8 March 2001, La Liberation
Interview (de)

"Ein Stück, offen für Interpretation"

Wie Heiner Goebbels "Hashirigaki" versteht.

E. D. Heiner Goebbels ist Autor von Hörspielen nach Heiner Müller, vielfach ausgezeichneter Regisseur, Gründer des "Sogenannten linksradikalen Blasorchesters" und der experimentellen Rockgruppe "Cassiber" (1982), Komponist des Ensemble Modern in Frankfurt und Stammgast am Théâtre des Amandiers, wo er schon mehrere Stücke inszeniert hat. Er spricht über Hashirigaki, das nach Lausanne, Rom, Hamburg, Berlin und Nanterre in Taipeh und Moskau gespielt werden wird. Was war der auslösende Impuls zur Kreation von "Hashirigaki"? Der Text von Gertrude Stein? Nach Max Black und Black on White, beide mit düsterem, realistischem Hintergrund, wollte ich etwas Leichtes und Farbenfrohes schaffen. Ich wollte keine Kritiken mehr lesen, die von Wittgenstein und Valéry sprechen und damit das Publikum einschüchtern. Ich wollte die Zuschauer zu einem Stück einladen, das offener ist für Interpretation. Ich bin vom Text ausgegangen, dann kamen die Beach Boys dazu, dann die japanische Musikerin, mit der ich schon seit fünf Jahren zusammenarbeiten wollte, und der Rest hat sich mir entsprechend aufgezwungen. Das könnte zwar wie ein zu hochgestecktes Ziel aussehen, aber ich glaubte, eine starke Verbindung finden zu können, welche die Elemente strukturieren würde. Haben Sie Bob Wilsons Stücke nach Gertrude Stein gesehen? Nur das letzte, Saints and Singing, das meiner Meinung nach die Musikalität von Steins Text nicht ausgenutzt hat. Trotzdem war es Bob, der in mir, als er an Heiner Müllers Begräbnis aus The Making of Americans vorlas, den Wunsch hervorrief Hashirigaki zu machen. Sie arbeiten mit vielen Instrumentalstücken der Beach Boys, Ausschnitten aus "Making of Pet Sounds". Sind sie ein Fan? Ich liebe diese Scheibe seit 35 Jahren, weil sie den Boden buchstäblich nicht berührt und das dank dem Bass, der sonst fast nie die tragenden Noten im Akkord spielt. Es ist ein sehr melancholisches Album, hauptsächlich von Brian Wilson getextet, komponiert und gespielt. Weshalb ein Prosatext von Stein und nicht eines ihrer Stücke? Man muss Stein auf Englisch lesen und nicht in einer französischen Übersetzung, die 1000 Seiten auf 300 reduziert. Man muss lesen, wie sie sich wiederholt, wie sie verallgemeinert, und dabei einen banalen Familienroman in die Geschichte der Menschheit umwandelt. Stein und Wilson haben diese typisch amerikanische "leichte" Melancholie, die auch bei Roth, Carver u.v.a. anzutreffen ist. Ja, Steins Rhythmus gefällt, berührt und ist grossartig. Die europäische Melancholie nähert sich im Gegensatz zur amerikanischen immer schnell einer Depression. Sind sie sich der Funktion ihrer guten Einfälle bewusst? Ich bin den Regisseuren gegenüber misstrauisch, die schon von Anfang an zu wissen glauben, was sie machen werden. Für mich ist die einzige Art und Weise Theater zu machen die Suche nach dem mir noch Unbekannten, von dem Wesen der Elemente ausgehend, die ich mir ausgesucht habe. Ich will zeigen, dass die Dinge im allgemeinen nicht nur eine einzige Motivierung haben. Zum Beispiel habe ich erst im nachhinein herausgefunden, dass Tanakas japanische Schlaginstrumente sehr gut zu den Pet Sounds passen, die kein Rockschlagzeug verwenden, sondern akustische Schlaginstrumente. Das Stück endet mit dem Satz: "Ich war nicht gemacht für diese Zeit". Eine Einladung abzuheben... Das Theater muss uns an ausserterritoriale Orte verschleppen, damit wir uns von dort aus die Welt anders anschauen können. Theater schöpft aus älteren Texten, was heute gültig ist.

on: Hashirigaki (Music Theatre)