9 June 1980, Bernd Leukert, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Review (de)

Hohe Haftstrafen - guter Gefangenenchor

Ein ungewöhnlicher Opernabend fand nicht in der Oper statt. In der Batsch- kapp, der Konzerthalle des Frankfurter Kulturzentrums, hatte sich auch keine Abendgarderobe versammelt, kein Orchesterdirigent erschien, und die Titel- partie blieb unbesetzt. Die „Abrazzo Oper“, vom Jungen Forum für die Ruhrfestspiele produziert und in Reck- linghausen (wo am 27. September eine weitere Aufführung stattfindet) auch uraufgeführt, ist ein Gemeinschafts- werk von sieben Künstlern: dem be- kannten Schauspieler und Sänger Peter Franke, Heiner Goebbels (Akkordeon, Gitarre, Tenorsax, Klavier, Violoncello, Klarin'ette), Alfred Harth (Tenorsax, Klarinetten), Johannes Krämer (E-Baß, Mischung), Rolf Riehm (Klavier, Altsax, Englischhorn, Melodica), Annemarie Roelofs (Posaune, Violine, E—Baß) und Uwe Schmitt (Schlagzeug). Alle hatten sich schon vor diesem Projekt in ande- ren Formationen mit außergewöhnlichen musikalischen Bravourstu”cken einen guten Namen gemacht. Die Abrazzo Oper ist ihr erster gemeinsamer Ver- such, neue Wege durch das Musikthea— ter zu gehen. Der Verlauf des Zwei- stundenstücks ist so kompliziert, daß es kaum möglich ist, ihn zu beschreiben. Paul Abrazzo ist keine Bühnenfigur. Er ist jemand, der sich die Welt mit In— formationen aus Zeitungen, Büchern und Schallplatten zusammenbastelt (bis auf einige Gedichte, die Peter Franke zusteuerte, besteht das Libretto ausschließlich aus Fundsachen), er ist der Zuschauer und Zuhörer, das Publikum. Ihm erscheint der Gefangenenchor der Strafanstalt Straubing und säuselt deutsches Chorgut. Die Musiker kari- kieren die Szene mit einem zauberhaft komischen Slapstick -—— die Original— Polydor-Platte wird zugespielt —, während Peter Franke in die Rolle des Chorleiters schlüpft, mit zynischem Selbstverständnis die Qualität des Cho— res auf die hohen Haftstrafen zurück- führt und die Liebe der Sänger zur Freiheit und zum Wandern rühmt. Das Lachen bleibt einem bald im Halse stecken: auf dem Programmzettel ist vermerkt, daß es sich dabei um den wörtlich zitierten Covertext ebendieser Schallplatte „Der Gefangenenchor der Strafanstalt Straubing“ handelt. Das Montageprinzip macht die Oper außerordentlich abwechslungsreich. Den lauten Kalauer findet man darin ebenso wie die stille Poesie, die drama- tische Steigerung wie die groteske Lo- gelei, die pastose Parodie wie das Inne— halten in. Schmerz und Trauer. Das sind wahrhaft shakespearesche Dimensio- nen, die durch die musikalische Aus- weitung noch verschärft werden. Stili- stische Grenzen kennt das Opern— ensemble nicht. Die neue Volksmusik aus Mainz wie es singt und lacht gehört ebenso zum musikalischen Konzept wie das Bach- sche Rezitativ. samt der Arie, die Free- Jazz-Kommentare, die fugierten Chorsätze, der Rock, das Strophenlied zur Gitarre, die strengstrukturierten neuen Instrumentalkompositionen oder der expressive Gesang der frühen Avantgardisten. Die Musik ist keine freundli- che Beigabe, sondern greift gezielt in den Textinhalt ein, stützt ihn satirisch, verzerrt ihn bis zur Kenntlichkeit, entdeckt ihn mit Verweisen auf Vergan- genheit und Gegenwart. Einen bedrohlich-furiosen Verlauf nimmt etwa eine Collage aus zwei Zei— tungstexten: ein Tourneebericht aus der Musikzeitschrift „Popcorn“ mit dem Titel „Die neue Bombenshow der . Teens“ und die Reportage einer Be- freiungsaktion aus „Bild am Sonntag“ mit der Schlagzeile „USA: Jetzt erst rechti“. Die Verzahnung von Showbusi- ness und militärischem Überfall zum Drama „Die Teens in Teheran“ wurde von Peter Franke mit theatralischer Emphase vorgenommen: sein Gesang enthüllte nicht nur die billige Sensa- tionsmache anläßlich zweier ungleich- wertig martialischer Ereignisse, er legte auch den Entmündigungsprozeß offen, den deutsche Journalisten oft bei ihren Lesern betreiben, gerade wenn es um deren lebenswichtige Interessen geht. Da gibt die Musik vor, die beiden „Sujets“ zu illustrieren, spielt aber unver- sehens doppeltes Spiel: Rockmusik und Blasmusik fließen in schreckender Show zusammen. Die starken Oberflächenreize der Oper, die nicht nur von aktuellen Themen (dem selbstherrlichen, gesellschaftssanitären Denken des BKA, dem Zufälligen Tod durch die Polizei, dem Märchen von Fortschritt durch die Industrie) ausgelöst werden, sondern vor alle-m durch die unterhaltsame Präsen- tation, überblenden zumeist die eigent- lichen Pointen, den tieferen Sinn der Szenen, so daß einen oft im nachhinein erst klar wird, daß sich die Bedeutung des Dargestellten längst geändert hat ~ daß die eigene, schnelle Reaktion in die Falle geraten ist. Die kabarettisti- sche Arbeitswe1'se.ist durchgängig, oft wird sie von den Findlingen selbst an- geboten: „Manche Frauen sind vom Schicksal geschlagen“, heißt es da, aber die mitfühlende' Beschreibung bietet zuletzt als Hilfe eine Droge an. Kompo- niert wurde ein Werbetext einer Arz— neimittelanzeige in Illustrierten. Vieles bleibt fragmentarisch, wird ohne Umschweife ineinandergeschoben und zum Mosaikstein in einem Gesamt- bild bundesdeutscher Med1'enw1r'klich- keit: da waren Profis am Werk, die es verstanden, den glänzenden Perfektionismus zu vermeiden und doch mit je- dem Kunst-Griff zu überzeugen. In die- ser Oper kann Paul Abrazzo so nach- haltig und intelligent an der Vermitt- lungsoberfläche kratzen, daß er während der Vorstellung kaum Gelegenheit findet, Luft zu holen. (Über Folgeaufführungen in Frankfurt wird noch verhandelt.)

on: Die Abrazzo-Oper (Music Theatre)