3 June 2001, Jonathan Scheiner, Berliner Morgenpost
Interview (de)

Ein Kunstwerk darf nicht fertig sein

Der 1952 in Neustadt/Weinstraße geborene Komponist Heiner Goebbels gilt als einer der wichtigsten Vertreter zeitgenössischer Musik. Sein Werk umfasst Orchester- und Kammermusik, Musiktheater, Hörstücke sowie Theater-, Film- und Ballettmusik. Im April wurde er in Taormina mit dem Europäischen Theaterpreis im Bereich "Neue Theaterwirklichkeit" ausgezeichnet. Derzeit arbeitet er an einem Auftragswerk für die Berliner Philharmoniker.

Berliner Morgenpost: Herr Goebbels, wäre die Verleihung des Europäischen Theaterpreises an Sie nicht die Uraufführung eines neuen Werks wert gewesen?
Heiner Goebbels: Nein, ich finde den Druck verkehrt, immer etwas Neues zeigen zu müssen. Die Tendenz, Künstlern immer neue Werke abzuverlangen, tut keinem gut. Es setzt die Künstler in einer Weise unter Druck, die ihnen kaum noch Zeit lässt, an der Entwicklung ihrer Stücke zu arbeiten. Mit dem Publikum hat das gar nichts mehr zu tun, weil es ja nur die herumreisenden Kritiker sind, die das Stück schon gesehen haben.

Sind Sie ein Freund offener Strukturen?
Ja, in dem Sinn, dass ich ein inhaltliches Zentrum eher umstelle als es zu besetzen. Vielleicht ist die offene Form eines der Hauptmerkmale dessen, was ich versuche. Offene Strukturen erfordern ein höheres Maß an Verantwortlichkeit und Präzision.
Ein Kunstwerk darf nicht fertig sein, sondern es muss Raum lassen für den Zuschauer.

Aber wann ist Ihnen klar, dass dieses Zentrum umstellt ist?
Oft weiß ich zu Beginn der Stücke nicht, was da am Ende stehen wird. Ich habe keine festen Vorsätze und keine feste Konzeption, sondern lasse mich auf einen für mich hoffentlich überraschenden Prozess ein.

"Surrogate Cities" wurde im Jahr 2001 für den Grammy nominiert, war aber schon 1994 fertig komponiert. Ist das nicht eine zu lange Zeit für einen viel schaffenden Komponisten?
Im Gegenteil, ich finde die Haltung meines Verlags sehr klug. Natürlich wollte ich früher auch immer, dass die CD möglichst schon auf dem Markt ist, wenn die erste Tournee stattfindet. Aber erstens werden die Stücke besser, je öfter sie gespielt werden. Zweitens ist Aktualität kein Gradmesser für Qualität. Oft beweist sich erst in der Folgezeit, ob eine Komposition wirklich haltbar ist und ob es überhaupt wichtig wird, sie auf CD zu pressen. Es gibt sowieso schon viel zu viele CDs.

Sie haben von Sir Simon Rattle einen Kompositionsauftrag für die Berliner Philharmoniker erhalten. Spüren Sie schon jetzt einen Erwartungsdruck?
Merkwürdigerweise noch nicht, aber das kommt bestimmt noch. Erst mal ist es ein großer Anspruch, diesen wunderbaren Klangkörper zu nutzen, wenngleich ich in der Vergangenheit mit dem Ensemble Modern oder der Jungen Deutschen Philharmonie auch schon sehr verwöhnt wurde.

Kann ein so großer Raum wie die Philharmonie nicht die Intimität ihrer Arbeit beeinträchtigen?
Mein erstes Konzert in der Philharmonie war vor über 20 Jahren. Ich schätze den Raum gerade wegen der guten Relation zwischen Zuschauern und Bühne. Die Anordnung der Sitzreihen ist besser als etwa in der Frankfurter Oper. Ich glaube, dass Intimität auch nicht die Kategorie sein wird, auf die es mir ankommt im Umgang mit einem großen Orchester.

Worin würden Sie sich von anderen Komponisten abgrenzen?
Mich interessiert, wie man gesprochene Sprache und Musik verzahnen kann. In diesem Bereich, der exakt zwischen Oper und Schauspiel liegt, wollte ich der Musik und den Klängen nicht länger die konventionelle Rolle der Textillustration zuteilen. Schon in meinen ersten Theaterarbeiten habe ich versucht, mit vielen Stimmen aus verschiedenen Ländern die Klangqualitäten von Sprache zu nutzen. Unsere eigene Sprache ist uns ja schon zu verstellt, weil wir sie zu gut kennen. Ich glaube, es kann eine politische Haltung von Respekt, Neugierde, Akzeptanz und Interesse sein, einer Sprache zuzuhören, die man nicht gleich versteht.

Verzahnung von Sprache und Musik: Heiner Goebbels komponiert für Sir Simon Rattle und die Philharmoniker