12 June 1998, Markus Clauer & Oliver Mueller, Die Rheinpfalz
Interview (de)

Mir schwebt ein anderes Theater vor

Mir schwebt ein anderes Theater vor
Interview mit Markus Clauer and Oliver Müller
Gespräch mit dem aus der Pfalz stammenden Heiner Goebbels, Komponist, Regisseur und Enfant terrible des Musiktheaters

Der 1952 in Neustadt an der Weinstraße geborene und in Landau aufgewachsene Heiner Goebbels ist einer der wichtigsten Komponisten und Regisseure der Musiktheaterszene - und gleichzeitig ist er ihr Enfant terrible. Seine vielfach preisgekrönten Projekte in denen er sich auf die Suche macht nach einer Alternative zwischen den Sparten Oper und Schauspiel, sind in der Avantgardeszene und auf Festivals ebenso gefragt, wie sie von den traditionellen Opernhäusern ignoriert werden. Goebbels der seit 1972 in Frankfurt/M lebt, wenn er nicht durch die Welt tourt, bedauert das nicht. Er glaubt ohnehin, daß diese keine Zukunft haben. Im Frankfurter TAT sind vor kurzem zwei Premieren von Goebbels Stücken über die Buhne gegangen. Das Ein-Personen-Schauspiel "Max Black" mit André Wilms, ein wunderbares Rätselstück mit pyrotechnischen Effekten über einen faustischen Wissenschaftler und die Hommage von Goebbels an den Komponisten Hans Eisler mit dem Ensemble Modern (wir berichteten). Sein Hörspiel "Die Wiederholung" bekam zuletzt die Auszeichnung "Hörspiel des Jahres 1997". Mit Heiner Goebbels sprachen RHEINPFALZ Redakteur Markus Clauer und RHEINPFALZ Redaktionsmitglied Oliver Müller.

Frage: Herr Goebbels, haben Sie so etwas wie Heimatgefühle, wenn sie an die Pfalz denken?
Heiner Goebbels: In meiner musikalischen Biographie habe ich einen entscheidenden Impuls durch meine Jugend in Landau bekommen, weil da ein sehr engagierter und offenbar mit cleveren Beziehungen gesegneter Kulturdezernent war (Max Krämer Anm. d. Red.). So habe ich für zwei Mark auf dem Stehplatz als Schüler alle großen Solisten und Orchester der 60er Jahre gehört, die damals in Deutschland verfügbar waren. Ich habe Karajan gehört, ich habe das erste West Konzert von Swatoslaw Richter mitbekommen, der bei seiner ersten Tournee in Landau Station machte - neben was weiß ich, Berlin, Frankfurt, München. Landau war immer die fünfte Etappe. Ich habe Rostropowitsch gesehen in den 60er Jahren Celibidache Ojstrach. Das berührt einen schon, wenn jemand wie Ojstrach mit seiner Präzision und wurschtigen Präsenz ein Doppelkonzert von Bach spielt. Dann spürt man auch als Amateur, daß da etwas ganz großes im Gange ist. Aber Heimatgefühle? Zur Pfalz überhaupt nicht. Seßhaft bin ich in Frankfurt. Ich bin mindestens 100 Tage im Jahr unterwegs in der ganzen Welt an wunderschönen Orten wie Lissabon, Tokio, Melbourne, nur die schönsten Städte. Das ist ein großes Glück, ich brauche dann aber auch den Rückzug, den habe ich hier und nicht in der Pfalz. Ich bin schon sehr stark ein Städter.

