11/2002, Rolf Thomas, Jazzthetik
Interview (de)

Wenn Eisler mit den Beach Boys surft

Komponist und Regisseur sind die beiden Berufe, mit denen die zahlreichen Tätigkeiten von Reiner Goebbels, der im August 50 Jahre alt geworden ist am häufigsten bezeichnet werden. Angefangen hat seine lange Karriere jedoch als Musiker im so genannten Linksradikalen Blasorchester. Danach spielte er lange im Duo mit Alfred Harth, im Art-Rock-Quartett Cassiber und begann, immer öfter Musik fürs Theater zu schreiben. Längst ist Goebbels einer der gefragtesten Komponisten für zeitgenössische Musik geworden. Das zeigt nicht zuletzt das in diesen Tagen im Berlin Henschel Verlag erschienene Buch Heiner Goebbels - Komposition als Inszenierung in dein seine Arbeit aus vielen Perspektiven beleuchtet und analysiert wird, auch aus seiner eigenen. Bei ECM ist darüber hinaus die CD Eislermaterial erschienen, Goebbels' Hommage an Hanns Eisler, die er mit dem Frankfurter Ensemble Modern in Szene gesetzt hat.
Gründe genug für ein längeres Gespräch.

Nein zu peinlichen Logos und gestrickten Pullovern

Rolf Thomas: Zu Ihren zahlreichen Tätigkeiten ist seit drei Jahren noch eine hinzugekommen. Sie sind neuerdings auch Professor für Theaterwissenschaft in Gießen. Wie sind Sie da hingeraten?

Heiner Goebbels: Auch da bin ich über produktive Umwege hingekommen. Das ist eine Konsequenz des interdisziplinären Ansatzes, der dort verfolgt wird. Es geht um eine theoretische Reflexion des zeitgenössischen Theatergeschehens, aber gleichzeitig auch um praktische künstlerische Erfahrung von verschiedenen Seiten her. Eine Ausbildung, die versucht, auf die zunehmend wachsende Komplexität im Theater vorzubereiten, kommt um die Verknüpfung von Theorie und Praxis nicht herum. Ich finde, man sollte Schauspieler auch nicht vor theoretischen Erwägungen schützen. Ich kam dahin, weil ich selbst einen sehr umständlichen Weg zum Theater gefunden habe. Ich habe zuerst fürs Theater nur komponiert und mich dann zurückgezogen, weit ich vom Verschenken der Möglichkeiten enttäuscht war. Ich habe dann versucht, auf dem akustischen Terrain über ein neues Verhältnis von Sprache und Musik nachzudenken. Ganz langsam habe ich mit szenischen Konzerten zum Theater zurückgefunden. Dann kamen das Institut und die Studierenden dort auf mich zu. Es war wahrscheinlich wichtig, dass ich nicht nur gute CDs produziert habe oder interessante Stücke, sondern dass es mich auch noch interessiert hat, darüber nachzudenken, mit welchen Mitteln das passiert.

Rolf Thomas: Nun ist eine Theateraufführung im Gegensatz zu einem Konzert beispielsweise oft eine künstliche Situation, bei der das laute Deklamieren eines vorgegebenen Textes leicht als unangemessen empfunden werden kann. Wie gehen Sie mit diesem Dilemma um?

