4 September 2002, Christiane Tewinkel, Süddeutsche Zeitung
Review (de)

Milder Rückblick

Heiner Goebbels' "Eislermaterial" mit Josef Bierbichler

Nostalgisch zu werden, sagt Heiner Goebbels, sei für ihn die einfachste Möglichkeit gewesen, als er daran ging mit "Eislermaterial" eine Hommage an einen großen Unbekannten zu schreiben. Am Anfang steht ein Schönberg-Schüler, der sich ob seiner politischen Ambitionen mit dem Lehrer streitet. "Entsetzliche Krachs" habe er mit Schönberg gehabt, sagte Hanns Eisler später. Ende der zwanziger Jahre beginnt er, mit Brecht und dem Sänger Ernst Busch zusammenzuarbeiten. Er emigriert 1933 und erreicht 1942 die amerikanische Westküste. Zurück in Deutschland, trifft er sich mehrere Male mit dem Brecht-Schüler Hans Bunge. Auf der Grundlage von deren Gesprächen über Politik, Musik und Dummheit und unter Verwendung von Eisler-Werken hat Heiner Goebbels zusammen mit dem Ensemble Modern und dem Schauspieler Josef Bierbichler eine Hommage gebastelt, die milde zurückschaut und Eislers Musik freisetzt, entlässt, ausgelassen macht. Eisler hat "Heiterkeit, Eleganz, Leichtigkeit" für die Musik gefordert, und das "Eislermaterial" schreddert scharf an Lustigkeit vorbei. Brechts böses "Kriegslied", das Eisler für Kinderchor gesetzt hat, singt ein Ensemble aus Erwachsenen, die sich danach in einer Gruppenimpro vergnügen. Eislers knarzender Wiener Akzent und sein rollendes "R" sind ebenso zu hören: "Arbeiterorchester, Arbeitergesang, Arbeiterbewegung, Arbeiterchöre" - die Worte eines freundlichen älteren Herren, dem die Liebe zur Dialektik höchstens noch in der Repetition seines "ja und nein" anzumerken ist. Harmonium und Saxophon, die ein Gutteil des Arrangements tragen, lassen Eislers Musik noch ein wenig älter aussehen, als sie sowieso schon wirken möchte. Zugleich aber läßt Geobbels seine Instrumentalisten immer wieder mit Ansatz und Tongebung experimentieren und oft, wie etwa in der Bearbeitung des Andante aus der Suite Septett Nr. 1 oder im Arrangement von "Und ich werde nicht mehr sehen" gibt das ein feines, sprödes Salz im Klanggeschehen. Am produktivsten freilich ist Bierbichlers Stimme, die, dünn und etwas jämmerlich klingend, fast immer in zu hohe Register gezwungen wird. Bierbichler singt die "Wiegenlieder für Arbeitermütter", er krächzt die "Haltbare Graugans" so, dass man sie vom Himmel fallen hört, und er schickt der angejazzten Improvisation über das schubertsche Klavierlied vom "Sprengen des Gartens" aus dem "Hollywood Songbook" ein verwundertes Singen über Strauchwerk, Blumen und Unkraut hinterher, vor dem der Kammersängergestus anderer Interpretationen nur verblassen kann.

on: Eislermaterial (CD)