08/2004, Thomas Mießgang, Opernwelt
Interview (de)

"Kunst verträgt keine Hierarchien"

Interview geführt im Oktober 2003, in: Opernwelt 08/2004

Der Komponist Heiner Goebbels, ein Grenzgänger zwischen Jazz, Rock, Klassik und Musiktheater über seine Arbeit mit Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern und die Zukunftsperspektiven einer Musik die quer zur Tradition steht.

Thomas Mießgang: Heiner Goebbels, Sie standen in den siebziger Jahren der Frankfurter Sponti-Szene nahe und haben in diesem Milieu eine undogmatische, jazzbeeinflußte Musik mit politischer Perspektive gemacht. Ihre erste wichtige Gruppe hieß Sogenanntes linksradikales Blasorchester und eine Duo-Platte aus dieser Zeit trug den Titel „Vier Fäuste für Hanns Eisler“. Heute arbeiten Sie u.a. mit Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern. Eine ziemlich ungewöhnliche Karriere. Wie erleben Sie den Milieuwechsel?

Heiner Goebbels: Mich belustigt diese Art von Fragen, die mir ja immer wieder gestellt werden, ein wenig. Zum einen war ich schon damals in mehreren Kulturen zu Hause und habe neben meinen politischen Ambitionen und neben Jazz und Blasorchester in der Hochkultur komponiert: fürs Schauspielhaus, fürs Schillertheater. Zum anderen sehe ich zwischen den beiden Zeiten eher das Gemeinsame als das Trennende; einen gradueller Prozess, zu dem auch gehört, daß wir schon mit dem Sogenannten Linksradikalen Blasorchester in der Berliner Philharmonie gespielt haben. Auch meine langjährige Arbeit mit dem Ensemble Modern, einem ausgewiesenen Klangkörper der Neuen Musik, spielt eine große Rolle auf diesem Weg Die alten Klischees – hier der freigeistige Jazz und da die muffige verzopfte E-Musik – funktionieren einfach nicht. Bei den Berliner Philharmonikern ist heute das Durchschnittsalter niedriger als beim Ensemble Modern. Da gibt es einen 18-jährigen Bassisten aus Venezuela und viele Musiker, die ganz andere Biographien haben als der durchschnittliche Klassikinterpret.. Simon Rattle hat ja mit den Berlinern meine Komposition „Surrogate Cities“ einstudiert und ich war verblüfft, wie schnell die Musiker sich dieses Stück einverleibt haben. Das lag nicht nur an der begeisterungsfähigen Art des Dirigenten, der dieses Werk voll und ganz in seine Hände genommen hat; „Surrogate Cities“ bot offenbar Klang- und Gestaltungsmöglichkeiten, auf die die Musiker gewartet hatten.

Seit Karajan scheinen die Berliner Philharmoniker einen weiten Weg zurückgelegt zu haben.

Sicher, und sie gehen diesen Weg sehr bewusst. Natürlich gibt es andere Herausforderungen, wenn jemand wie ich mit diesem Orchester arbeitet. Ein Holzbläser, der hauptsächlich ein Repertoire aus dem 19. Jahrhundert spielt, hat zunächst vielleicht einen besonders weichen Ansatz. Wenn er aber ein hervorragender Musiker ist, und da gibt es nur hervorragende Musiker, dann schafft er es innerhalb weniger Tage, eine Attacke zu produzieren, die für die relativ harte und perkussive Rhythmik in meinen Stücken wichtig ist.

Klassische Orchester können also heute problemlos rocken und jazzen?

Merkwürdigerweise haben es sehr gute Orchester, die in konventionellem Repertoire zu Hause sind, leichter mit einer rhythmisch pulsierenden Musik, wie ich sie schreibe. Sie grooven mehr, weil sie als Orchesterkörper gewohnt sind, zusammen zu wirken. Damit haben Spezialisten der Neuen Musik weniger Erfahrung. Es gibt aber Bereiche, wo man bei Null anfangen muß zum Beispiel im Umgang mit Elektronik. Eine der klügsten Entscheidungen des Ensemble Modern war es, sehr früh schon den Toningenieur zum Ensemblemitglied zu machen. Denn ein Tontechniker hat heute mehr Einfluß auf das gesamte Klangbild als ein Dirigent – vor allem, wenn er schlecht ist. Man muß das also ernst nehmen und bei jeder Probe gleich einmal eine halbe Stunde Soundcheck einrechnen. Hier hat das Ensemble Modern wirklich weltweit Pionierarbeit geleistet.