Vor kurzem haben Sie für Ihre Arbeit "Die Wiederholung" die Auszeichnung Hörspiel des Jahres 1997 der Akademie der Darstellenden Künste in Frankfurt/M bekommen. Wie stehen Sie zur Gattung Hörspiel? Ist es für Sie nicht mehr eine Art Zweitverwertung Ihrer Musiktheater oder Schauspielproduktionen?
Nein, ich versuche, daß die akustische Schicht eines Stücks selbst wenn es originär für die Bühne gemacht ist, ein so starkes Eigenleben hat, daß sie nicht unter den Bildern leidet. Das heißt, wenn man sich die Tonspur anhört, dann merkt man, daß es ein komplettes Hörspiel ist, weil die Entstehung von vorne herein so viel Aufmerksamkeit auf den verschiedenen Ebenen hat. Das heißt, ich achte auf die Entwicklung des Raumes genauso wie auf die Entwicklung der akustischen Schicht oder die Entwicklung der szenischen Möglichkeiten. Von daher kann man die Sachen trennen ohne daß sie leer oder nur illustrativ zu der anderen Schicht sind. Manchmal mache ich auch aus einem Hörspiel ein Theaterereignis, wie bei "Die Befreiung des Prometheus", das ursprünglich als Hörspiel entstand und jetzt eines der meistgespielten szenischen Konzerte ist. Zweitverwertung würde ich also meine Hörspiele nicht nennen, dazu achte ich zu sehr darauf, daß die akustische Linie meiner Stücke nicht absäuft.

Sie haben "Die Wiederholung" zusammen mit und auch für den Südwestfunk produziert. Ist das Begleitmedium Radio überhaupt noch der richtige Ort für solche Werke?
Das Radio allein ist natürlich schwierig zu durchschauen, weil man nie weiß, wer hört mit und wer hört da auch noch hin. Aber selbst wenn ich originäre Hörspiele mache, habe ich nicht nur allem das Radio im Blick. Ich mache sehr viele Hörspielveranstaltungen, wo vor 300-400 Leuten ein Hörspiel läuft, das anschließend diskutiert wird und das ist mir sehr wichtig, denn darüber bekomme ich erst mal ein Feedback und weiß wie so ein Abend funktioniert, was für ein Rhythmus hat das Stück, wann geht die Aufmerksamkeit weg, wie kann die Spannung erhalten werden, wie reden die Leute anschließend darüber. Wenn es das nicht gäbe hätte ich es mit dem Medium wieder schwerer.

Apropos wer hört hin: Sitzen in ihren Produktionen nicht immer die falschen Kritiker?
Im Fall von "Max Black" war es wieder so daß der Musikkritiker einer Zeitung kam, dem ich vorher im Interview gesagt hatte, daß "Max Black" nun wirklich ein Stück ist, was sich sehr auf das Theater richtet. Daß die Redaktionen da ein wenig verloren sind, ist das Problem der ganzen Spartenborniertheit und auch meiner sprunghaften Wechsel. "Die Wiederholung" und auch "Max Black" sind sehr auf das Schauspiel gerichtet während "Glücklose Landung" und "Schwarz auf Weiss" oder "Die Befreiung des Prometheus" mehr musikorientiert sind. Ich mag immer ganz gern diesen kompletten Wechsel. Wenn ich inszeniert habe, nehme ich anschließend meistens ein, zwei Kompositionsaufträge an, um mich wieder mehr der Musik zu widmen. Ich habe jetzt gerade ein Orchesterstück, ein großes Orchesterstück für das Ensemble Modem komponiert und mit dem Ensemble Modern ein Konzert über Hanns Eisler (Besprechung in der RHEINPFALZ vom 27. Mai 1998) gemacht.

Wie gehen Sie denn an eine neue Produktion heran?
Mein Arbeitsprozeß verändert sich. Manchmal ist es ein Raum von dem ich ausgehe, manchmal ist es ein Text, bei der "Wiederholung" war es der Text von Kierkegaard von dem alles ausging, manchmal sind es ein Schauspieler und ein Feuerwerker wie bei "Max Black", manchmal ist es ein Orchester wie in "Schwarz auf Weiss" das Ensemble Modern, bei dem mir vorschwebte ein Stück zu machen, mit einer ausgeglichenen Besetzung ohne Star, mit einem Kollektiv mit seinen ganzen Möglichkeiten, auch den theatralischen. Das Orchester sollte nicht nur im Graben sitzen. Sehr viel entsteht zusammen vor allen Dingen in einer Phase, in der ich sehr viel improvisiere und die der Produktion vorausgeschaltet ist. Das ist bei allen meinen Stücken so gewesen und das werde ich auch weiter so machen. Aus dem dabei entstandenen Material mache ich dann erst das Stück, schreibe es, bringe es in die richtige Reihenfolge, kümmere mich um die Dramaturgie der einzelnen Mittel, habe dann einen langen Tisch wo auf kleinen Zetteln alle Details drauf stehen, Kostüme, Licht, Raum, Musik, Text, das muß alles miteinander spielen. Wenn alles in einem gleichen Verhältnis zueinander steht, dann ist ein Stück eigentlich erst fertig.

