25 October 2000, Cornelia Jentzsch, Der Tagesspiegel
Interview (de)

Warum mäßigen Sie sich beim Komponieren, Herr Goebbels?

Cornelia Jentzsch: In einem ihrer früheren Interviews äußerten sie über Ihre Arbeit, daß sie den Abstand brauchen, um ihn selbst zurücklegen zu können. Ist diese Aussage transformierbar? Denn der Abstand wird ja immer mehr zu einer nötigen Grundhaltung, um in der Informationsgesellschaft den Kopf über Wasser oder besser Bildschirm zu behalten.
Heiner Goebbels: Mit dieser Äußerung hatte ich speziell den Zuschauer im Sinn, dem ich auf der Bühne einen Abstand anbieten möchte, damit er ihn zurücklegen kann.
Distanz ist aber nicht nur in der Kunst eine wichtige Kategorie. Man muß sich in allen Berufen immer wieder fragen: Ist es das, was ich tatsächlich erreichen wollte, geht von meiner Arbeit wirklich die Wirkung aus, die mir vorschwebt?
Hinzu kommt, daß der Aufwand, den man braucht, um in der notwendigen Verantwortung mit seinem zur Verfügung stehenden umzugehen, immer größer wird. Selbst das mittlerweile in der Musik gängige Produktionsprinzip des Sampelns, womit ich vorrangig arbeite, ist keine Zeitersparnis, obwohl man nicht erst neue Klänge erzeugt, sondern sich an bereits vorhandenem Material, das aufgenommen, gespeichert und bearbeitet wird, bedient. Allein der Gedanke, was man wann wo und wie einsetzt, verbraucht bei steigendem Angebot zunehmend Zeit.

Gibt es ein grundlegendes Kriterium, nach dem Sie das Material für ihre Arbeiten auswählen?
Was das Material betrifft, bin ich abergläubisch und sehr streng. Für meine Projekte wie Hashirigaki oder Max Black habe ich äußerst genau meine Bibliothek von Sounds ausgewählt. In Max Black verwende ich ausschließlich Klänge, die in diesem Raum zu diesem Zeitpunkt entstehen. In Hashirigaki arbeite ich mit einem bestimmten Album von den Beach Boys und nicht irgendwelchen anderen Songs von ihnen. Wenn man in Details unpräzise wird, rächen sie sich sofort mit Beliebigkeit. Zugelassene Ungenauigkeiten kann zwar nicht jeder überprüfen, aber spüren.

Könnte man Mäßigung als modernes Produktionsprinzip bezeichnen?
Ja, extreme Reduktion ist wichtig. Man muß fast mit altmodischen Kategorien an die neuen Techniken herangehen. In dem Buch The Making of Americans von Gertrude Stein, aus dem ich Auszüge für Hashirigaki verwendet habe, hat mich diese große Einschränkung in der Wortwahl fasziniert, in der man trotzdem ständig neue Facetten entdecken kann.
Es gibt verschiedene Strategien, der Materialfülle zu begegnen. Meine inzwischen jugendlichen Kinder besitzen eine Fähigkeit, sehr schnell aus Fernsehprogrammen oder mitgebrachten CDs Brauchbares auszuwählen. Dadurch verschenken sie sich zwar oft etwas, aber andererseits entwickeln sie eine hohe Virtuosität bei diesem Einordnen.

Können sie für ihre Arbeit nutzen, was sie an ihren Kindern beobachtet haben?
Im Alltag ja, in der Kunst nicht. Da beschreite ich eher den umgekehrten Weg. In meinen Arbeiten möchte ich genau dieses Einordnungsprinzip komplett sabotieren. Wenn sie zu einem x-beliebigen Zeitpunkt der Aufführung von Hashirigaki den Raum betreten würden, erkennen sie unter Garantie nichts Repräsentatives. Einmal dächten Sie vermutlich, was das denn für ein komischer Tanzabend sei, ein wenig später, das ist halt schöne meditative Musik, oder sie hören einen Popsong der sechziger Jahre oder eine Erzählung über Kindererziehung im 19. Jahrhundert. Nie werden Sie einen repräsentativen Punkt finden, den gibt es nur in der Summe der Eindrücke.

Was beabsichtigen sie damit, steckt dahinter eine Verweigerungshaltung?
Zum einen mag ich genau den Moment, an dem ein solcher Abend abzuheben beginnt, wenn man nicht mehr weiß, wo man sich eigentlich aufhält. Zum anderen schätze ich als Motor und Impulsgeber für das Theaterpublikum die Erfahrung, auf etwas Unvorhergesehenes zu treffen oder sich in einer Erwartung zu irren.