Verstehe ich Sie richtig: Die altehrwürdigen Berliner Philharmoniker werden elektrisch verstärkt, wenn Sie Ihre Stücke spielen?

Natürlich, in meinem Stück „Surrogate Cities“ wird jedes Instrument mikrophoniert. Wie in allen meinen Kompositionen. Nicht, um lauter zu sein, sondern um eine Trennschärfe zu erzielen.
Die traditionellen Konzertsäle sind alle gebaut, um Klänge zu verschmelzen; Stockhausen würde sagen, es sind 'Mono-Räume'. Meine Musik, die eher auf dem Hören von elektrisch verstärkten Konzerten und von Schallplatten aufbaut, strebt aber eine Transparenz der Klänge an. Ich möchte die Oboe nicht mit dem Schlagzeug zusammenwachsen lassen, sondern jedes Instrument einzeln abmischen können.

Die Idee eines 'Klangregisseurs' kommt ja vom Mann am Mischpult in der Rockmusik, der eine Band gut oder schlecht klingen lassen kann. Vielleicht ist hier eine wichtige Schnittstelle, die bei den ewigen Musiklehrerdebatten über die Primitivität des Rock und die Komplexität der E-Musik übersehen wurde. Die Innovation der elektrischen Musik liegt ja nicht in ihrer strukturellen Vielschichtigkeit, sondern im Anschluss des Musikers an ein elektrisches System, das ihm Vergrößerungen des Selbst ermöglicht und dem Publikum 'Ganzkörpermassagen' beschert. Vielleicht sollte man über zeitgenössische Musik nicht nur in den Parametern der melodischen und harmonischen Raffinesse diskutieren, sondern auch den Aspekt der 'Soundpolitik' berücksichtigen.

Das ist eigentlich der wesentliche Grund, warum ich auf einer Mikrophonierung des Orchesters bestehe. Ich brauche die Trennung des Tons vom Bild, weil die mich zusätzlich stimuliert. Der verirrte Klassikhörer ist zunächst vielleicht einmal verwirrt: Die Violinen sitzen doch links, aber ich höre sie von rechts, da stimmt doch was nicht. Genau das interessiert mich: Etwas zu sehen, was nicht mit dem Ton identisch ist. Da kommt eine Distanz, eine Entfernung ins Spiel, die für den Zuschauer produktiv sein kann, weil sie ihm Spielräume und Entdeckungen ermöglicht. Weil nicht Alles mit Allem identisch ist. Auch das Klischee, dass man durch die elektrische Verstärkung an Dynamik verliert, ist falsch. Das Gegenteil ist der Fall: Man kann leise Dinge hörbar machen, die sonst oft untergehen und das paradoxe Nebeneinander von Nähe und Ferne, von Lautstärke und Stille auskosten.
Ich glaube, man hat in der zeitgenössischen Musik zu lange ausschließlich auf die Komplexitätskarte gesetzt, ohne das eigentliche Kriterium von Kunst zu bedenken: Das Wesen der Kunst ist doch, dass sie, obwohl ihr Ursprung sehr unwahrscheinlich ist und ihre Details sehr komplex sind, uns in einer Form gegenübertritt, die Einfachheit und Geschlossenheit vermittelt.

Trotz aller Experimentierlust steht den Orchestern aber auch heute noch ein Dirigent vor. Und der Mann mit dem Taktstock ist für viele, vor allem links orientierte Musiker, eine archetypische Hassfigur. Simon Rattle wurde ja vom Feuilleton zum Erben der großen 'Pult-Diktatoren' des vergangenen Jahrhunderts geadelt. Wie kommen Sie mit dem Mythos des Dirigenten zurecht?

