11/2000, Wolfgang Stryi, MusikTexte
Interview (de)

Ein Garant für die Intensität des Materials

Welche Wichtigkeit hat für dich Improvisation im Verhältnis zur Komposition.
Zunächst mal geht es mir nicht um den Aspekt der Freiheit, sondern um Improvisation als ein Mittel der Materialfindung: Material, das nicht allein aus der theoretischen Überlegung erwächst, sondern das körperlich verbunden ist. Bei einer Komposition sitzt man in der Regel eher an an einem Tisch oder an einem Instrument, z.B. einem Klavier oder einem Keyboard.
Das Improvisatorische hat für mich im Gegensatz zu der reinen Papierarbeit den Vorteil, dass der Körper daran mitbeteiligt ist. Ich erfinde relativ viel kompositorische Formen, auch Figuren aus dem Spielen heraus, die ich dann entweder notiere oder aufnehme oder vom Computer notieren lasse und dann überarbeite, verwerfe, editiere, quantisiere oder was auch immer. Zunächst also eine Verbindung einer musikalischen Idee mit der körperlichen Ausführung.

Einige Werke wie "La Jalousie", "Die Befreiung" oder "Herakles 2" sind aus solchen Improvisationen entstanden, dann aber von dir im Notentext festgelegt worden.
Ja, sie aus den spielerischen Inventionen überhaupt erst in eine Form gebracht worden und sie sind komplett fixiert. Aber die Verbindung mit der spielerischen Musikzierhaltung bleibt immer wichtig, und ist nicht nur ein gedankliches Konstrukt. Dieses Konstrukt liegt meistens vor der Improvisation; ich behaupte nicht, man solle alles 'aus dem Bauch' heraus machen, da wäre ich wahrscheinlich der vorletzte, der das tun würde ... Aber irgendwann kommt immer der Punkt, wo genau das unvermeidbar wird. Doch wieviel man als Musiker vorher nachgedacht hat, zahlt sich - wenn man Glück hat - in dem aus, was man dann letztlich 'aus dem Bauch heraus' spielt.
Aber das ist nur ein Begriff von Improvisation, der mir wichtig ist. Diese Form der Improvisation verschwindet dann sofort wieder und ist lediglich eine individuelle Möglichkeit unter vielen. Ich glaube, sie ist gleichzeitig ein Garant dafür, dass das, was man sich kompositorisch ausdenkt, auch ausführbar ist, und zwar nicht in einem technischen Sinne. Ganz oft ist es so, dass ich Akkordbrechungen auf der Klaviatur erfinde und sie anschließend an ein Blasinstrument oder an eine Geige delegiere. Manchmal sagt der Geiger natürlich: "Das habe ich gerne, wenn es auf dem Klavier ausgedacht ist und völlig unspielbar daherkommt". Nun steckt aber hinter der Ausführbarkeit immer ein musizierender Körper, eine musikalische Geste.

Du hat dich selbst schon einmal als Architekt bezeichnet, dann wiederum als Bildhauer. Damit kommen wir zum nächsten Punkt: Wenn du bei Stücken wie "Red Run", Schwarz auf Weiß" oder "Eislermaterial" die Vorarbeit der Improvisation selber leistest, dann jedoch alles auskomponierst, bedeutet das, dass du noch nicht soweit bist, um dem Musiker tatsächlich mehr zu überlassen?
Nein, es geht dabei um die zweite Ebene der Improvisation, die du ansprichst, in der die Musiker stärker vorkommen, oder in der der Improvisationsspielraum der Musiker überhaupt erst das Material teilweise hervorbringt. Das hat durchaus etwas damit zu tun, dass ich nicht glaube, dass ich mir notwendigerweise alles ausdenken könnte. Nicht das gesamte musikalische Material muss aus meiner Feder stammen. Es gibt Horizonte oder Kombinationen, und Sprünge und klangliche Konfrontationen, die kann man sich in dieser Form vielleicht gar nicht ausdenken. Z.B. das Nebeneinander von Koto und Blasorchester in "Schwarz auf Weiss" hätte ich mir wahrscheinlich nicht ausgedacht. Und das ist natürlich letztlich aus einer Improvisation entstanden: Rumi sagte, "ich hab zuhause eine Koto", und daraus ist dann die Szenenfolge entstanden.
Da sind wir bei einem weiteren Aspekt: Über das Mittel der Improvisation eröffnen sich gerade bei den szenischen Arbeiten für die Darsteller größtmögliche musikalischen Horizonte. Der Grund dafür ist ganz einfach: Wenn man nur alleine arbeitet und alles zu Papier bringt, bekommt man auch nur das heraus, was man selbst im Kopf hat. Das ist langweilig.
Ein Stück zu erarbeiten, bei dem man vorher noch nicht weiß, was am Ende dabei herauskommt - das ist eigentlich für mich immer die wichtigste Voraussetzung. Deswegen lade ich zu einem sehr frühen Zeitraum die Beteiligten ein. Die Freiheit, die man in dieser Improvisationsphase hat, ist wichtig.
Aber letztlich interessiert mich das im Ende nicht als beliebige Freiheit, sondern immer nur als ein Mittel auf dem Weg zu einer intensiveren Wahrheit, zu einem tiefenschürfenderen Vorgang...

