June 1994, Thomas Kühn, Keys
Interview (de)

Experimenteller Komponist und Grenzgaenger

Heiner Goebbels, ein ehemaliger Soziologiestudent, ist zweifelsohne einer der wichtigsten experimentellen Komponisten unserer Zeit. Mit radikaler Deutlichkeit erkundet er mit seinen Werken Grenzen des Zeitgeschmacks und sucht auf künstlerischem Weg nach immer neuen Möglichkeiten zur Auseinandersetzung.

Seine aktuelle Arbeit „...oder die glücklose Landung” schildert drei unterschiedliche Begegnungen des Menschen mit der Natur und neuen Welten. Für die Realisation dieses Stückes verband er auf äußerst unkonventionelle Weise Text, Musik, Raum mit den verschiedensten musikalischen Stilrichtungen. Dabei ist eine Produktion ent- standen, die sich anschickt, die Genregrenzen zwischen Konzert, Theater, Performance und Lesung aufzuheben. KEYS traf den Grenzgänger anläßlich einer Aufführung des Werkes im Münchhner Marstall-Thealer.

KEYS: Wie würden Sie Ihren bisherigen künstlerischen Weg beschreiben?

Goebbels: Ich habe auf meinem musikalischen Weg so viele ver- schiedene Stationen in den unterschiedlichsten Richtungen durchlaufen, daß ich sie mit ein paar Worten nicht beschreiben könnte. Doch seit kurzem bin ich bei einem Punkt angelangt, an dem die verschiedenen Wege, die ich beschritten habe, zusammenführen. Dafür stehen beispielsweise meine Erfahrungen als Musiker bei vielen Konzerten in verschiedensten Ländern. Wir haben viel in subkulturellen Bereichen gespielt, wie in Iugendzentren, auf Demonstrationen in den siebziger Jahren oder auf Jazz-Festivals. Zu dieser Zeit war ich aber auch im Hochkulturbereich tätig, da ich schon immer parallel als Theaterkomponist gearbeitet habe. Berührungskonflikte hat es hier allerdings nie gegeben, wahrscheinlich haben es die Leute einfach nicht bemerkt. Für die Regisseure, mit denen ich gearbeitet habe — etwa Neuenfels, Langhoff oder Berghaus — spielte die Konzerttätigkeit keine große Rolle. Die Leute wiederum, die zu den Konzerten kamen, wußten meistens nicht, dass ich an den großen Sprechtheaterbühnen gearbeitet habe. Für mich waren diese beiden Standbeine sehr wichtig, weil ich zum einen die Kraft der Musik aus der Konzerterfahrung in die Theaterarbeit einbringen konnte, andererseits das Wissen um die Dramaturgie und Wirkungserfahrung im Theater wieder meinen Konzerten zugute kam. Anfang der achtziger Jahre erweiterte ich mein Wirkungsfeld um Hörstücke. Hier konnte ich den Umgang mit Texten üben und zugleich eine möglichst dichte Verzahnung zwischen den Bereichen Text und Musik exemplarisch durch— arbeiten. Deswegen kann ich bei einer Produktion wie beispiels- weise in dem Stück oder die glücklose Landung” versuchen, diese drei Stränge, Theatermusik, Konzert und Hörstücke, gleichzeitig auf die Bühne zu bringen. KEYS: Der Zugang zu Ihren Arbeiten fallt nicht immer leicht. Wie gehen Sie hier mit der Publikumserwartung um?

Goebbels: Ich glaube, da muß man ein wenig unterscheiden. Der Zugang erschwert sich vor allem auf dem Weg der reinen akustischen Übertragung. Meine Musik hat sich nicht für Medien wie Schallplatten, sondern aus dem eigenen Spiel heraus ent- wickelt. Ich hatte immer den Ein- druck, daß auch ein zufälliges Konzertpublikum viel unbefangener und naiver mit dem Programm umging als der reine Plattenhörer. Ich habe die Intensität im Konzert nicht um ihrer selbst willen entwickelt, sondern aus einem musikalischen, inhaltlichen oder dramaturgischen Grund. Sobald man diesen Grund erkennt, ist die Radikalität, Sperrigkeit oder wie man es auch immer nennen will, kein Manko mehr. Es ist wie bei einer Filmmusik: In Verbindung mit dem Bild erschließt sich die Musik dem Hörer viel eher, als
wenn sie nur auf Schallplatte zugänglich wäre.

Deswegen sind möglicherweise auch meine Musiktheater-Produktionen so gut besucht. Hier kann ich die Bedingungen, die Entstehung der Musik, transparent machen. Auf diesem Weg kann ich, und das ist eine der schönsten Erfahrungen, meine Musik einem sehr breiten Publikum zumuten, das sonst mit meiner Musik nie etwas zu schaffen hatte und jetzt einiges entdecken kann.