Heiner Goebbels: Ich komme eigentlich von der bildenden Kunst zum Theater und versuche, auf dem Theater das zu machen, was ich ertragen kann und all das wegzulassen, was ich für bescheuert oder ausgedacht hatte. Wenn ich all das weglasse, dann kommen ein paar Arbeiten zustanden, in denen Musiker sich wie normale Menschen bewegen oder Schauspieler eben nicht die Figuren denunzieren müssen oder, was vielleicht ein bisschen konservativ klingt, nicht rumbrüllen oder nackt auf dem Boden herumrobben müssen. In meinen Arbeiten soll Theater tatsächlich ein utopischer Ort sein, wo man etwas sieht, was man so noch nicht gesehen hat. Das ist der Anspruch an eine Qualität, auf die sich sehr viele Theatermacher leider nicht einlassen. Die meisten reduzieren altes auf bekannte Bilder und alte Texte auf möglichst psychologisch motivierte Figuren. Das finde ich entsetzlich langweilig, erniedrigend und bevormundend, und damit möchte ich nichts zu tun haben. Diese Art von Theater verabscheue ich. Für mich ist Theater eher Live-Kunst, an der man als Zuschauer teilhaben kann. Ein Konzert ist aber auch ein szenisches Ereignis, und wenn man nicht darüber nachdenkt, wie man das beleuchtet oder welche peinlichen Logos beim Jazzfestival im Hintergrund herumhängen oder welche gestrickten Pullover die Bassisten tragen, dann finde ich das zu wenig. Jedes Konzert hat ja auch eine große optische Dimension, und ich kann sie als jemand, der gerne schaut, nicht ausschließen. Ich kann nicht sagen, ich tu jetzt so, als guck ich nicht hin und merke nicht, was für ein geschmackloses Kostüm die Sängerin trägt. Das kann man alles zum Bestandteil seiner Erwägungen machen, wenn man dafür ein Auge hat. Deshalb inszeniere ich auch meine Instrumentalstücke zumindest mit irgendeiner Art von gestaltetem Licht.

Eisler hätte gefallen

Rolf Thomas: Auf Ihrer neuen CD Eislermaterial, einer Inszenierung, die seit vier Jahren erfolgreich aufgeführt wird, haben Sie Material von Hanns Eisler neu zusammengestellt und vom Ensemble Modern interpretieren lassen. Wie hoch ist der Anteil des Komponisten Heiner Goebbels dabei?

Heiner Goebbels: Es ist altes Eistermaterial. Wenn man es aber vergleicht mit anderen Eisler-CDs, die man kaufen kann, merkt man, dass es sich doch sehr davon unterscheidet. Ich hatte den Auftrag, zu Eislers 100. Geburtstag ein Stück zu komponieren. Natürlich ist der erste Reflex, etwas Eigenes zu komponieren, bei dem die Erfahrung, die man mit Eisler hat, auftaucht. Dagegen habe ich mich sehr gesträubt, einfach aus der Verehrung für das Material, das Eisler komponiert hat. Das halte ich schon aus rein körperlichen Gründen für eine sehr gelungene Verbindung aus Musik und politischem Anspruch. Deswegen hielt ich es für besserwisserisch, wenn ich das jetzt nur heranzitiere. Ich wollte eigentlich einen Abend schaffen, der durch seine innere Anlage es schafft, nicht nur ein einmaliges Geburtstagskonzert zu sein, sondern etwas mitzuteilen von dieser Identität zwischen Musik und Politik, die Eisler hergestellt hat. Es war wichtig, mich selbst dabei zurückzuhalten. Ebenfalls wichtig war, dass die Musiker sich nicht einfach hinstellen und etwas aufführen, sondern dass sie es sich einverleiben. Das hätte Eisler glaube ich auch sehr gemocht. Er hat ja Dirigenten gehasst, weil sie ganz viel von der Verantwortung der Musiker wegnehmen. Ich wollte, dass die Musiker das zu ihrer eigenen Sache machen und das habe ich auf dreifache Weise versucht zu erreichen. Zum einen habe ich sie einbezogen in die Art des Arrangements. Ich habe zum Beispiel Klavierlieder als Klaviernoten hingestellt und gesagt, komm, jetzt arrangieren wir das mal für Holzbläser. Das heißt, die Musiker hatten nicht nur ihre Stimme da stehen, sondern sie hatten alte Stimmen da stehen und das hat mir ermöglicht, den Dirigenten wegzulassen. Als zweiten Schritt habe ich es ihnen sehr erschwert, denn ich habe sie auf eine Weise auf die Bühne gesetzt, wie es Musiker eigentlich nicht akzeptieren würden, nämlich an die drei äußeren Ränder eines leeren Bühnenraums. Außerdem habe ich die Kommunikation auch dadurch erschwert, dass ich die Instrumentengruppen getrennt habe, zum Beispiel sitzt der Cellist vorne links, der erste Geiger ganz woanders und die Bratsche hinten, das heißt, die haben einen Riesenabstand voneinander. Wenn es jetzt, wie es bei Eisler öfter vorkommt, kleine Streichensembles gibt, dann müssen die über eine Entfernung von zehn Meter diagonal miteinander kommunizieren. Das ist eine Art der Kommunikation, die jeder Zuschauer sofort mitbekommt. Man merkt, die haben ein Problem, das sie als Kollektiv lösen, ohne dass da vorne einer rumfuchtelt. Das war der zweite Schritt, der dazu geführt hat, dass die Musiker extrem vertraut mit dem Material sein mussten. Der dritte war der, dass ich Improvisationen miteinbezogen habe, also Stücke, in denen das Material zum Ausgangsmaterial zur Improvisation wird, wozu man es auch genau kennen muss. Ich wollte, dass über die Töne, über die Rhythmik improvisiert wird und nicht nur über die Tonart.