Im Laufe der Zeit lernst du die Musiker (besser) kennen, entdeckst Charaktere und wahrscheinlich auch neue Aspekte in der Musik.
Damit wären wir aber vielleicht auch bei dem dritten Punkt, der mich an Improvisation interessiert: Es gibt einige spielerische Register, die einfach nicht mehr notierbar sind. Etwas, das durch Notation in der Ausführung immer zu brav klänge, zu reglementiert, zu akademisch. Diese Problem kann man mit Tricks umgehen: Man notiert z.B. so schwierig, dass der Musiker es nicht spielen kann, und die Unschärfe sich sozusagen aus dem Unvermögen ergibt... Ich habe dies einmal gemacht, aber es hat nicht gereicht. Bill kann die hohe Trompetenstelle in der Chaconne trotzdem spielen...

Was entsteht durch Improvisation?
Mir ist immer der Ausdruck in der Musik wichtiger als die Ausführung. Dafür kann das Improvisatorische ein ganz entscheidendes Register sein. Improvisation hat bei mir nie eine strukturelle Kraft oder eine strukturelle Bedeutung. Eher eine klangliche, eine vitale oder eine geräuschhafte, eine musikalische Farbe, eine Intensität, aber sie ist nicht strukturbildend. Das lasse ich - wenn ein Stück einmal fertig ist - nicht mehr offen.

Du bist selber lang genug Improvisator gewesen - lernt man das irgendwann? Wie würdest du das aus deiner heutigen Sicht als Komponist sehen? Wodurch passiert musikalisch etwas, das man bereits vorher zu kennen scheint?
Das hat etwas mit der Distanzfähigkeit zu tun; um eine Form zu bauen, muss man sich von außen zuschauen können - was ein kompositorischer Akt ist. Jede Form verlangt einen Abstand, um sie konstruieren zu können. Inzwischen kann ich auf der Bühne kaum noch selbst spielen, weil ich mir zu sehr zuschaue; deswegen habe ich das nahezu komplett aufgegeben. Und wenn ich hundert wunderbare Solisten kenne, sind aber höchstens zehn dabei, die ein Formbewußtsein haben. Offenbar ist das ein Widerspruch, der in der Person kaum zu versöhnen ist: Eine Intensität aus einer expressiven improvisatorischen Geste heraus zu entwickeln und sich gleichzeitig distanziert zuzuschauen.

Heute ist es in der klassischen Musik - so wie wir ausgebildet werden - unüblich. Erst seit den letzten Jahren gibt es an den Hochschulen vereinzelt Dozenten für Improvisation.
Die Alten Meister konnten konnten dieses Formgefühl mit der Improvisation verbinden. Aber waren das Improvisatoren am Saxophon? Nein, es waren natürlich meistens Organisten, oder Pianisten, Cembalisten. Die Verbindung des Körpers mit dem Blasinstrument ist eine viel direktere, ungebrochenere, unmittelbarere als über eine Klaviatur. Das ist ein großer Unterschied.

Also mit viel mehr Bauch tatsächlich?
Die Möglichkeit, dir selber zuzuschauen, zuzuhören ist beim Blasinstrument bestimmt geringer als bei einem Klavier.

Weil es mehr mit dem Bauch zu tun hat...
...mit der Atmung, mit dem Singen.