KEYS: Wie entsteht eine Produktion von der Art „... oder die glücklose Landung"?

Goebbels: In der Regel beginnt es mit einem Auftrag, auf den ich mit einem bestimmten Wunsch reagiere. In diesem Fall war es ein Auftrag aus Paris und der Wunsch, mit André Wilms, einem wunderbaren und sehr musikalischem Schauspieler, sowie mit afrikanischen Musikern zu arbeiten. Dann habe ich innerhalb dieses Rahmens nach Texten gesucht. Die weitere Suche galt einer Künstlerin. die das Bühnenbild installiert. Insgesamt habe ich wohl vom konzeptionellen Beginn bis zur Aufführung zwei Jahre lang an diesem Stück gearbeitet. Trotzdem hatte ich bei Beginn der Proben noch keine einzige Note geschrieben. Wir improvisierten vierzehn Tage lang, worauf ich mich dann zwei Monate lang zur Komposition zurückzog. Danach probten wir für weitere vier Wochen an der Fertigstellung des Stücks.

KEYS: Sind die Klänge und Geräusche für das Stück genau festgelegt?

Goebbels: Ja, alles ist komponiert. Ich habe allein zwei Wochen lang nur Klänge ausgesucht, bearbeitet und gesampelt. Der erste Schritt war im Grunde, mit Xavier Garcia (dem ausführenden Keyboarder, d. Red.) ein Repertoire von Klängen zu erarbeiten, die mit dem Stück zu tun haben, sich mit ihm verbinden lassen — mit dem Konzept, dem Raum, den anderen Instrumenten. Hier gibt es für mich keine Beliebigkeit. Ich arbeite immer sehr stark mit den Beteiligten, um nicht Dinge zu verlangen, die später aufgesetzt wirken würden. Ich versuche alles für oder mit den Beteiligten zu entwickeln. Nachdem ich die Musik des Koraspielers Boubakar Diebate und der Sängerin Sira Djebate kennengelernt hatte, begab ich mich auf die Suche nach den passenden elektronischen Klängen. Ein Kriterium dieser Arbeit war, Holz- klänge zu finden. Viele Klänge, die vom Sampler kommen, ha- ben mit Texten zu tun, in denen Bäume und Wälder eine große Rolle spielen.

KEYS: Sie arbeiten seit geraumer Zeit eng mit dem „Ensemble Modern" zusammen. Wie hat sich dieses Verhältnis entwickelt? Goebbels: Mein erstes Stück mit Ensemble Modern, die Ballettmusik „Red Run”, ist in direkter Zusammenarbeit entstanden. Das war auch wichtig, denn ich hatte am Anfang eine große Distanz zu diesem als akademisch geltenden Ensemble. Die Zusammenarbeit war sehr wichtig, um diese Voreingenommenheit aufzubrechen. Die ungeheure Motivation, die diese Musiker haben und auch die Neugierde, der Reichtum an Angeboten wirkte auf mich sehr stimulierend. Das hat dann auch für Folgeprojekte viele Energien freigesetzt. Die nächsten Stücke für das „Ensemble Modern" sind dann von mir komponiert worden. KEYS: Noch einmal zurück zur „... glücklosen Landung”. Wie kam die Auswahl der Instrumente zustande?

Goebbels: Die Zusammenstellung der Instrumente entstand intuitiv. Dennoch ist in ein gewisser historischer Bogen enthalten. Es beginnt mit der Kora als eine Art Naturinstrument, dann kommt ein „Daxophon", was Hans Reichel in Wuppertal erfunden hat. Das ist ein Stück Holz, was mit einem Bogen angestrichen wird und eine unglaubliche klangliche Breite entwickelt. Außer- dem ist die Posaune als mechanisches Instrument vertreten und schließlich ein Computer beziehungsweise die Synthesizer, die die technische Seite abdecken. So sind im Grunde ein Quer- schnitt verschiedener musikgeschichtlicher Stufen bezüglich der Instrumentenbeherrschung und des Instrumentenbaus repräsentiert. Das geschah aber, wie schon vorher erwähnt, intuitiv. Den Zusammenhang habe ich erst später entdeckt.
Wenn man die Eckpunkte vorher absteckt, innerhalb denen sich ein Projekt bewegen soll, dann lassen sich innerhalb dieses Rahmens spontane Entscheidungen treffen, ohne daß man sich vom Ziel entfernt.

KEYS: Was reizt Sie an Hörspielen?