Rolf Thomas: Worauf kam es Ihnen bei der Zusammenstellung des Materials an?

Heiner Goebbels: Ganz wichtig war mir, die ganze Breite von Eislers Arbeit zu demonstrieren. Wenn man sich heute Eisler-Programme im Konzertbetrieb anschaut, darin gibt es zwei, drei Alternativen. Sie können bei linken Gedenkveranstaltungen Arbeiterlieder hören, Sie können im Konzertsaal Orchestersuiten oder kleine Kammermusikstücke hören oder Sie können die Hölderlin-Lieder hören. Aber die gesamte Breite vom Marschlied bis zu den komplexen Orchesterstücken, die können Sie nirgends hören, und das geht auch mit den meisten Musikern gar nicht. Außer eben mit dem Ensemble Modern, das auf eine wirklich unglaublich berührende Weise diese sehr einfachen Lieder, die Eisler sich nicht gescheut hat zu schreiben, obwohl er Schönberg-Schüler war, ganz hart neben einem komplexen Orchesterstück erklingen lässt. Das gibt es so wirklich nirgends zu hören. Bei den Aufführungen merkt man dann auch, dass das Publikum auf seinem Stuhl immer weiter nach vorne rückt und in seiner Neugierde, an dieser Kommunikation teilzunehmen, beinahe die leere Bühnenmitte einnimmt. Das war eine schöne Erfahrung, dass diese Musik eben auch ein ganz große Wärme hat, und das hat auch in Ländern funktioniert, in denen Eisler gar nicht bekannt ist. Bei jedem anderen Konzert würde der Sänger vorne an der Rampe stehen, hier muss man ihn suchen, und das macht es eben auch spannend.

Rolf Thomas: Für mich strahlt die Musik auch eine gewisse Patina aus. Man scheint die Atmosphäre der Weimarer Republik beinahe zu spüren.

Heiner Goebbels: Es wäre falsch, so zu tun, als gäbe es die Entfernung nicht, die wir zu dieser Musik haben. Es ist Musik aus den zwanziger Jahren und wenn man diese Distanz ignoriert und mit Pathos »Vorwärts und nicht vergessen!« singt, dreht sich einem eigentlich der Magen um. Ich habe daher versucht, das Ganze in eine noch größere Entfernung zu bringen, auch durch die Instrumentierung, das Harmonium oder die große Bass-Drum. Das, was einen darin trotzdem noch erreicht, kann man als Entdeckung feiern.

Rolf Thomas: Es berührte mich sehr merkwürdig, die Stimme von Hanns Eisler in den beiden aus Rundfunk-Interviews zusammengestellten Collagen auf dieser CD zu hören. Da ich seine Stimme vorher nicht kannte, hatte ich sie mir nicht so weich und mit diesem Liebenswürdigen Akzent vorgestellt.

Heiner Goebbels: Seine Stimme hat viel Humor, viel Körperlichkeit auch beim Reden und das findet sich auch in der Musik wieder, die Art, zu artikulieren und Sprache zu rhythmisieren. Eisler hat im Grunde immer mit einem rhythmischen Puls gearbeitet, obwohl er ja Schönberg-Schüler war. Und das habe ich in der Musik auch gerne.

Jazz, Eisler, Beach Boys

Rolf Thomas: Nun haben Sie schon erwähnt, dass diese Produktion nur mit dem Ensemble Modern möglich gewesen ist, mit dem Sie schon seit fünfzehn Jahren zusammenarbeiten. Was ist das Besondere an diesem Ensemble?