Sie haben einmal davon gesprochen, daß sie alle Einfälle mehrfach begründen, bevor Sie sie inszenieren. Was bedeutet das?
Das Problem mit dem Einfall ist, daß er so durchschaubar ist und meistens nicht richtig keimt. Wenn sie in ein normales Theater gehen, dann sehen sie einfach eine Fülle von Einfällen, die der Regisseur hatte. Die könnten auch anders sein. Es gibt einfach keine Plausibilität und so wird dann auch gespielt. Das ist alles so durchsichtig und oberflächlich und ästhetisch so unergiebig, weil dann keine innere Notwendigkeit repräsentiert ist. Ich mißtraue diesen Einfällen sehr, vor allem dem Einfall ein Stück in einer bestimmten Metapher zu spielen - wir machen das ganze Stück als Zirkusnummer - das hält doch zwei Minuten, dann hat man das Stück durchschaut und langweilt sich den Rest des Abends, daraus erwachsen keine neue Erfahrungen. Jeden Klang und jedes Wort muß man mehrfach begründen können. In "Max Black" gibt es sehr viel Feuer, aber als ich mich mit der Figur des Wissenschaftlers beschäftigt habe, da wurde das sehr konkret und es gab viele Motive dafür, warum Feuer dann vorkommt. Und als das Stück fertig war, haben wir einen Text von Wittgenstein gefunden, in dem es heißt "vergleiche das Phänomen des Denkens mit dem Phänomen des Brennens" wo im Grunde die ganze Begründung, warum der Versuch Denkbewegung sicht- und hörbar zu machen, eine nicht fachidiotische Kreativität zu inszenieren, etwas mit Feuer zu tun hat. Das ist nur vorher nicht alles klar, da spielt auch Intuition eine Rolle.