Rattle ist für mich vor allem deshalb ein zeitgenössischer Dirigent, weil er die Spielräume der Musiker mit einbezieht, sie nicht autokratisch beherrscht - das ginge auch gar nicht -, sondern mit der Selbstverwaltung des Orchesters sehr verantwortlich umgeht. Er ist an kreativen Angeboten interessiert und er versteht den Prozeß der Musikerarbeitung als gemeinsamen. Dazu kommt aber noch, daß es in meinen Stücken noch andere Instanzen neben Dirigenten und neben den Musikern gibt: zum Beispiel den Sampler in „Surrogate Cities“, der einen festen Puls markiert, auf den der Dirigent keinen Einfluß hat. Mir geht es darum, der lebendigen Agogik des Orchesters einen Widerstand entgegenzusetzen, um zu signalisieren: Es gibt Kräfte, deren wir nicht Herr werden können. Da lassen sich natürlich gedankliche Verbindungen zu maschinellen Rhythmen von zeitgenössischen Tanzmusiken wie Hip Hop oder Techno herstellen. Ich möchte das gar nicht eindimensional als Unterwerfung unter die Maschine interpretiert wissen, sondern durchaus auch als Groove, auf den man Lust hat. Andererseits manifestiert sich im unerschütterlichen Puls des technischen Geräts natürlich auch eine normative Kraft, die auf die Welt außerhalb der Konzertsäle verweist. Ich möchte, dass die Musik nicht davor geschützt bleibt, sondern auch im Klangbild gesellschaftliche Strukturen sichtbar werden.
Bei meiner Inszenierung des szenischen Konzertes „Eislermaterial“ mit dem Ensemble Modern war das gestalterische Prinzip von solchen Überlegungen inspiriert: Es gibt keinen Dirigenten und die Musiker sitzen so weit voneinander entfernt, dass ihnen die Verständigung schwer gemacht wird. Außerdem müssen sie über Themen Eislers improvisieren und konnten die Arrangements gemeinsam mit mir erarbeiten. Sie bekommen also nicht einfach Noten vorgesetzt, die sie runterspielen. Und nur so konnte es gelingen, daß sich die Musiker die Musik und die Haltung Eislers regelrecht einverleiben. Außerdem bleibt das Zentrum der Bühne leer – und damit eine wichtige Projektionsfläche der Wünsche des Publikums frei. Wenn etwas so Struktur werden kann, dann hat es auch im Sinne eines politischen Konzertes eine Chance.

Das ist ein sehr interessanter Punkt, denn in der freien Improvisationsmusik und in manchen Sektoren des Rock wollte man ja genau weg von den Strukturen: Alle Herrschaftsinstanzen und musikalischen Vorschriften beseitigen, um dem Individuum die freie Entfaltung seiner kreativen Fähigkeiten zu ermöglichen.

Ich war nie ein Freund der Ideologie einer völlig freien Improvisation. Freie Entfaltung ist für mich nicht, ins Blaue zu spielen, sondern sich mit einem strengen Material auseinandersetzen zu können. Das habe ich in den siebziger Jahren mit Improvisationen über Kompositionen von Hanns Eisler versucht. In den Augen der Free Jazzer war das ein Sakrileg. Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Auftritt beim Frankfurter Jazzfestival im Jahr 1978. Da kam Peter Brötzmann, der archetypische Free Player, hinter die Bühne und sagte zu uns: Na Jungs, habt ihr anständig geübt? In diesen Worten manifestierte sich die ganze Herablassung gegenüber unserer Art von strukturierter Improvisation. Doch die Geschichte hat ja gezeigt, dass das sogenannte freie Spiel selbst wieder Klischees hervorbringt; mir schwebt eher eine 'Ästhetik' vor, die das Gesetz, von dem sich das Individuum abhebt, nicht ausklammert. Wie bei dem brasilianischen Samba- und Bossa Nova-Musiker Joao Gilberto, wenn er wie ein Metronom den Rhythmus auf der Gitarre unerbittlich durchspielt, obwohl er mit der Stimme ständig die Takte dehnt und beschleunigt, um ja nur nicht mit seinen Händen zusammen zu sein. Wenn man wie in der Neuen Musik das Taktsystem oder einen Puls nicht mehr mit den Hörenden kommuniziert, sondern alle rhythmischen Signale sich in Einzelereignisse verwandeln, weil nur noch der Dirigent und die Musiker den Takt kennt, dann verschenkt man ein zentrales Vergnügen: den Genuß, die Abweichung zu erleben. Die ungebremste Entfaltung des Individuellen läuft für mich ins Leere.. Für mich ist das privat, es gehört in den Übungskeller und nicht auf die große Bühne.

Ein bisschen 'Zwang' muß also sein, wenn zeitgenössische Musik kreativ sein soll?

Die ist ja leider voll davon. Die braucht im Gegenteil ein bißchen laid back-feeling. Nein , es geht in Musik und Theaterzusammenhängen wohl eher darum, sich selbstverantwortliche und kreative Bedingungen zu schaffen. Kunst verträgt keine Hierarchien. Das ist die einzige Strategie, die Zukunft hat. Ich halte es da mit dem Film- und Theaterkritiker Georg Seeßlen, der vor kurzem gesagt hat: Man sieht einer Produktion an, ob der Regisseur ein Arschloch ist oder nicht, ob die künstlerischen Ergebnisse durch Einschüchterung von Musikern oder Schauspielern erzielt wurden oder durch ein Freisetzen der kreativen Kräfte aller Beteiligten. Ich würde noch weitergehen: Man sieht auch, ob einem Regisseur die Geduld für eine anständige Beleuchtungsprobe ausgegangen ist oder nicht. Es tut einer künstlerischen Arbeit nie gut, wenn alle Mittel nur unter der strengen Schwerkraft einer hierarchisch organisierten Produktionsform zum Einsatz kommen. Wie ist ein Orchester organisiert? Wie geht ein Dirigent damit um? Wie hermetisch und autokratisch schützt sich ein Regisseur vor den Einfällen der anderen? In der Beantwortung dieser Fragen liegt das größte künstlerische und politische Potential.

