1 September 1988, Fabrikzeitung (Rote Fabrik)
Review (de)

Der Mann im Fahrstuhl

Ein Konzert von Heiner Goebbels nach einem Text von Heiner Müller

Der Frankfurter Musiker Heiner Goebbels geht weiter als alles bisher Gehörte im Bereich Literatur und Musik. So etwas hat es noch nicht gegeben! Das Hörstück «Die Befreiung des Prmetheus» mit Texten vom DDR—Schriftsteller Heiner Müller und Musik von Heiner Goebbels ist nicht bloss ein Hörstück. Es ist eine Explosion oder besser: ein Attentat. Ein Anschlag auf alles, was bis heute unter dem Begriff Literatur und Musik, Lyrik und Jazz produziert wurde, ein An- schlag auch auf Theater und Oper. Mit seiner Jazz- und bzw. Pop—Oper «Der Mann im Fahrstuhl» geht Goebbels nochmals einen Schritt weiter: Mit einem. einmaligen Instrumentarium — zwei Gitarren, drei Bläsern, Schlagzeug, Synthesizer und vier Stimmen/Sprecher/Sänger — bringt er diesen Anschlag auf die Bühne. Da werden die entzündbarsten Materialien zusammengemischt, präzise dosiert, zum Knallen und Blitzen gebracht, die gesamten Mittel der aktuellen Avantgarde, und zum Glück nicht nur der ernsten, allzuernsten, sondern Freemusic und Punk, Elektronik und Hörspiel‚ Pop und Noise. Goebbels verkörpert den Typus des" neu- en Musikers, des künstlerischen Grenzgängers, der aus den verschiedensten Stilbereichen avancierter Musik neue Intensitäten schafft. Ganz einfach: Eigentlich ist Heiner Goebbels der Eislerianer geblieben, als den er sich auf seinem Debüt-Album der Musikszene vorstellte: « Homage / Vier Fäuste für Hanns Eisler». Goebbels: «Eisler hat immer Material bearbeitet, das auf Bekanntes, Vertrautes zurückgeht, aber er hat es bearbeitet auf der Höhe der kompositonschen Möglichkeiten, die gesellschaftlich e:- reicht sind.» Die ersten musikalischen Produktionen von Heiner Goebbels waren ohne Sprache. Seine Duo—Platte mit Alfred Harth «Vier Fäste für Hanns Eisler» oder das mehrmals variierte Stück «Vom Sprengen des Gartens» sind Eisler- lnterpretationen mit Piano und Saxofon. Mit dem «Sogenannten Linksradika/en Blasorchester» tutete, blies und trommelte Goebbels im Kreise der Frankfurter Sponti—Szene in Brockdorf und Gorleben, für Hausbesetzerlnnen und Hungerstreikende. «Die ersten musikalischen Projekte waren Versuche», erklärt Goebbels, «Sprache zu ersetzen mit musikalischen Mitteln. Wir miss- trauten der Sprache. Zudem befand sich Musik immer in der Rolle der Dienenden, der Begleiten den. Weil mich eine Gleichberechtigung beider Mittel interessierte, versuchte ich die Sprachfähigkeit von Musik stärker zu entwickeln.» Die Platte «Zeit Wird Knapp» mit Texten von Bert Brecht zeigte erste überzeugende Verbindungen von Literatur und Musik und zeichnete Heiner Goebbels Weg vor. Mit seiner späteren Gruppe, dem Quartett «Cassiber», reduzierte Goebbels das Sprachliche auf Bruchstücke. In der brodelnden Mischung aus Rockmusik und Jazzimprovisation, Alltagsgeräusch und vorproduziertem Kassettensound werden kurze und präzise Sprachfetzen gesungen und geschrieen. «Die Texte sind so konkret, dass Gleichgültigkeit und Austauschbarkeit vermieden werden», schrieb der Jazzkritiker Bert Noglik in der WoZ_.(8.3.85). «Sie gehen nicht auf, lassen Raum für Übertragung in eigene Lebens- und Phantasiezusammenhänge. Kein Vordenken, sondern ein eher surreales Wachrufen dessen, was ist, sein oder passieren könnte. Sprache, hier nicht ‘vertont' sondern dialektisch zur musikalischen montiert. »

on: Der Mann im Fahrstuhl (Music Theatre)