August 1996, Hans-Thies Lehmann
Interview (de)

Dass es Verwandlungen gibt

Heiner Goebbels im Gespräch mit Hans-Thies Lehmann
Vorbemerkung von Hans-Thies Lehmann

Heiner Goebbels, Jahrgang 1952, ist eine der auffallendsten und interessantesten Gestalten des deutschen Theater- und Musiklebens. Seine Arbeitsweise ist durch die Elemente "konzeptionelles Komponieren" (ein Begriff von Goebbels selbst), interdisziplinäre Grenzüberschreitungen zwischen Theater, Literatur und Musik sowie eine reflektierte, "postmoderne" Verfügbarkeit unterschiedlicher musikalischer Stile und Traditionen gekennzeichet.

Seine Werke und Inszenierungen sind Erkundungen der Grenzstreifen, die die musikalischen Welten, die Theater und Musik, die schließlich literarische und musikalische Gesetzlichkeiten trennen/verbinden. Überblickt man das reiche Werk von Goebbels, so springt ins Auge, daß literarische Texte, und zwar solche des obersten Rangs, darin einen prominenten Platz einnehmen. Einerseits und vor allem in den 80er und 90er Jahren selbständige Kompositionen in Auseinandersetzung mit großen zeitgenössischen Texten, andererseits Bühnenmusiken u.a. zu Hölderlins "Antigone" (1979, Regie Christof Nel), Goethes "Iphigenie" (1979, Regie Hans Neuenfels), Büchners "Woyzeck" (1980, Regie Matthias Langhoff), Kleists "Hermannsschlacht" (1982, Regie Claus Peymann), Büchners "Dantons Tod" (1989, Regie Ruth Berghaus). Kaum zufällig war es der am 30.Dezember 1995 verstorbene Heiner Müller, insbesondere dessen von antiken Mythen inspirierte Texte, dem viele der kompositorischen Entdeckungsfahrten von Heiner Goebbels in den letzten zehn Jahren galten: 1984 "Verkommenes Ufer", 1985 "Die Befreiung des Prometheus", 1987 "Der Mann im Fahrstuhl"; ebenfalls 1987 die Aktion "Maelstromsüdpol" mit Erich Wonder und Heiner Müller, mit einem Textkondensat aus Poe von Müller; 1989 "Wolokolamsker Chaussee I-V", 1995 "Der Horatier - Roman Dogs". Das "Vergnügen" des Komponisten an den Texten Müllers rührt daher, daß die Texte "Formangebote" beinhalten, daß eine jeweils andere musikalische Form aus ihnen "herauszulesen" ist. Komposition wird ein Verfahren der Lektüre.
Mit einer hellen, brechtschen Geste verlangt Goebbels vom Konponisten heute, sich vom Fremden, also vom Theater, vom Text provozieren zu lassen. Andererseits bewahrt er eine Distanz, die ihn aber nicht hindert, nach der Devise "Ich habe nicht das Gefühl, ich muß immer meine eigene Musik schreiben" immer wieder das Problem aufzuwerfen, wie man kommunizieren, Erfahrungen weitergeben kann.

HTL: In Deiner Theaterarbeit ist die Beziehung von Regie, bildender Kunst und Musik sehr deutlich. Was eigentlich kann Leute, die inszenieren wollen, an der bildenden Kunst anziehen? Kommt da nicht, könnte man doch fragen, eine Art Konkurrenz ins Haus, weil der Künstler, zumal wenn er eine starke Handschrift besitzt, eine eigene Logik in die Sache bringt?
HG: Meine Zusammenarbeit zum Beispiel mit Magdalena Jetelová oder mit starken Bühnenbildnern wie Michael Simon und Erich Wonder hat nicht vorrangig den Grund, daß es nun unbedingt die 'bildende Kunst' sein muß. Mich interessiert ein Theater, das nicht die Zeichen beständig vervielfacht. Wenn ich über einen Fluß oder einen Baum spreche, muß ich ihn nicht noch auf der Bühne sehen; es reicht, wenn man das hört. Aber in einer konventionellen Inszenierung höre ich einen Text, und der Schauspieler, der auch das entsprechende Kostüm anhat, spricht den Text so, wie er sich vorstellt, daß er gesprochen werden müßte; das Bühnenbild illustriert die Szene, das Licht bringt es noch in die richtige Stimmung, und vielleicht ist da vorher noch ein bißchen Musik, um einen richtig vorzubereiten - also man hat mindestens siebenmal dieselbe Information. Mich interessiert es, ein Theater zu erfinden, wo all die Mittel, die Theater ausmachen, nicht nur einander illustrieren und verdoppeln, sondern wo sie alle ihre eigenen Kräfte behalten, aber zusammen wirken, und wo man sich nicht mehr auf die konventionelle Hierarchie der Mittel verläßt. Das heißt, wo ein Licht so stark sein kann, daß man plötzlich nur noch dem Licht zuschaut und den Text vergißt, wo ein Kostüm eine eigene Sprache spricht oder ein Abstand zwischen Sprecher und Text da ist, und eine Spannung zwischen Musik und Text. Ich erlebe Theater immer dann als spannend, wenn Entfernungen auf der Bühne zu spüren sind, die ich dann als Zuschauer zurücklegen kann. Das kann Entfernung im Wortsinn sein: ich habe zum Beispiel in der "Glücklosen Landung" schwierige Unisono-Passagen von zwei Musikern in 25 Meter Entfernung spielen lassen, damit der Blick dem musikalischen Geschehen wie einem Tennisball folgt, weil ich's langweilig finde, wenn Musiker nebeneinander sitzen und dann auch noch dasselbe spielen. Das gilt aber für alle Mittel. Und um diese möglichst starken Einzeldisziplinen aufeinanderprallen zu lassen, natürlich in einem produktiven Sinne für das Stück oder für das Thema, das man abhandelt, oder für die Erfahrung, die man machen will - wähle ich mir gerade starke Partner, die das Illustrative ebenso vermeiden wollen. Einfach aus diesem Grund arbeite ich dann auch mit bildenden Künstlern zusammen, weil ich mir da sicherer sein kann, daß sie das Allzunaheliegende vermeiden und weniger Zugeständnisse machen.

