, dem Schlagzeuger, dem Pianisten zum Beispiel Blasinstrumente; dann bekommen die plötzlich so einen Moment von... Wilms: Unschuld - ist sehr schön. Goebbels: Natürlich sind sie hochvirtuos auf ihrem angestammten Instrument, das sie seit Ewigkeiten spielen. Wie André das zuvor gesagt hat, das hat dann auch vielleicht eine Art von Perfektion und Routine, die uns als Zuschauer vielleicht nicht mehr so erreicht wie zum Beispiel ein gebrochener Ton oder eine gerade nicht perfekte Intonation. Schweeger: Wobei man bei Schauspielern oft feststellt, sie arbeiten und arbeiten und dann treffen sie auf einen Regisseur und dann entfalten sie sich plötzlich. Sie brauchen den richtigen Partner. Wilms: Noch einmal zur Unschuld: Als wir mit Nono gearbeitet haben im "Ensemble Modern", hat er gesagt, spielt schlechter, spielt schlechter. Und in diesen großen Häusern erlauben wir das nicht, weil du abliefern musst. Als Schauspieler musst du dich auch wehren können. Wenn ich mit so vielen Regisseuren arbeite, muss ich mich schützen . Natürlich möchte aber jeder Regisseur, dass der Schutz runterfällt. Schweeger: Eine abschließende Frage möchte ich noch stellen. Eine kulturelle. Wir bemerken ja, dass zumindest im europäischen Raum die Kultur scheinbar nicht mehr so wichtig genommen wird. Das merkt man an manchen leichtfertigen Einsparungen aber auch am allgemeinen Bildungsniveau. Habt Ihr das Gefühl, dass sich, was Eure Arbeit betrifft, seit den sechziger, siebziger Jahren etwas verändert hat und wir in ein Stadium kommen, wo die Kunst einen anderen Stellenwert bereits hat oder ihrer Stellung verlustig wird? Heiner, hast du zum Beispiel den Eindruck, daß früher das Interesse an Deiner Kunst stärker gewesen ist? Goebbels: Nein, im Gegenteil. Ich habe eher das Gefühl, dass gegenüber jeder Art von Live-Kunst, ob das Konzerte oder Theater oder Performance oder Installationen sind, eine große Neugierde besteht. Vielleicht auch als ein Reflex gegenüber den Medien, die ja etwas sehr Totalitäres haben. Das ist für mich hier in Frankfurt aber schwerer zu beurteilen. Das sind ja Heimspiele. Aber wenn meine Stücke an Orten gespielt werden, an denen das Publikum meine Arbeit nicht kennt, dann kann ich Auskunft darüber geben, auf welche Neugierde, auf welches Interesse das trifft und zweitens, ob ein Stück funktioniert. Wenn ein Stück wie "Hashirigaki" auf dem Sydney Festival fünfmal vor vollem Haus auf große Resonanz stößt, ist das Interesse offenbar auch an diesen schwer definierbaren Formen deutlich. Man darf ein Publikum nicht unterfordern. Das tut Theater leider zu oft. Wer es nicht tut, bekommt es auch als Aufmerksamkeit zurück. Auch darf das Verständnis nicht immer restlos aufgehen, es müssen Geheimnisse und Rätsel bleiben. Darin besteht die Funktion dieser Live Künste; die Unvorhersehbarkeit, die Überraschung, das ist ja auch der Reiz des Fußballs. Ich bin kein Kulturpessimist. Deswegen sehe ich auch überall Gegentendenzen. Sogar in Wirtschaftskreisen macht man sich jetzt Sorgen über die Kulturlosigkeit des Nachwuchses und man bemüht sich um kulturelle Kompetenz bei den Management-Studenten. Schweeger: Kulturpessimismus ist nicht angesagt. Es ist nur eine schwierige Zeit, aber dafür umso aufregender. Goebbels: Die Menge des Geldes entscheidet nicht darüber, wie vielfältig die Kunst ist. Ich bedaure nur, dass im Zuge der sicher notwendigen Reduktionen in ökonomisch schwierigen Zeiten m.E. immer die falschen Entscheidungen getroffen werden. Es werden immer die Häuser geschlossen, die klein, flexibel, verantwortungsvoll, hochmotiviert, kreativ und erfolgreich sind, um die großen Tanker und ihre Verträge zu retten. Das wird nur noch eine Weile gut gehen. Fusionierungen haben In der Kunst sowieso nichts zu suchen. Dass sie nicht funktionieren, wissen inzwischen sogar die Manager von Daimler-Chrysler. Schweeger: André, Du bist kulturpessimistischer. Du wirfst mir ja vor, dass ich eine unerträgliche Gläubige bin. Wilms: Ich habe gerade in einem Buch von Heiner Müller gelesen. Er hat gesagt, Theater ist Krise. Ich bin auch nicht so pessimistisch. Ich höre von der Krise des Theaters, seit ich Theater mache. Ich bin eher Optimist bei den Sachen, so wie sie Heiner macht. Aber bezüglich des Sprechtheaters, da bin ich pessimistischer. Die großen Texte. Meine Kinder sind das beste Beispiel. Sie lernen das nicht mehr in der Schule. Sie lernen kein Latein und kein Griechisch mehr. Ich sehe die "Bourgeoisie Culturelle" nicht mehr. Eine andere Sache ist es mit der Stille. Stille wird zur Zeit als unerträglich empfunden. Das spürst du, wenn du Schauspieler bist. Das spürst du vor allem beim jungen Publikum. Wenn du einen Monolog hast, dann wird nach kurzer Zeit schon telefoniert. Oder sie ziehen sich einen Walkman an. Es herrscht eine große Unruhe, wenn es langsamer wird. Die Langsamkeit nervt die Menschen. Es ist die Tragödie des Hörens. Schweeger: Da hat sich allerdings einiges verändert. Seh- und Hörgewohnheiten unterliegen heute anderen Prinzipien durch den Einfluss von TV, MTV, Werbung, Film etc. Zum Abschluss: Derrida hat ein Buch über Gadamer geschrieben. Darin heißt es über die Kunst des Interpretierens, "zu glauben, es gäbe eine verlässliche Lesart, wäre die erste Dummheit oder der schlimmste Verrat." Goebbels: Die Engführung der Interpretation ist es ja, die das Theater so langweilig macht und es hinter den anderen Künsten ins Abseits bringen kann. Und man muss in den Theatern darauf reagieren, dass es eine berechtigte Skepsis gegenüber dem Repräsentationstheater gibt; man muss dessen Grenzen akzeptieren. Das Publikum ist klüger als man glaubt und der Blick des Zuschauers mittlerweile unglaublich geschult - es kann bei CNN vier Meldungen gleichzeitig verfolgen. Es gibt mittlerweile auch wunderbare Vorschläge junger Choreografen, Performancegruppen, Theatermacher, wie man gerade aus dieser Skepsis zeitgenössische darstellende Kunst entwickeln kann. Theatralität findet sich auch in alltäglichen Beobachtungen. Das macht oft sogar mehr Spaß....