19 February 1987, . Pauli und Burkhard, Communale
Review (de)

Vielleicht gibt es Mitleid in Peru

Das 1. Internationale Art Rock Festival in Frankfurt

[...] Das Festival begann mit dem Konzert Heiner Goebbels nach einem Text aus Heiner Müllers „Der Auftrag“, „Der Mann im Fahrstuhl“. Es ist nicht die erste Beschäftigung Goebbels mit Texten von Müller — erinnert sei an die hervorragende riskant-LP mit den zwei Hörstücken ,Verkommenes Ufer“ und „Die Befreiung des Prometheus“. Die collagierende Technik Goebbels, sein Vermögen widersprüchlichste Elemente bis zum „Funkenflug“ gegeneinander zu treiben und diese doch in einem variablen, durchgängigen, geschlossenen Konzept zu halten, ist seit Jahren reichlich dokumentiert. Grundsätzlich unterscheidet sich das Konzept seiner Hörstucke von dem der Cassiber-Musik wenig. Was Goebbels bei seinem Frankfurter Konzert zuzusetzen hatte, war eine Besetzung, die in ihrer Leibhaftigkeit, ihrer unglaublichen Präsenz und musikalischen Genialität einfach mehr zu bieten, auszudrücken hat, als dies in monatelangen Studiobasteleien realisierbar wäre. Man muß Arto Lindsay gesehen haben, wie er in die schroffen Brüche und Schründe der Komposition hinein tänzelnd südamerikanische Schnulzen singt, man muß die Schreie sei- ner Gitarre gesehen haben. Man muß erlebt haben, wie Peter Hein, anfangs noch indisponiert und mit befremdlich unkonzentriert schlenkernden Gliedmaßen, das Stakkato des Textes — besser von Minute zu Minute — aus sich herauspeitscht, in bester Fehlfarben-Tradition, und eine Zeile wie „Fünf Minuten vor der Zeit/ Ist die wahre Pünktlichkeit“, hätte ja ohne weiteres von unseren Lieblingen des Jahres ’80 sein können. Es gibt Passagen, in denen Hein beweist, daß Müller ein Punk-Dichter ist, mit der Kraft des Punks und dessen Rhythmus. Heins Duette und Überlagerungen mit dem von Lindsay gesprochenen englischen Text geben diesem deutschen Werk neue, weite Dimensionen. Don Cherry muß man gesehen haben, wie er ethnisches Geschnatter unter die Gitarren, Geräusche und Cluster-Blöcke schiebt, gehört, wie er mit Pockettrompete und George Lewis mit der Posaune Farben und Flecken und die schönsten, fremdesten Alltagsgeräusche produzierten. Beinahe wäre ein Mann wie Fred Frith untergegangen, der unspektakulär das Stück mit Goebbels zusammenhält und strukturiert. Eine gute Idee: Von modernen Bidschirmarbeitsplätzen erhöht, im Hintergrund aufgebaut, kommt eine Sequenz lang die Musik des Hochhauses. 4 oder fünf Musiker arbeiten an ihnen: synthetische Klänge, minimale percussive Arbeit —— immer noch steckt der Mann im Fahrstuhl. Und dann Heiner Müller: Ruhig sitzt er da, inmitten des Krachs, der Schläge, der Breaks, des Aufkreischens und Abschwellens, der Verzweiflung, Erbitterung, Tragik und der Ironie. Liest den Text zuerst. Raucht, nickt, scheint etwas verwundert, freut sich, hört zu, liest eine weitere Passage, versucht einen Dialog mit Lindsays Gitarre, raucht, sitzt. Am Ende liegen sie sich in den Armen: Don Cherry und Müller, Müller und Lindsay, Lewis und Müller, der hinreißende Schlagzeuger Hollinger... [...]

on: Der Mann im Fahrstuhl (Music Theatre)