Vorhin sprachen Sie von der "Spartenborniertheit der Theater und der Kritiker. Was heißt das?
In der Stadttheaterinstitution - und da ist relativ wurscht ob Oper oder Schauspiel - sind die ganzen Begriffe so fest geschrieben. Der ganze Kanon in dem geschrieben, komponiert, erzählt, gespielt und inszeniert wird, ist sehr festgelegt. Es gibt keine Offenheit nach den anderen Seiten hin und es gibt auch kein Verständnis nach den anderen Seiten hin. Gleichzeitig sind sie auch beide sehr verzweifelt. Wenn man sich überlegt, wie händeringend und auf eine gefährliche Weise Kräfte fressend sich alle Theater auf wenige Talente schmeißen, die noch gar nicht entwickelt genug sind, um diesem Druck standzuhalten, dann merkt man doch wie sehr es das Theater versäumt hat, sich um seine Zukunft, seinen Nachwuchs zu kümmern und wie wenig Kriterien die eigentlich dafür haben, was der Entwicklung der Theatermittel gut tun wurde. Da gibt es noch sehr viel Nachholbedarf auch an den Schauspielschulen und den Theaterhochschulen, die sehr im konventionellen Kanon arbeiten und gar nicht mitgekriegt haben, was in den letzten 20 Jahren passiert ist an Autonomie und Unabhängigkeit der anderen Theatermittel. Ich glaube beispielsweise auch, daß die jüngeren Komponisten alle zu sehr in ihrem eigenen System befangen sind. Sie haben schon an der Musikhochschule mit Anfang zwanzig ihr eigenes System und haben dann keinen Abstand zu dem was sie machen. Auch dieser Druck ständig Uraufführungen zu machen, ist natürlich absurd. In Deutschland gibt es jedes Jahr 50 oder 60 Uraufführungen von Opern, die dann nur einmal oder von mir aus fünf, sechs Mal gespielt werden und dann nie wieder. Warum geht man damit nicht vorsichtiger um. Nicht, daß man weniger Aufträge vergibt, sondern daß man darauf achtet, was in den letzten zwanzig Jahren an Hochgradigem entstanden ist, das das Überleben lohnt. Oder warum schreibt man nicht mal eine Oper, von der man weiß, daß man sie mal wieder hören möchte, nicht in einem kommerziellen Sinne gedacht. Aber so wie es jetzt ist, ist doch irgendetwas falsch an dieser Konstruktion, auch von der Produzenten und Veranstalterseite, die eben sagen, es muß eine Uraufführung sein. Mich rufen dauernd Leute an und 19 von 20 Anfragen lehne ich ab. Dann sage ich bei ihnen ist doch von mir noch nie etwas gespielt worden, warum nehmen sie denn nicht das oder das Stück. Nein, es muß eine Uraufführung sein. Diese Leute agieren nicht im Sinne des Publikums, sondern im Sinne einer überregionalen Presse, die sie dann wieder für die Sponsoren brauchen. Durch diese Unmasse an Uraufführungen, die auch die Komponisten unter Druck setzt, immer wieder Neues zu schreiben, wird auch das ganze Tempo erhöht und die Qualität wird immer schlechter, weil sich keiner mehr Zeit lassen kann. Man weiß dann schon von vorneherein, wie es sich anhören wird. Dafür ist doch der Betrieb mit verantwortlich. Ich versuche das Umgekehrte, ich mache ein oder zwei Stücke im Jahr. Ich habe seit "Schwarz auf Weiß" 1996 nichts Neues mehr gemacht. "Max Black" ist mein erstes Stück wieder. Ich lasse mir wirklich ein, zwei Jahre Zeit, wenn es sein muß. Was mich indes wirklich aufregt an der Institution Theater ist die Rigidität und mangelnde Flexibilität des Apparates, die Schwerkraft, die dieser gegenüber allen Veränderungen hat, die Behäbigkeit mit der oft in ihm gearbeitet wird. Da sitzen Leute minutenlang neben Telefonen die klingeln und nehmen sie nicht ab. Lichttechniker fahren die Stücke nur nach den Einsätzen und schauen gar nicht hin, was auf der Bühne passiert. Also da gibt es in den Stadttheatern einen unglaublichen Renovierungsbedarf strukturell und vor allen Dingen ästhetisch natürlich. Die Strategien, die das Stadttheater anschlägt, um den drohenden Publikumsverlust aufzufangen, die gehen ja nur in eine populistische Richtung. Die Annäherung an das Fernsehen beispielsweise, dieses extreme Anschreien das immer stattfindet. Die haben im Theater offenbar das Gefühl, daß die Reize immer mehr multipliziert werden müssen. Das Gegenteil wird Erfolg haben, die Leute werden froh sein, wenn sie mal in Ruhe gelassen werden und zugucken können.