Zweifellos kann das Zusammenwirken nicht im Sinne der Redundanz der Theaterzeichen stattfinden. Wenn es aber vielmehr darum geht, daß die bildenden Künstler die autonome Realität, die Jetzigkeit des Theaterraums behaupten sollen, dann wäre eine Frage, ob man das noch weitergehend bestimmen, einzelne Elemente benennen könnte.
Es gibt dabei einen anderen Gesichtspunkt, den man etwas ausführen müßte. Mich interessiert es auf der Bühne nicht, Vorgebliches zu machen. Das heißt, ich suche nach einer Bühnenrealität, und die braucht, um Realität zu sein, auch starke Widerstände. Wenn ich eine bemalte Wand aus Pappe habe, dann kann ich mich da nicht einmal anlehnen. Habe ich eine Aluminiumpyramide, dann brauche ich beinahe die ersten zehn Minuten lang kaum zu inszenieren, weil der Blick schon so viel Widerstand hat. Auch der Schauspieler hat viel damit zu schaffen: er kann da reell reinsteigen, da kann etwas herauskommen, er kann gegen sie schlagen usw. Also ich versuche, eine Art Bühnenrealität zu erfinden, die etwas auch mit den Bauten, mit der Architektur oder Konstruktion der Bühne und ihren eigenen Gesetzen zu tun hat und die darin auch Widerstand findet.

Zur Realität des Theatervorgangs gehört natürlich erst recht seine Zeitform. Daß also die Theaterzeit, sozusagen die präsente oder präsentierte Zeit, die die Akteure mit dem Publikum "teilen", nicht verschwindet zugunsten einer nur repräsentierten, illusionierten, narrativen Zeit.
Genau. Mich interessiert zum Beispiel durchaus, daß ein Raum auch eine Bewegung formuliert, selbst eine Zeit hat: wenn beispielsweise dieser Trichter, den die Jetelová für "Ou bien le débarquement. désastreux" gebaut hat, die Möglichkeit hat, sich zu drehen, sich zu verwandeln, und diese Verwandlung eine gewisse Zeit braucht. Oder die Drehscheibe und die Fenster bei Erich Wonder in der "Wiederholung", oder die Drehbühne bei Michael Simon in "Newtons Casino" oder sein Turm in "Römische Hunde". Die machen sozusagen eigene Gesetze auf, eine eigene Zeit.
Mich interessiert auch das Symbolische wenig. Ich will es nicht ausschließen, weil natürlich alles immer auch ein Zeichen sein kann, aber für mich gilt für Text wie für Musik, als auch beim Raum: wenn eines dieser Mittel nur symbolische Bedeutung hat, nur etwas bedeutet und nicht auch an sich selbst etwas ist, dann interessiert es mich nicht.

Es müssen also die bildenden Künstler ihrerseits etwas wie die Behauptung der Realität, der Jetzigkeit des Theaterraums ins Spiel bringen.
Ja, und das ist ein ganz wichtiges Kriterium, das auch in die Richtung Installation geht, der Performance. Es gibt ja sehr viele bildende Künstler, die denken nicht in Kategorien von Zeit, sondern die errichten oder malen oder bauen etwas, und fertig. Das würde mir für eine Theaterarbeit nicht reichen. Also war ein wichtiges Kriterium in der Arbeit, auch in der Zusammenarbeit mit Magdalena Jetelová, daß es diesen Faktor Zeit, Bewegung gibt. Daß es Verwandlungen gibt.

