1 January 2000, Heiner Goebbels
Material (de)

Werkkommentar

timeios Platon beschreibt inTimeios, einer Rede über die Entstehung der Welt, auch die Entstehung von Tag und Nacht, von Monat und Jahr: die Entstehung der Zeit. . Diese Textpassage - leicht gekürzt - steht im Zentrum der Klanginstallation im ersten Raum der Ausstellung (in deutsch, englisch, französisch, italienisch, spanisch; zusätzliche Bearbeitungen in weiteren Sprachen sind denkbar und nur eine Frage der ‘Zeit’ ). Ein speziell dafür angefertigtes Lautsprechersystem projeziert die jeweilige Stimme in die Mitte unter der Kuppel. Platon hat im gleichen Text, an anderer Stelle, zu dem Begriffspaar von Idee (Vorbild / dem Seienden) und Erscheinung (Nachbild / das Werdende) noch etwas Drittes hinzugefügt, das die europäische Philosophie immer noch beschäftigt: die Chora. Sie wird vage mit Metaphern umrissen und bleibt nur schwer übersetzbar mit ‘freier Raum, Zwischenraum, Spielraum’. Er umschreibt damit einen unsichtbaren Raum, ein ’Worin des Werdens’, etwas schwer Sagbares, in dem die Worte noch unzuverlässig umherfliegen, ein Ausweichen vor der Sprache, ein sich ‘dazwischen’ Bewegendes, etwas ‘zwischen Himmel und Erde’, das der Ordnung, der Sprache, dem Sinn zwar ’Platz macht’, sie aber mit ihrer Anarchie auch bedroht. ..... Angeregt von dieser Chora möchte ich aus einem bewegten Klangraum mit vorsprachlichen und sprachähnlichen Motiven langsam den Platon’schen Text im Zentrum entstehen lassen. Das Kompositionsprinzip der Arbeit an diesem Text ist umgekehrt: alle Klangmateralien entstehen ausschließlich aus Sprache, aus elektronisch bearbeiteten Textaufnahmen - also eine Komposition ohne Instrumente, ohne musikalische ‘Erfindungen’. Nur Klänge, die entweder direkt aus der Sprache gewonnen wurden, oder aus der Klanganalyse der Sprache re-synthetisiert sind, werden dabei verwendet. Mit verschiedenen, dafür bearbeiteten Computerprogrammen werden zum Beispiel aus der Vervielfältigung winziger Sprachbestandteile (im Granularbereich) Klangflächen geschaffen, zum anderen werden die Obertöne der Sprachklänge in andere Frequenzbereiche umgewandelt (die merkwürdigerweise Vogel- und anderen Tierstimmen nicht unähnlich sind), darüberhinaus kommen Beschleunigungen und Dehnungen einzelner Textteile vor.Es versteht sich von selbst, daß die von verschiedenen Stimmen in verschiedenen Sprachen gesprochenen Texte wiederum verschiedene Klänge und damit unterschiedliche Hörstücke hervorbringen. Interessant für die Hörer ist dabei nicht die theoretische Legitimation, sondern die nachvollziehbaren, hörbaren, spürbaren Übergänge von Klangquelle (Textaufnahme) und musikalischer Operation. Alle diese Klänge kommen von acht gleichmäßig um die Kuppel herum angebrachten Lautsprechern, sind ständig in Bewegung, befinden sich gewissermaßen in kreisförmigen Umlaufbahnen, fliegen sozusagen als sprachähnliche Partikel in verschieden schnellen Geschwindigkeiten auf verschiedenen Bahnen um den Text im Zentrum....... Heiner Goebbels, Dezember 1999

on: Timée / Timeios (Installation)