1 August 2008, Heiner Goebbels
Material (de)

Werkkommentar

"Die Hälse werden im Gebirge frei! Es ist ein Wunder, dass wir nicht singen."
(Franz Kafka: Der Ausflug ins Gebirge)

Heiner Goebbels “I went to the house but did not enter” Szenisches Konzert in drei Bildern Der Titel dieses szenischen Konzertes, das mit dem weltbekannten Vokalquartett Hilliard – Ensemble entwickelt wird, signalisiert bereits, dass nicht viel passieren wird. Aber vielleicht gehört gerade das zu den Geheimnissen der Musiktheaterarbeit von Heiner Goebbels, daß sie ohne das große Spektakel auskommt und dennoch (oder gerade deshalb?) eine große Anziehung auf den Zuschauer ausübt. So beruht auch die einzigartige Intensität in den Aufführungen des Hilliard Ensembles, dessen Stimmen an mittelalterlicher Musik geschult sind, auf einer wundersam zurückhaltenden Präsenz, die sich darin sehr von der Eitelkeit unterscheidet, mit der sich ein dramatischer Gesangsstil oft an der Rampe der Opernbühne orientiert. Diese Faszination für die vokale Eindringlichkeit bildet den Ausgangspunkt für Heiner Goebbels’ jüngste szenische Komposition, die er am theatre vidy mit demselben Team erarbeitet, mit dem die meisten seiner Musiktheaterarbeiten in den letzten zehn Jahren entstanden sind: Klaus Grünberg (Raum und Licht), Florence von Gerkan (Kostüme), Willi Bopp (Ton). „I went to the house but did not enter“ ist ein szenisches Konzert in drei Bildern. Jedes dieser Bilder ist in sich abgeschlossen und jeweils einem Text der Literatur des 20. Jahrhunderts gewidmet. Obgleich streng voneinander getrennt, haben diese unterschiedlichen Texte doch Eines im Blick: einem fragmentierten anonymen ‚Ich’ viele Stimmen und Facetten zu verleihen, bei denen sich der Leser aber nicht mehr auf fest umrissene Figuren und Rollen verlassen kann. Ihre Sprache – so unterschiedlich sie auch ist - verspricht keine Sicherheit. Und allen Texten ist das Mißtrauen gegenüber linearen Erzählformen gemeinsam, auch wenn die Texte voller Geschichten sind. Diese Erzählungen geben ihren oft paradoxen Sinn nur preis, wenn wir sie als Zuhörer vervollständigen. Vielleicht ist „I went to the house but did not enter“ eine Reise, die von den unheroischen Protagonisten - „lauter Niemand“ wie Kafka sie nennt - gar nicht angetreten wird. Und sie spielt in drei Zeiten, drei Räumen, die ortlos sind - also überall und nirgends. Allen voran „The Lovesong of J. Alfred Prufrock“ eines der bekanntesten Gedichte des jungen T.S. Eliot. Schon im Titel deutet sich die glücklose Unangemessenheit des Unterfangens an: wer wirklich ein Liebeslied schreiben möchte, sollte vielleicht nicht so formell auf den korrekt buchstabierten Initialen bestehen....Und obwohl dieser Lovesong mit den besten Vorsätzen beginnt - „Let us go then, You and I...“ - scheint es nicht danach, als würde Prufrock sein Zimmer je verlassen. Von solchen Widersprüchen leben auch die anderen Texte dieses Abends: „Erzählen Sie uns genau was passiert ist!“ Wer spricht bei Maurice Blanchot in „Der Wahnsinn des Tages“? Ein Polizist, ein Patient, ein Arzt, die Schwestern, das Gesetz? Wenn das alles ein Geständnis ist oder ein Verhör, wer ist dann schuldig? Und wer hat wem ein Glas ins Gesicht geworfen? Eine Erzählung? Nein, nie wieder. Schließlich ist es bei Samuel Beckett der Sog „Auf’s Schlimmste zu!“ („Worstward Ho!“) der vielleicht am radikalsten unsere Sprache, Worte, Zeichen in Frage stellt; und das könnte tatsächlich schlecht ausgehen, wäre da nicht das ‚bessere Scheitern’ Becketts mit seiner knappen verdichteten Sprache - die Utopie der ästhetischen Form.

on: I went to the house but did not enter (Music Theatre)