Wenn wir über Innovation in der Musik sprechen, dann hätte Otto Normalverbraucher noch vor 30 Jahren gesagt: Was am hässlichsten klingt, ist am modernsten. Heute ist eine Begriffsbestimmung von Avantgarde viel schwieriger geworden. Die Kuschelklänge von Philip Glass gelten als Ausdruck des Zeitgenössischen, während ein Verfechter der strengen Atonalität wie Helmut Lachenmann eher schon wie ein Nachzügler aus einer vergangenen Epoche wirkt. Welche Kriterien haben wir überhaupt für den Fortschritt in der Musik?

Ich habe vor kurzem in Hellerau eine Musiktheaterproduktion des japanischen Komponisten Tetsuo Furudate gesehen, die gleichermaßen hässlich wie schön war und genau mit dieser Frage zu tun hatte. Ein Lichtdesigner, ein Sounddesigner, ein Sprecher und Furudate selbst realisierten zusammen einen Abend über einen Text von Edgar Allan Poe. Sie haben zwei Dinge geschafft: Zum einen waren alle so stark miteinander vernetzt, dass das Licht manchmal den Ton produzieren oder der Ton das Licht ansteuern konnte. Kein Medium wurde auf eine rein dienende Rolle beschränkt. Zum anderen gelang es ihnen, das Ganze in einer reduzierten Ökonomie von Raumeroberung, Klangentwicklung, von musikalischer Architektur zu realisieren. Dieser Abend brachte das Publikum dazu, neu über Musik nachzudenken: Der erste musikalische Zusammenklang kam erst nach 30 Minuten dunkler Geräusche, später aber gab es Klangflächen, die kaum mehr musikalisch zu orten waren, sondern nur noch physiologisch: Tiefe, körperliche Töne in einem Frequenzbereich jenseits des menschlichen Gehörs. Alle Sinnesorgane der Zuschauer waren bei dieser Produktion gefordert, man konnte es sich nicht in einem stilistisch abgesicherten Territorium gemütlich machen. Darin liegt für mich eine Antwort auf die vorige Frage: Ich glaube, dass wir uns zunehmend langweilen, wenn wir uns in den engen Sparten ausdifferenzierter musikalischer Systeme bewegen. Ob das das ausgefuchste Violin-Solo, der Noise-Keller oder eine hochartifizielle atonale Gesangslinie ist – alles erschöpft sich, wenn es sich nur in den von künstlerischen Blockwarten bewachten Stil-Ghettos abspielt. Die Musik der Zukunft wird quer dazu liegen: Quer zu den etablierten Genres und quer zu den Institutionen, die damit nicht umgehen können und darauf nicht vorbereitet sind.

Haben die Konservatorien und Musikakademien vielleicht gar kein Interesse daran, die alten, ausgetretenen Pfade zu verlassen?

Sie sind dazu noch nicht in der Lage. Ich unterrichte selbst am Institut für Angewandte Theaterwissenschaften der Universität Gießen und bei meinen Kooperationen oder auch Konfrontationen mit Professoren anderer Hochschulen erlebe ich immer wieder, wie hermetisch die Gattungen voneinander getrennt werden; wie ausschließlich die Leute mit der Schwerkraft ihres jeweiligen Handwerks und mit dem Vorbereiten auf den jeweiligen Markt beschäftigt sind, sodass überhaupt nichts entstehen kann, was darüber hinausweist oder im vorhin beschriebenen Sinne quer liegt. Im Zusammenhang mit einem "Festival der jungen Talente" machten wir einen Gang durch die Musikhochschule in Frankfurt. Da arbeiten zum Beispiel nebeneinander Schauspieler, Sänger und Tänzer und man sieht, dass sie ausgewiesene Spezialisten für ihren jeweiligen kleinen Bereich sind, aber nichts miteinander zu tun haben. Man sieht das schon, wenn man die Hände betrachtet: Die expressiven Gesten der Schauspielerhände gegenüber den ritualisierten Bewegungen der Sänger gegenüber den artifiziellen Bewegungsformen der Tänzer. Nicht einmal auf der Ebene der Hände kann man sich eine Verständigung vorstellen. Die Institutionen bauen – symbolisch gesprochen – immer noch Ausbildungskäfige, deren Wände undurchlässig sind, während die Kunst längst an ganz anderen Schnittstellen arbeitet. Bei mir müssen die Musiker singen und tanzen, bei William Forsythe die Tänzer sprechen und Texte schreiben und bei Christoph Marthaler die Schauspieler vierstimmig singen können.