Hat deine Beschäftigung mit Improvisation etwas mit der Aufbruchsstimmung in der Zeit nach 1968 zu tun? Wolltest du gewisse Grenzen sprengen?
Nein, bei mir war es doch eher umgekehrt. Ich kam ja zum Jazz, als der relativ grenzenlos war und habe dort enge Formen eingesetzt. Wenn wir - Alfred Harth und ich 500 mal 'Die Improvisation über die Ballade vom zerrissenen Rock' gespielt haben, dann haben wir nicht 100 mal ein anderes Stück gespielt, auch wenn es immer mal ein bißchen anders klang. Dagegen war völlig klar: Die Verabredung ist sehr präzise, die Dauer der einzelnen Teile schwankte höchstens mal um 10 bis 20 sek. Das Improvisatorische ist ein Garant für die Intensität des Materials. Uns ging es nicht darum, etwas anderes zu erfinden, sondern einzig darum, dieses immer wieder neu so intensiv wie möglich hinzubekommen; deswegen schreibt man es nicht auf - das war der Punkt.
Übrigens hat ein Schüler von Paul Dessau diesem 1976 ein Stück vom Alfred und mir vorgespielt - ich glaube, das war die 'Ballade vom zerrissenen Rock' - und Paul Dessau sagte sofort: "Oh, davon möchte ich die Noten sehen."
Naja, es ging also nicht darum Grenzen einzureißen, sondern eher umgekehrt: in diesen Jargon von Freejazz oder improvisierter Musik haben wir eine Form reingebracht.

Als du früher viel mit Saxophon und Klavier gearbeitet hast, da haben dich gerade die Streichinstrumente, mit denen du eben nicht so viel Improvisationserfahrung hattest, besonders gereizt. Um festen Schemata zu entgehen?
Die sitzten natürlich sehr fest. Wenn ich am Klavier sitze und unüberlegt einen Akkord drücke, dann ist das sicher einer, den ich wahrscheinlich schon vor 20 Jahren gedrückt hätte.
Ich habe sehr sehr viel gelernt. Ich hatte ja schon komponiert, viel Theatermusik auch für Ensemble, Kammerorchester und Chor, aber in direktem Kontakt mit einem (akademischen) Solisten hatte ich natürlich relativ wenig gearbeitet. Daher habe ich auch für die Instrumentierungen viel gelernt und was die klanglichen Grenzen betrifft. Das ist ein gegenseitiger Prozeß. Die Frage wäre interessant, inwieweit gerade die klanglichen Innovationen der letzten 20 Jahre eher von der improvisierten Musik kamen, irgendwann notiert wurden, und dann später in eine Form gebracht werden konnten.
Inwieweit diese Techniken nicht längst alle von der improvisierten Musik, Jazz, Freejazz oder später dann die Noise Art etc. entwickelt worden sind. Was ich eher vermute.

Letzte Frage von mir aus wäre: Beim Eislermaterial benutzt du den Begriff komponierte Improvisation über Themen von Eisler. Wie würdest du diesen Begriff beschreiben? Wie arbeitest du mit den Musikern, um an diesen Begriff zu kommen? Wo bleibt der Heiner Goebbels dabei?
Wichtig ist mir dabei zweierlei: weniger wo ich bleibe, sondern erstens wo Eisler bleibt - weil ich die Arbeit an sein Material binden wollte - und zweitens wollte ich, dass dieses Material nicht ausgeführt wird, sondern angeeignet. Der höchste Grad sich ein Stück anzueignen, ist, wenn man darüber sehr souverän, auch strukturell, verfügt; wenn man immer genau weiß wo was warum stattfindet; wenn man auch mal fünf gerade sein lassen kann und dennoch sich wieder einfindet; wenn man mit dem Material auch weiterschreiben kann.
Darum ging es mir. Nicht nur in den Improvisationen, sondern auch in den ganz einfachen Liedbegleitungen. Deswegen war mir wichtig, dass jeder das Arrangement individuell für sich ausprobiert hat und die Register, die Oktavlage usw. entscheiden konnte. Dass das Material nicht vor einem steht und man es nur abspielt. Dieser intensive Grad kann eben entweder so etwas zartes sein wie das kollektive Akkordvorspiel vor den Wiegenliedern oder auch eine sehr rabiate Improvisation, die aber nie das Material außer Acht läßt, die nie so eitel wird, dass es nur noch um die Musiker geht, sondern immer die Perspektive der Struktur der ursprünglichen Komposition im Blick hat.
Deswegen vielleicht der Begriff der komponierten Improvisation. Die genauen Hinweise, wieviel Takte improvisiert wird, wann der Harmoniewechsel ist, wer in welchem Register spielt etc. sind meine strukturellen Maßnahmen, um das Auseinanderdriften in der Improvisation zu verhindern.