Mich interessiert die konkrete Form der Zusammenarbeit mit Jetolova, Simon, Wonder. Wie lief oder läuft das konzeptionell ab? Was steht am Anfang? Welche Bedeutung fällt der Eigenlogik der visuellen Künstler in Deiner Theaterarbeit zu?
Also, es stand von mir am Anfang eine gewisse thematische Konzentration. Aber ich habe jetzt weder Jetelová noch Wonder mit allzuviel Texten behelligt. Es gab nur ein paar exemplarische Texte: Ungefähr das, worauf ich hinaus will, was ich zwar umkreisen, aber nicht präzise benennen konnte, weil ich es selber nicht wußte - ich arbeite immer nur an den Dingen, die ich vorher noch nicht weiß, sonst interessieren sie mich nicht. Das heißt, bei der "Wiederholung" wußte ich zum Beispiel - ohne es ganz zu begreifen: es gibt ein Dreieck von Verführung, Voyeurismus und Wiederholung. Oder bei der "Glücklosen Landung": da gibt es dieses Umfeld von Literatur, Lektüre, Fremdheit, Kolonisierung, Rückzug, in dem das Stück entstanden ist. Das habe ich denen jeweils so beschrieben, und sie haben dann darauf geantwortet. Bei "Wiederholung" wußte ich etwas präziser, daß ich eine Drehscheibe brauchte und ein Fenster; bei der "Glücklosen Landung" gab es so eine Vorgabe nicht. Und dann haben sie geantwortet mit Modellen, auch Magdalena Jetelová. Mir war dabei immer wichtig, daß es nach ihren Kriterien ein guter Raum ist, daß nach ihren Kriterien schon eine Balance von den optischen Mitteln her da ist, sozusagen ein Kraftzentrum, dem ich dann vertrauen kann. Das ist im Grunde zu vergleichen mit der Arbeit mit Erich Wonder an der "Wiederholung" oder mit Michael Simon, was den Raum anbelangt von "Römische Hunde" oder "Newtons Casino". Das Gemeinsame daran ist, daß mit der Wahl der Partner Vorentscheidungen in Bezug auf die Produktion getroffen werden - Künstler, zu denen ich sehr großes Vertrauen habe und denen ich deswegen sehr viel Spielraum lassen kann. Es gab keine wochenlange Arbeit am Bühnenbild oder ständiges Hin und Her, sondern es gab immer einige wenige Treffen, man könnte sagen es waren im Falle von 'Ou bien...' und 'Wiederholung' zwei, drei Tage, die wir da zusammen gearbeitet haben. Wobei man dazusagen muß, daß ich Erich Wonder seit fast 20 Jahren kenne und wir auch in dieser Zeit immer wieder zusammen gearbeitet haben, uns und unsere Arbeitsweisen also sehr gut kennen. Die Zusammenarbeit mit Michael Simon war allerdings ungleich intensiver, wir haben beide Stücke auch zusammen inszeniert.

Also man könnte sagen: zuerst ein thematischer Ansatzpunkt, dann eine erste Verständigung, daraufhin sozusagen der Auftrag...
Genau.

...und dann deine Reaktion auf die Räumlichkeit. Im ersten, zweiten oder dritten Anlauf gibt es dann einen Raum...
...dann akzeptier' ich den...

...und dann setzt die Dimension der Rhythmisierung ein...
...und der Inszenierung. Und daran sind sie dann nicht beteiligt. Also weder Wonder war viel auf Proben - die sind dann sozusagen meine Sache - noch Jetelová; sie kamen vielleicht ein, zwei Mal, Wonder in den letzten Tagen mehr, weil er auch das Licht entworfen hat.

Aber man kann sagen, daß für das Zustandekommen der Inszenierung eine Art von räumlich visueller, architektonischer Setzung eine enorme Bedeutung als Ausgangspunkt hat, der möglicherweise den thematischen Ansatzpunkt noch einmal verschiebt und neu beleuchtet.
Kannst du dich an konkrete Beispiele erinnern, wo, sagen wir, eine visuelle Vorgabe oder ein Element oder eine Idee von Simon oder Wonder deiner thematischen Vorgabe noch mal einen neuen Kick gegeben hat?