Goebbels: Das ist das Zusammenspiel von Text und Musik. Beide Elemente kann man im Studio natürlich auf sehr enge Weise montieren. So etwas ist auf der Bühne extrem schwierig zu realisieren, auf jeden Fall nur mit Schauspielern wie beispielsweise André Wilms. Ich glaube, man würde Monate brauchen, wenn man im herkömmlichen Theater etwas auf diese. Weise erarbeiten wollte. In diesem Bereich hat das Theater den größten Entwicklungsbedarf. Die Verbindung von Texten, Aktionen und Musik kann entscheidende Impulse bieten. Ich selbst habe das als Theaterkomponist nur mit Ruth Berghaus erlebt, die sich auf diesen Prozeß einlassen konnte. Für die meisten Regisseure ist ist dies ein viel zu musikalischer Vorgang. Sie sind der Meinung, der Schauspieler muß immer selbst das Kräftezentrum sein. Wenn man eine harte Musik dazwischen schneidet, dann stimmen ihrer Meinung nach die Kräfteverhältnisse nicht mehr. Dabei muß man nur André Wilms sehen, um zu erkennen, daß das nicht stimmt! Im Gegen- teil, man kann den Schauspieler plötzlich sehr stark spüren, ob- wohl oder gerade weil er durch die Auseinandersetzung mit der Musik so einen starken Partner hat. Diese Verfahrensweise habe ich erst bei den Hörstücken erarbeitet und ich versuche nun, diese Erfahrungen auf die Bühne zu übertragen, wie etwa bei „Der Mann im Fahrstuhl".

KEYS: Das Eingreifen, die Reaktion aufeinander scheint für Sie kein wesentliches Element zu sein?

Goebbels: Im Gegenteil. Ich denke, das ist ein wichtiger Mechanismus, um eindeutige Illustrationen und Hierarchien zu vermeiden. Wenn Musik einen Text nur begleitet oder umgekehrt, dann wird eines der Elemente in den Hintergrund gedrängt. Ich glaube, es muß eine transparente Konfrontation sein, damit alle Elemente ihre Kräfte entfalten können. Das Licht muß ein ebenso starker Partner sein wie das Bild, der Darsteller, der Text oder das Geräusch. In meinem Stück ist alles auf eine recht komplizierte Weise miteinander verknüpft — etwa die Entwicklung des Textes, der Musik, des Raumes, des Lichtes; aber auch die Entwicklung der Beziehung europäischer zu afrikanischer Musik. Das bedeutet in diesem Fall ein Aufeinanderzugehen, ohne daß die Elemente zu einer konturlosen Form verschmelzen.

KEYS: Würde das Stück auch ohne Computer/Sampler funktionieren? Welche Notwendigkeit besitzt er?

Goebbels: In einem meiner vorherigen Stücke „Römische Hunde” mit Michael Simon werden vom Sampler Ausschnitte aus Opern von unterschiedlichsten Längen eingespielt. Diese Phrasen wären theoretisch auch von einem Orchester spielbar gewesen wären. In „. .. oder die glücklose Landung" ist die Auswahl der Klänge so umorchestral, daß deren natürliche Herstellung, wie etwa mit einem elektrifiziertem Streichquartett, Holzplatten und dergleichen sehr schwierig gewesen wäre. Im Prinzip ist bei mir die Arbeit mit dem Sampler nur eine Vereinfachung einer musikalischen Arbeitsweise, die auch ‚anders denkbar ist. Ich habe imim mit Tonbändern „gescratcht”, mit Bandschnipseln gearbeitet. Der Sampler hilft mir, diese Prozesse zu beschleunigen und zu präzisieren. Außer dieser Verfügbarkeit hat er mir keine völlig neuen Perspektiven eröffnet. Auf der Bühne ist für mich die Frage, ob man die Entstehungsart bestimmter Klänge sehen soll oder nicht, sehr wichtig. Auch dic Präsenz eines Musikers muß einen Grund haben. Es gibt sehr wohl Situationen, wo ich die Musiker nicht zeige. Schließlich muß man nicht alles sehen. Natürlich ist es interessant und auch möglich, vieles von echten Musikern spielen lassen. Die Radikalität meiner Stücke ist aber letztlich Ausdruck neuer Technologien, etwa der Geschwindigkeit einer bestimmten Schnitttechnik. Hier spiegelt sich in der Musik der Stand der Computertechnik, darum kann in vielen Fällen der Sampler das ideale Musikinstrument sein. Durch den Fortschritt der Technik entwickelt sich eine neue Ästhetik sowohl beim Spieler als auch beim Hörer. Das Live-Spiel kann dadurch nur gewinnen.