1 January 2000
Material (de)

Material

"Er erträgt Musik nicht mehr, er ist so voll von unausgenützten Geräuschen" Elias Canetti (aus: Die Provinz des Menschen) "Musik und Dichtung langweilen mich schon nach kurzer Zeit - denn es ist mir unerträglich, vorherzusehen, über mich ergehen zu lassen, ohne zu antworten - nicht selbst die Initiative zu ergreifen. Ich liebe sie nur in ganz kostbaren Bruchstücken – Modellen" Paul Valerie (aus: Cahiers) Natürlich schreibe ich selbst gar kein Tagebuch, dafür bin ich zu ungeduldig. Aber es waren immer die nichtdramatischen Texte und unter diesen besonders die tagebuchartigen Aufzeichnungen, die mich für meine musiktheatralischen Arbeiten und Hörstücke inspiriert haben: die Sudelbücher von Georg Christoph Lichtenberg, das Kongotagebuch Joseph Conrads, die Ausgrabungsberichte von Heinrich Schliemann, die Cahiers von Paul Valerie, ‚das Notizbuch aus dem Kiefernwald‘ von Francis Ponge, 'Walden' von Henry Thoreau und in letzter Zeit sind es die Aufzeichnungen Elias Canettis. Vielleicht liegt der Grund dieser Anziehung in dem, was der französische Schriftsteller Maurice Blanchot bei dieser Textsorte ausmacht: "Das Tagebuch verwurzelt die Regung zu schreiben in der Zeit, in der Demütigkeit des datierten und durch sein Datum aufbewahrten Alltäglichen [...] es wird unter dem Schutz des Ereignisses gesagt, es gehört den Umständen an, den Zwischenfällen, dem Verkehr der Welt, einer aktiven Gegenwart. Maurice Blanchot (in: Die wesentliche Einsamkeit) Bei dieser Aufzeichnungsform reizen mich zwei Aspekte, die einer symphonischen Form, einem großorchestralen Stück zu widersprechen scheinen: die Kürze und Direktheit der persönlichen Notiz und die Perspektive auf das, was Blanchot eine ‚aktive Gegenwart‘ nennt. Die gespeicherten Klangdokumente (Samples) sind Aufzeichnungen der vergangenen Jahre (1992-2002), von denen einige im Zusammenhang mit meinen Kompositionen und Musiktheater-Arbeiten entstanden sind: in den Proben mit Les Percussions de Strasbourg ("...meme soir.-"), mit Eric Sleichim und dem belgischen Blindman Saxophon Quartett ("Stadt Land Fluss"), mit dem britischen Schlagzeuger Chris Cutler ("Cassiber"), mit der japanischen Shamisen Spielerin Yumiko Tanaka ("Hashirigaki"), mit Musikern des Ensemble Modern ("Schwarz auf Weiss" und "Walden"), mit dem Schauspieler Andre Wilms ("Max Black") u.a.; "Aus einem Tagebuch" ist nicht mißzuverstehen als direkt lesbares Material oder als spektakuläre Eintragung, sondern als die Beschäftigung mit oft nebensächlichen Geräuschen 'im Namen der Dinge' (Francis Ponge): dem Klang der Speichen eines alten Fahrrads, oder der Spiralfeder eines Stoßdämpfers, eine Murmel in einer Schale, dem unwiederholbaren Rest eines Instrumentalklangs etc. So ist Maschinelles und Organisches gleichermaßen Ausgangspunkt dieser Notierungen. Die eigentliche Herausforderung scheint mir ohnehin in der Form zu liegen: einer großen Anzahl (ca. 15-20) von zum Teil sehr kurzen, und auf den ersten Blick unabhängigen Einzelbildern, die durch ein gleichbleibendes, immer wiederkehrendes Signal voneinander getrennt sind. H.G. 2003

on: Aus einem Tagebuch (Composition for Orchestra)