Es ist sogar umgekehrt so, daß zum Beispiel "Newtons Casino" überhaupt ursprünglich die Idee von Michael Simon war, und die bestand zunächst hauptsächlich in der Raumkonzeption; der Raum existierte im Modell; das habe ich gesehen und sofort gesagt: "Au ja, gerne, da mach' ich gerne mit". Daraus ist dann auch eine gemeinsame Arbeit entstanden. Aber da ging es wirklich von Michael aus und von seinem Raum aus. Bei "Römische Hunde" war es umgekehrt, da kam der thematische Entwurf, glaube ich, von mir. Darauf hat Michael Simon dann mit dem sich schräg drehenden Turm reagiert.
Bei der "Glücklosen Landung" war die Diagonale als bestimmendes, ich möchte fast sagen: als musikalisches Kompositionsprinzip ein Impuls von Magdalena Jetelová. Ich kannte das Modell, bevor ich die Arbeit mit den Musikern begann, bevor ich komponiert habe, und ich glaube, da ist ganz viel entstanden als ein Reflex auf Perspektiven, Fluchtlinien und diese Winkel in dem Raum, ganz bestimmt.

Wenn man noch mal versucht, ein Stück weit historisch zurückzugehen, dann ist natürlich dieser Versuch, mit der Evidenz und - pathetisch gesagt - mit der Wahrheit des Bühnenraums umzugehen, aus ihm den künstlerischen Funken zu schlagen und nicht aus noch so kunstvoll veranstalteten Illusionierungen...
Ja.

...dann ist das natürlich etwas, was seinen Anfang schon in den historischen Avantgarden zu Beginn des Jahrhunderts hat, später weitestgehend wieder verloren gegangen ist. Vieles ist erst in der Neoavantgarde der 60er, 70er Jahre wieder in Gang gekommen. Ich habe nur das Gefühl, daß sich nach den großen Erfindungen für das Neue Theater in den 60ern, dem Ausbau einer neuen visuellen Autonomie der Bühnen in den 70ern, bereits in den 80er Jahren vielerorts eine Art von recycling der neuen Methoden in den etablierten Theatern abgespielt hat. Obwohl jedes Theater jetzt großen Wert darauf legt, daß es irgendwie eine fabelhafte illuminierte Bühne hat und mit der Hilfe der neuen Computerstellwerke beeindruckende Lichtmaschinen ins Feld führt, wird man das Gefühl nicht los, daß da auch eine kreative Erschöpfung in diesem visuellen Bereich einzutreten scheint.
Nein, komisch, ich nehme die Entwicklung nicht ganz so wahr, wie du sie beschreibst, weil ich den Eindruck habe, daß die technischen Neuerungen bei Bühne, Ton und Licht wirklich nur auf der Ebene der 'Ausstattung' Einzug gehalten haben. Daß man zwar ein gewisses optisches Niveau verlangt, aber daß dieses nie, vielleicht nicht mal in den 60er oder 70er Jahren, strukturell begriffen wurde. Daß Licht auch ein eigenes Mittel ist, mit dem man Theater erfinden kann: diesen Eindruck habe ich selten. Und auch wenn ich als Theaterkomponist mit Regisseuren gearbeitet habe, war meine Erfahrung immer so, daß im Grunde ohne Licht probiert wird, und man hinterher das, was man probiert hat, schön beleuchtet. Das macht man jetzt schöner als früher, aber man arbeitet nicht so, wie es Wilson tut oder wie ich es zum Beispiel auch in meiner Zusammenarbeit mit Jean Kalman immer versuche: daß man von Anfang an das Licht dabei hat, teilweise auch vom Licht her erfindet, vom Licht aus denkt, vom Licht aus Sachen überhaupt erst möglich macht. Diesen Eindruck habe ich nie gehabt, wenn man von Wilson und bestimmten Einzelfiguren absieht. Das gilt letztlich für die meisten Theatermittel. Und es geht eigentlich nur dann, wenn Bühne und Licht tatsächlich in der Hand derer liegen, die es dann auch inszenieren. Zum Beispiel die großen Bühnen von Schleef in den 80er Jahren waren stark, weil er sie als bildender Künstler erfunden und auch als Regisseur inszeniert hat. Bei Wilson ist es auch so; es gibt sicher eine Handvoll, die man da nennen könnte. Aber da die Arbeitsteilung fortschreitet und die Arbeit so festgeschrieben ist, sind in der Regel die Inszenierungen strukturell von der Arbeit der Lichtkünstler, Bühnenbildner oder Komponisten nicht wirklich berührt. Das Problem geht noch weiter. Das Regiegewerbe hat ja kein Handwerk. Oder sagen wir, es hat nur ein intuitives, schwer zu definierendes Handwerk, das darin besteht, Personen auf der Bühne hin- und herzuschieben, und sie dazu zu motivieren. Aber es hat weder das Handwerk, mit Musik wirklich produktiv und ausgewogen und balanciert zusammenzuarbeiten, noch hat es ein Handwerk - was die bildende Kunst betrifft - mit Räumen künstlerisch umzugehen, und deswegen verändert es sich und das Theater auch so wenig.

Unpublished.