Lenken Sie das Publikum oder stehen sie eher mit ihm in Übereinkunft?
Lenken klingt mir zu pädagogisch. Ich möchte in den Stücken eine Offenheit behalten, die durchaus ganz andere Zugänge ermöglicht. Was bei Max Black für mich noch die Kettenreaktion der Mittel bedeutete, gerät vielleicht bei Hashirigaki eher ins Luftige, Leichte.
Das schöne an meinem Publikum ist ja, daß es das nicht gibt, sondern es sich sehr unterschiedlich zusammensetzt, viele kommen aus der Musik, andere aus der Literatur oder der bildenden Kunst. Am spannendsten ist es aber da, wo mich überhaupt kaum einer kennt wie letzte Woche in Rom.

Welche von den zahlreichen Strömungen in der derzeitigen Musik halten Sie für entwicklungsfähig?
Es wird langsam interessant, wieder auf die rhythmischen Möglichkeiten zu achten. Die neue Musik in Europa hatte ja den letzen 50 Jahren einen großen Bogen um den Puls gemacht, in Amerika war das sehr anders. In den letzen fünf Jahren ist im subkulturellen Bereich, bei Drum & Bass, sehr viel entstanden. Das wird nicht ohne Resonanz in der zeitgenössischen Musik bleiben, man spürt schon, daß selbst Kollegen wie Wolfgang Rihm auch mal einem kontinuierlichen Rhythmus nachgeben, was noch vor ein paar Jahren so nicht denkbar war.

Welche musikalischen Traditionslinien liegen ihnen besonders nahe?
Das ist sicher ein Zusammenspiel von biografischen Erfahrungen und Erlebnissen, in die man unerwartet hineinstürzt. Ich könnte nicht sagen, ob es für mich wichtiger war, in meiner Jugend fast ausschließlich Bach gespielt zu haben, oder daß ich 1972 bei den Donaueschinger Musiktagen in ein Konzert von Don Cherry geraten bin. Wahrscheinlich beides.
In einem der möglichen Zentren von Hashirigaki stehen Songs von den Beach Boys. Sie stammen aus Pet Sounds von 1966, eines der größten Popalben des 20. Jahrhunderts und wirklich schon klassische Musik, eine ungesättigte Musik, ständig in der harmonischen Schwebe. Sie löst sich nie in die Grundakkorde auf, sondern verbleibt in dieser melancholisch-harmonischen Ungewissheit. Ein Stück dieses Albums habe ich 30 Jahre mit mir herumgetragen. Und obwohl ich als Halbwüchsiger alle Songs nachspielen konnte, war es mir damals nicht gelungen, dieses eine Stück in seinen merkwürdigen Harmonieführungen zu greifen. Mit Hashirigaki habe ich praktisch diese alte Sehnsucht wieder eingelöst, was mir aber erst bei den Recherchen dazu klarwurde.

In Hashirigaki, was auf japanisch sowohl schnelles Schreiben als auch rasches Laufen bedeutet, geht es um Ortlosigkeit. Ist das eine Voraussage?
Sicher ist es ein Zustand. Bei Brian Wilson heißt es "I just wasn't made for this times".

Immer wieder kommt ja das Gerücht auf, daß das Theater als Institution überholt ist, teilen Sie diese Meinung?
Das Theater ist einer der ganz wenigen gesellschaftlichen Orte, wo man noch etwas im Ergebnis Unvorhersehbares erleben kann. Der andere Ort, an dem noch Überraschungen passieren, liegt im Fußballstadion, sehr zum Leidwesen der Frankfurter Eintracht. Nur da, wo es riskant ist und schiefgehen kann, ist es auch spannend. Selbst bei Formel-1-Rennen geht es nur noch um Hundertstelsekunden, der Sieger steht im Prinzip schon fest.

Welche Theaterstücke finden sie derzeit riskant?
Das ist eine schwierige Frage. Ich kann mit vielen Stücken, die zur Zeit auf der Bühne zu sehen sind, nicht viel anfangen. Sie unterfordern das Publikum zu sehr, weil sie zu aufdringlich sind und die Sprache zu wenig ernstnehmen.