Heiner Goebbels: Das Besondere am Ensemble Modern ist seine Struktur. Es ist ein selbstverwaltetes Ensemble, das keinen Chef hat. Das heißt, sie entscheiden selbst, mit welchem Komponisten sie arbeiten, wann sie proben und wo sie aufführen. Das ist für die Arbeit ganz wichtig, weil man nie mit Widerständen konfrontiert wird, mit denen man es sonst zu tun hat. Außerdem verfügt das Ensemble über eine ganze Reihe von Musikern, die an einer kreativen Ausweitung interessiert sind, die zum Beispiel auch mit Jazz zu tun haben.

Rolf Thomas: Ungewöhnlich ist auch, dass der Schauspieler Josef Bierbichler, der mir noch aus den Filmen von Herbert Achternbusch ein Begriff ist, die Rolle des Sängers übernommen hat. Wie ist der Kontakt zustande gekommen?

Heiner Goebbels: Josef Bierbichler kannte ich auch noch aus den Achternbusch-Filmen und habe in den 90er Jahren ein Hörspiel mit ihm gemacht. Mittlerweile gehört er ja zu den renommiertesten Schauspielern im deutschsprachigen Raum und ich hörte, dass er auch singt. Ich mochte ihn als Schauspieler wegen seiner uneitlen Spielweise, was für Eisler auch sehr wichtig ist, weil bei ihm ganz oft steht, »mit großer Diskretion zu singen«. Deshalb wollte ich keinen richtigen Sänger, der per se eitel sein muss. Dieses hohe, falsett-ähnliche Register, das Bierbichler hat, trägt auch zu dieser Entfernung, von der wir vorhin sprachen, bei.

Rolf Thomas: Nun werden Sie, der eigentlich mit Jazz angefangen hat, seit einigen Jahren vor allem im Kontext der Neuen Musik wahrgenommen. Ist das eine Szene, der Sie sich zugehörig fühlen?

Heiner Goebbels: Ich fühlte mich keinem Bereich zugehörig. Beim Jazz haben auch viele gesagt, das, was ich mache, swingt doch gar nicht. Improvisation war für mich immer wichtig als Motor, aber nicht als Selbstzweck. Das führte aber dennoch in den Jazz-Kontext, zu dem ich ja früher auch zählte. Ich wollte mich dann aber zunehmend von der Bühne zurückziehen, weit ich feststellte, ich schaue mir selber zu viel dabei zu. Auf der Bühne muss man unschuldig spielen können, und das konnte ich nicht mehr. Wenn man dann versucht, seine Musik überlieferbar zu machen, kommt man um das Notenpapier nicht herum. Trotzdem arbeite ich aber nach wie vor gerne mit improvisierenden Musikern. Aber dass der Jazz ästhetisch meine Heimat war, kann man eigentlich gar nicht sagen. Schon auf meiner ersten Platte mit Alfred Harth haben wir über Eisler-Lieder improvisiert. Eigentlich habe ich mich also gar nicht verändert. (Lachen)

Rolf Thomas: Einen Sinn für ungewöhnliche Materialverbindungen haben Sie auch mit einer Ihrer aktuellen Produktionen namens Hashirigaki bewiesen, in der Sie Musik vom Album The Pet Sounds Sessions von den Beach Boys mit Texten von Gertrude Stein kombinieren. Nun gilt gerade Pet Sounds nicht erst seit einigen Jahren als so eine Art Heiliger Gral der Popmusik. Was macht für Sie die besondere Qualität der Platte aus?

Heiner Goebbels: Zum einen ist es der melancholische Ton, der bei den Beach Boys ja sehr überraschend war. Dann ist es natürlich die Instrumentierung, die für Popmusik sehr ungewöhnlich ist, das klassische Instrumentarium, das aber so raffiniert abgemischt wird, dass die ganzen Neutöner noch etwas davon Lernen können. Zum dritten haben die Songs so eine merkwürdige, schwebende Qualität, der Bass schwebt über dem Erdboden, das verbindet die Musik mit der Prosa von Gertrude Stein.

Heft 11/02 S. 26-29.