Heiner Goebbels, Ihr langer Marsch durch die Institutionen, wenn ich es ein wenig sarkastisch formulieren darf, ist ja kein Einzelfall. Der bislang nicht sonderlich fortschrittlich gesinnte Wolfgang Wagner hat den Bürgerschreck Christoph Schlingensief als Opernregisseur auf dem Grünen Hügel verpflichtet und die Salzburger Festspiele holen sich Leute wie den Bilderstürmer John Zorn und lassen Rockbands am Domplatz aufspielen. Hat der klassische Betrieb ein Repertoire- und Imageproblem?

Er hat ein Nachwuchsproblem. Ich war ja mit den Berliner Philharmonikern auf Tournee und wenn man bei den normalen Abonnementkonzerten in die Säle schaut – ganz egal, ob in Salzburg oder Berlin -, da ist das Publikum hoffnungslos überaltert; man sieht praktisch nur graue Köpfe. Das ist bei meinen Konzerten, auch wenn ich schon selber seit Jahren graue Haare habe, glücklicherweise anders. Doch es genügt nicht, das Repertoire zu ändern, der ganze 'Auftritt' muß neu konzipiert werden: Die Ankündigungen müssen andere Wege gehen..und auch über die Preise muß man sich Gedanken machen. Wenn ich „Surrogate Cities“ mit einer Eintrittskarte für 200 Euro anbiete, kann ich nicht erwarten, dass die Jugend zahlreich ist.

Nicht nur die Klassik ist eingerostet, auch Rock und Jazz, die einst als frische Ideenbringer geschätzt wurden, kochen meist nur noch alte Rezepte auf. Wenn man im Musikfernsehen herumzappt, sieht man vor allem Hits aus den sechziger und siebziger Jahren, die ein wenig modernisiert wurden. Finden Sie in der Populärkultur noch Inspiration für Ihre eigene Arbeit?

Heute macht eine ganz andere Generation Musik, für die der Computer und die Elektronik Selbstverständlichkeiten sind. Wenn die sich über Softwareprogramme wie Max hermachen, dann erschaffen sie mit Leichtigkeit Klänge, die man so noch nicht gehört hat. Mich interessiert das vor allem da, wo bestimmte Filtertechniken radikalisiert werden: Wenn aus einer Snare Drum ganz langsam weißes Rauschen wird oder eine Stimme sich per Granularsynthese in Vogelzwitschern verwandelt. Solche drastischen, aber technisch hochkomplexe und dennoch nachvollziehbare Prozesse sind für mich Bausteine zu einer neuen Grammatik der Musik.

Wie wird es mit der Musik weitergehen? Werden die 'Arschlöcher' gewinnen oder die Freidenker die Traditionen und Klischees aufbrechen wollen?

Es gibt noch eine starke Polizeimentalität von Betonköpfen, die ihr Renommé und ihre Pfründe gegen den Ansturm des Unorthodoxen verteidigen. Wichtige Komponisten waren Meister der Machtpolitik, die sich die Verfügungsgewalt in ihrem jeweiligen Land gleich über mehrere Institutionen gesichert hatten und damit ihre Vorstellungen von fortschrittlicher Musik monopolisieren und durchsetzen konnten. Nicht alle waren dabei so erfolgreich wie Pierre Boulez in Frankreich. Das ist jetzt ziemlich vorbei. Es gibt noch einige adornitische Kritiker, die das Geschäft weiterbetreiben. Auch als ich vor zehn Jahren in die Akademie der Künste Berlin aufgenommen wurde, hat sich mancher Kollegen mit Händen und Füßen dagegen gewehrt und sah darin schon den Untergang der Akademie. Aber so etwas wird einem natürlich nicht ins Gesicht gesagt, sondern man erfährt es nur hinter vorgehaltener Hand. Es gibt in den Institutionen und den Köpfen immer einen großen Wunsch nach Sicherheit und Vereinfachung. Dialektische Komponisten wie Hanns Eisler, die Widersprüche aushalten, "entzückende Widersprüche" geradezu genießen konnten, sind leider selten.