Woraus resultiert Ihrer Meinung nach die Misere der Theater?
Es gibt beispielsweise keine Balance zwischen den künstlerischen Erfordernissen und den gewerkschaftlichen Konsequenzen. Es gibt absurde Arbeitsteilungen, die die Motivation killen, auch hat die Misere mit dem hierarchischen Konzept von Theater zu tun. Das beginnt mit dem hysterischen Regisseur, der jede Anregung von außen ausschließt und endet mit dem unmotivierten Mitarbeiter, der Dienst nach Vorschrift schiebt. Wie viel da verschenkt wird an Kreativität innerhalb des Apparates durch die Hierarchisierung der Mittel, die man auf der Bühne dann wieder durch die totalitäre Geste gegenüber dem Publikum mitbekommt, das ist schrecklich. Mir schwebt ein anderes Modell von Theater vor, davon wie es entstellt - nämlich in einem Team - aber auch von der Art wie es strukturiert ist - mit einem kleinen Team von Technikern, die sich nicht immer schichtweise abwechseln, sondern an der Produktion dranbleiben, wo man weiß wer wird derjenige sein, der in acht Tagen die Vorstellung auch tatsächlich betreut. Anderes Beispiel: Wenn man mit Licht so arbeiten will wie ich, nämlich von der ersten Probe an, damit Licht nicht nur irgendetwas dekoriert, sondern damit Licht auch ein Kraftzentrum ist, dann braucht man Probebühnen auf denen das möglich ist. Oder die Art wie ich mit Räumen umgehe, die erfordert mehr Aufwand als ein Repertoiretheater. Dort muß man ja auch eine große Oper in drei Stunden aufbauen können, das muß dann natürlich auch alles Pappmaschee sein. Bei mir hängt dann aber auch einmal eine mehrere Tonnen schwere Aluminiumpyramide von der Decke, die braucht dann eben drei Tage bis sie aufgebaut ist. Das geht dann eben nur an Häusern, wo man en suite spielt und dann eine Periode des Umbaus hat. Das geht nie im Stadttheater. Das Frankfurter TAT oder das Theatre Vidy in Lausanne, wo ich "Max Black" produziert habe, sind dagegen Modelle von denen viele Theater lernen könnten, aber das Gegenteil ist der Fall. Diese kunstorientierten Modelle, weil sie flexibel sind, werden abgehalftert ausgedünnt. Der Erfolg des TAT beispielsweise hat die Verantwortlichen in Frankfurt nicht wirklich interessiert, weil er sich nicht in Wählerstimmen äußert, sondern in internationaler und überregionaler Reputation. Und die kann man am Wahltag nicht ummünzen. Ich glaube so billig ist die Argumentation vor Ort. Ein populistisches Argument, das Frankfurter Künstler favorisiert, zieht eben besser. Oder eben der Vertragspoker spielt eine Rolle, wie einer dann die Bedingungen aushandelt. Was wirklich zählt, ist ob man als Intendant die Politiker zum Essen einlädt, aber es zählt nicht, was das Feuilleton über eine Produktion schreibt. Darüber wird man wirklich deutlich belehrt. Was zählt ist auch wer den besseren Anwalt bei der Vertragsverhandlung dabei hat und wer teurer wäre, wenn man ihn auszahlen müßte. Man kann doch das Niveau das der Frankfurter Intendant Peter Eschberg mit seinem Schauspiel etabliert hat, nach unten hin gar nicht mehr überbieten. Trotzdem hat es ihm gar nicht geschadet, im Gegenteil, er kriegt dann noch zwei Millionen Mark mehr zugesichert. Es geht einfach gar nicht um Qualität. Das Frankfurter TAT wird so in Zukunft nicht mehr der Ort sein, wo tatsächlich etwas Neues entsteht. Zur Zeit sieht es eher so aus, daß es so bleibt wie es jetzt ist, daß es nicht sachkundig verwaltet wird, weil es ein schwieriger Bereich ist, wenn man spartenübergreifend arbeitet. Das werfe ich niemanden vor, wenn er sich da nicht auskennt. Im Grunde muß dort jemand sitzen, der von allem eine Ahnung hat, das kann nicht jeder. Oder das TAT wird zum Anhängsel einer anderen Institution, das ist im Moment im Gespräch, das es Anhängsel vom Ballett oder vom Mousonturm wird und das finde ich, hat es auch nicht verdient, denn es ist wirklich etwas Eigenes im Vergleich zu dem ganzen Apparat der Stadttheater der stehen bleiben wird bis er zusammenbricht. Aber das dauert hoffentlich nicht mehr so lange.

