7 January 2004, Tim Gorbauch, Frankfurter Rundschau
Interview (de)

Zurückhaltend bestimmt

Der Komponist Heiner Goebbels über den Dramatiker Heiner Müller, der am 9. Januar 75 Jahre geworden wäre

Sie sind in Ihren Arbeiten (besonders in denen der 80er jahre, frühen 90er jahre) immer wieder zu Texten von Heiner Müller zurückgekehrt.

'Zurückgekehrt' trifft es; ich hatte ja nie vor, mich nur mit seinen Texten zu beschäftigen. Ich war jedesmal wieder auf der Suche nach anderen Texten anderer Autoren, habe aber eine bestimmte Qualität und Voraussetzung für meine Arbeit immer wieder bei Heiner Müller gefunden.

Was macht Müller für Sie so interessant?

Ob "Der Mann im Fahrstuhl", ob "Prometheus" oder "Herakles 2": das sind nicht nur kluge, politische und humorvolle Metaphern; diese Texte erzählen nicht nur, sondern sind auch das, was sie erzählen - mit allen Mitteln. Immer ist es das 'Wie er erzählt', was mich fesselt und das ich mit Musik den Zuschauern/Zuhörern transparent machen möchte.

Können Sie dieses "wie er erzählt" genauer beschreiben?

Zum Beispiel gibt es in der "Befreiung des Prometheus" einen endlos verschachtelten Satz, der wegen seiner vielen Nebensätze mindestens genauso schwer zu 'nehmen' ist wie der Berg, auf dem der gefesselte Prometheus befreit werden soll. Es gibt viele Beispiele. Das unterscheidet ihn von anderen Theaterautoren und reiht ihn ein in die Reihe großer Schriftsteller. Gertrude Stein, mit deren Texten ich in den letzten Jahren oft gearbeitet habe, hat einmal gesagt: sie vertraue mehr der Grammatik als den Worten. Das geht mir auch so und das finde ich bei Heiner Müller.

Anderen fällt besonders das Schockierende der Sprache auf (Gerhard Stadelmaier nannte ihn in der FAZ einmal "den begabtesten Horrorfilmer unter den deutschen Dramatikern"), Ihnen die Grammatik. Wie wichtig war/ist Ihnen die inhaltliche Seite Heiner Müllers?

Das ist die Substanz. Immer wieder zum Beispiel ist es das Arrangement mit dem Status Quo: bei Prometheus, der längst den Adler liebt; oder beim Angestellten, der die Zeit lieber in einem verrückt gewordenen Fahrstuhl verbringt als auf einer unbekannten Strasse in Peru. Aber das erzählt sich selbst. Der Text versteckt ja nichts und der Leser ist nicht dumm. Meine Arbeit hat dann einen Sinn, wenn es mir gelingt, das Vergnügen des Lesens auch ins Hören oder Sehen zu übersetzen und dabei vielleicht die 'Lektüre' zu intensivieren und zu ergänzen.

Und wie wichtig war Müller selbst der Inhalt?

Müller ging davon aus, das utopische Element könne auch in der Form, sogar in der Formulierung liegen , aber es gibt bei ihm keine formalen Spielereien. Der Inhalt ist immer die Vorraussetzung, auch wenn ihm nichts an Bekenntnissen lag, und er gerne auf alles Selbstverständliche und Affirmative verzichtet hat. Deswegen hat es sich auch in den zahlreichen Interviews lieber selbst widersprochen, als sich zu wiederholen.

Bei öffentlichen Auftritten las Müller seine eigenen Texte mit einer nüchternen, fast monotonen Stimme, die sich aller Emotionalisierung verweigert. Ist das die Art, wie auch Sie Müller lesen möchten?

Das ist e i n e mögliche Art, und zunächst ein Vorschlag, wie man Texte als "Angebot" verstehen kann: sie nicht den Hörern dadurch wegzunehmen, daß man sie beim Sprechen vereinnahmt, sondern sie o f f e n zu halten. Er läßt ja nicht die Interpunktion bei seinen Texten deshalb weg, damit sie von den Schauspielern wieder eingebleut werden. Und wer seine Sätze emotionalisiert, privatisiert auch ihre Bedeutung. Mir ist es aber wichtig, daß in ihnen eine gesellschaftliche Erfahrung liegt.

Was haben Sie für Ihre Arbeit als Komponist/Regisseur von Müller gelernt?

Daß ich mich auch seiner Musikalität, seinem Rhythmus anvertrauen kann. Bob Wilson hat seine Art zu lesen einmal mit der Musik von Bach verglichen - vermutlich weil sie die Struktur der Texte so offen legt.

Und über die Arbeit hinaus?

Ich habe seine zurückhaltende Bestimmtheit bewundert, die auch für seine späten Inszenierungen gilt.

Was ist Müllers Aktualität heute, acht Jahre nach seinem Tod, 13 jahre nach der Wiedervereinigung? Oder ist das Zeitmaß, das diese Frage andeutet, völlig falsch?

Ich habe Müller tatsächlich immer als großen Autor geschätzt und nicht als DDR-Dramatiker. Seine Texte gehen über die Situation, in der sie entstanden sind, weit hinaus. Das war auch überdeutlich, wenn ich mit seinen Texten in Japan, Brasilien, in der Türkei oder den USA unterwegs war. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, das auch hier zu überprüfen.