Sie sagten in einem Gespräch, sie glauben, daß Innovation nicht in einem großen Apparat stattfinden kann?
Das gilt nach wie vor. Seine Infrastruktur verhindert, daß der Apparat etwas hervorbringt, von dem er nicht vorher schon weiß, was es ist. In meinen Produktionen lasse ich mich genau auf den umgekehrten Prozess ein, ich weiß vorher nie, wie es ausgeht. Dafür eine Institution zu finden, die das nicht nur unterstützt, sondern die es auch noch täglich absichern kann, ist schwierig. Ich brauche einen Ort, wo ich einen Tag vor der Premiere noch hereinplatzen und sagen kann, April, April, wir benötigen weiteres Material, weil wir den Anfang noch immer nicht gelöst haben. Das wäre in großen Opernhäusern nicht denkbar. Hier gibt man zwei Jahre vorher die Partitur ab, damit der Chor mit den Proben beginnen kann. Letzendlich ereignet sich nur, was der Komponist sowieso schon im Kopf gehabt hat und das ist mir, auf meinen Kopf bezogen, zu langweilig.

Wie sähe das Theater der Zukunft Ihrer Meinung nach aus?
Ich bin ja gar kein Feind des Sparzwangs, viele Häuser haben das Verhältnis von eigener Administration und künstlerischem Budget im Laufe der Jahre viel zu ungünstig definiert. Aber was Berlin dringend nötig hat sind Institution, die ein so dergestalt offenes Arbeiten ermöglichen wie das Hebbel-Theater, das TAT in Frankfurt, daß es in dieser Form ja nicht mehr gibt, oder das Theatre de Vidy in Lausanne, wo in den letzten drei Jahren meine Arbeiten entstanden. Berlin braucht dringend solche Plätze. Und die darf man nicht nur am Rande betreiben, sondern man muß sie substantiell und strukturell featuren, weil sie ästhetisch wesentlich kreativer arbeiten. Diese Theater stoßen in ganz verschiedene Richtungen vor und bleiben dazu auch künstlerisch flexibel und finanziell sparsam genug.
Ein Bühnenkunstbegriff, der dem Publikum Raum läßt und es nicht mit Texten und Gesten totalitär bombardiert, funktioniert ab einer bestimmten Größenordnung nicht mehr. Sitzen in einem Raum zweitausend Leute, nehmen die letzten Tausend am Bühnengeschehen nicht mehr teil. Eine utopische Freiheit für das Publikum, wie es mir beim Eislermaterial vorschwebte, wo im Laufe des Abends das Publikum zunehmend das sprichwörtlich leere Zentrum auf der Bühne besetzt, geht in keiner Zweitausendmannhalle. Von daher gibt es auch architektonische Grenzen für ein Theater der Zukunft.

Sie haben für die Berliner Philharmonie von Simon Rattle einen Kompositionsauftrag erhalten. Begeben Sie sich da nicht genau in jene bedenkliche Nähe zu einer festgefügten Institution?
Was ich über die Entstehung von Theaterstücken sage, gilt nicht gleichermaßen für die Orchesterstücke. Natürlich wird an einem solchen Ort ein Stück wie Schwarz auf Weiß nicht entstehen können, oder vielleicht erst in hundert Jahren. Man muß sehr genau wissen, mit wem man was erarbeitet. Ich werde von den Bedingungen des Hauses ausgehen und ein fertiges Stück liefern. Die Berliner Philharmoniker sind eines der besten Klangkörper der Welt, ich bin sicher, daß sie sich auf die Schwierigkeiten meiner Partitur einlassen werden.

Sie haben ja bislang immer Erwartungshaltungen unterlaufen, wie werden sie es mit diesem Kompositionsauftrag halten?
Es wäre ja besonders kontraproduktiv, wenn ich es jetzt schon sagen würde, da entspräche ich ja Ihrer Erwartungshaltung. Von einer bei meinen Produktionen normalerweise ganz wichtigen Sache werde ich allerdings Abstand nehmen müssen: daß ich vorher nicht sagen kann, wie es später klingt. Wahrscheinlich muß ich das bei den Berliner Philharmonikern wissen.
Aber erhoffen Sie nicht zu viel, in gewissen Dingen bin ich eher konventionell. Ich würde nicht bis zur Auflösung des Zuschauerraumes gehen wollen. Die Freiheit, eine Stelle zu suchen, an der man nichts verpaßt, ist für mich weniger wichtig als die Freiheit, auf dem Stuhl zu sitzen und im Kopf unabhängig zu sein.

Wie müßten Ihrer Meinung nach die Kulturpolitiker agieren, um nicht hemmend, sondern fördernd auf die Kunst zu wirken?
Sie sollten ins Theater gehen und zu Hashirigaki kommen.