Und was soll sich im Theater ästhetisch verändern?
Der Text muß nicht immer das allerwichtigste sein und alles andere drum herum nur Zierrat und Illustration. Die Theatermittel selber müssen eine Emanzipation ihrer Möglichkeiten erleben, das Licht wichtig werden, der Raum soll nicht nur etwas dekorieren, sondern ein Erlebnis sein, eine Konfrontation sowohl für den Schauspieler als auch das Publikum. Theater soll meiner Meinung nach nicht ein dreidimensionales Geschichtenerzählen von oben herunter sein. Deshalb liebe ich auch Bühnen, die auf dem Boden sind und bei denen die Ränge steil ansteigen. Man hat dort eine andere Gelassenheit als Zuschauer. Man schaut etwas zu und wird nicht so bombardiert. Am schlimmsten ist es ja in den Musicals, die den totalitären Charakter von Kunst sozusagen auf die Spitze treiben, oder sagen wir besser den totalitären Charakter von Kunstgewerblichkeit. Für den Zuschauer ist da kein Raum, selber eine Erfahrung zu machen. Eine Oper beispielsweise bei der zwei Jahre vorher die Partitur abgeben werden muß, ist nicht wirklich interessant, weil sie immer nur das widerspiegeln kann, was der Komponist sich in seinem Stübchen irgendwann ausgedacht hat. Das ist so beschränkt kleinkariert und überschaubar, wie der Kopf dieses Komponisten. Deswegen habe ich bisher auch Opernaufträge abgelehnt, weil ich da nicht die Bedingungen habe, so etwas zu erarbeiten. Es liegt auf der Hand, daß sich die Strukturen ändern müssen bevor sich die Ästhetik ändern kann. Das Aufpfropfen von ästhetischen Veränderungen auf die alten Strukturen funktioniert nicht wirklich.

Ein Appell an die Kulturpolitiker?
Der Vorgang ist nur von Innen zu begreifen und so komplex, daß man ihn als Kulturpolitiker wahrscheinlich nicht verstehen kann. Selbst in der Theaterlandschaft begreifen viele Leute nicht, wie das TAT funktioniert hat. Es ist überhaupt ein Problem, daß die Politiker hierzulande lieber einen Marathonlauf mitmachen, als ins Theater zu gehen, das ist in Frankreich übrigens anders. Dort sieht man die Politiker im Theater und in den Konzerten und merkt sogar, daß sie sich dafür interessieren, daß das nicht Wahlkampftaktik ist. Hier ist das doch undenkbar. Wenn das hier wirklich einmal passiert, dann ist das doch eine Marotte, die der Politiker besser verschweigt, um keine Stimmen zu verlieren.

Ist das Problem der Institution Theater auch ein Problem der Kritik?
Der Mut zu Unbekanntem ist hier jedenfalls extrem dünn besaitet. Kultur als ein Wagnis, als etwas Aufbrechendes zu begreifen, Kultur als ein Rätsel mit dem man sich beschäftigen kann, ohne die Lösung auf der Hand zu haben, das hat sich selbst bei den Kritikern noch nicht rumgesprochen, die wollen die Stücke immer nur erklären, sogar mir erklären sie dann in den Kritiken wie ich es gemeint haben könnte. Dabei geht es mir darum, bestimmte Erfahrungen mit einem Themenkomplex zu teilen. Das Publikum erlebt das auch so. Die Kritiker haben es noch nicht kapiert, die werfen sich nur auf die Quellen und schüchtern das Publikum im nachhinein noch einmal ein, daß es das Stück nicht richtig verstanden hat. Mir geht es nicht um diesen Begriff von Verstehen, der immer davon ausgeht, daß man alles was man sieht auf das reduziert, was man schon kennt. Mir geht es auch darum, auch mal etwas zu machen, was man nicht versteht. Es wäre mir wichtiger, daß man etwas erfährt oder erlebt. Ich will das Publikum weder verstören noch belehren, noch schockieren. Ich will auch nicht, daß es sich unbequem fühlt, das ist mir fremd.

Haben ihre Arbeiten politische Intentionen?
Heiner Goebbels: Ich habe mich mit meinen Arbeiten eingemischt, auch mit dem Sogenannten Linksradikalen Blasorchester, mit Cassiber oder Stücken wie "Berlin Qdamm 12.4.81" oder "Wolokolamsker Chaussee", aber nie indem ich jemand etwas vorgespielt habe, durch das er sich bestätigt fühlen konnte. Das hat mich nur gelangweilt. Bei Rock gegen Rechts 1980 etwa haben wir einen Text von Michael Kühnen vertont, der auf große Konfrontation stieß, weil es uns nicht darum ging, uns wie in der Kirche an den Händen zu fassen. Da ging es um den Punkt einen Text als Erfahrung zu nehmen und nicht als Bekenntnis. Das ist, glaube ich, eine ganz wichtige Unterscheidung. Politische Verlautbarungen sind für die Kunst unerheblich.