7 September 2002, Wolfgang Sandner, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Review (de)

Gar nicht mal so dumm, diese Musik

Alles eine Frage der Diskretion: Wie Heiner Goebbels mit dem kompositorischen Material von Hanns Eisler umgeht

Vielleicht ist es das größte Verdienst des Komponisten Hanns Eisler, es niemandem, der sein Werk rezipieren will, leichtzumachen; manchem wohlwollenden Interpreten nicht, den er mit seiner politischen Haltung und seinen provozierenden Anmerkungen zur "Dummheit in der Musik" verschreckt, und nicht dem klugen Ästhetiker, der hinter seiner These von den "Neuen Volkstümlichkeiten als ein Umschlag des Neuen in das Einfache" nichts weiter vermutet als eine dialektische Verkleidung des Sachverhalts, daß das Prinzip komplexer Neuheit in der Musik durch eine didaktisch motivierte Simplizität verdrängt werden soll. Auch Arnold Schönberg hatte Mühe mit seinem Schüler, der ihm "in tiefer Verehrung" seine Klaviersonate op. 1 widmete, aber schon ein Jahr später mit seinem Vokalwerk "Palmström" op. 5 Studien über Zwölftonreihen als sanft ironische Kritik an Schönbergs Kompositionsmethode, vor allem des "Pierrot lunaire", folgen ließ. Welcher Künstler könnte zudem umstandslos als Reverenz für sich verbuchen, was Eisler in den "Musikblättern des Anbruch" 1924 über seinen Lehrer Schönberg schrieb: "Er schuf sich ein neues Material, um in der Fülle und Geschlossenheit der Klassiker zu musizieren. Er ist der wahre Konservative: er schuf sich sogar eine Revolution, um Reaktionär sein zu können." Naturgemäß hatte auch die Schallplattenindustrie im Westen ihre liebe Not mit dem aus dem amerikanischen Exil in den Osten vertriebenen Komponisten der DDR-Hymne "Auferstanden aus Ruinen", von proletarischen Kampfliedern und Agitprop-Songs wie "Ohne Kapitalisten geht es besser". Als Anfang der siebziger Jahre in der "studio reihe neuer musik" bei Wergo in Mainz eine erste, drei Schallplatten umfassende Auswahl mit Werken Hanns Eislers erschien, zwar ohne die anstößige, politisch intendierte Musik, aber mit einem an Deutlichkeit nichts zu wünschen übriglassenden Einführungstext von Konrad Böhmer, da be-' eilte sich der Verlag sogleich, der Kassette einen distanzierenden und relativierenden Beitrag in eigener Sache anzufügen. Im Grunde haben sich die Schwierigkeiten mit Eisler, der auch in der DDR keineswegs uneingeschränkt geliebt wurde, nach der Wende nicht verflüchtigt, selbst wenn das eine oder andere Werk häufiger in Konzerten auftaucht, zu seinem hundertsten Geburtstag Feiern abgehalten wurden und viele seiner Werke auf dem Label "Berlin Classics" erschienen sind, das die Aufnahmen der "VEB Deutsche Schallplatten Berlin DDR" übernommen und neu aufgelegt hat. Es bedarf keiner seherischen Fähigkeiten, dem "politischen Eisler" auf absehbare Zeit keine neue Aktualität im Osten und keine angemessene Präsenz im Konzertleben des Westens von Deutschland vorherzusagen. Der Peinlichkeit der Erinnerung in den neuen Bundesländern dürfte die Neigung zur ästheti-schen Hochnäsigkeit auf dem Territorium der alten Bundesrepublik entsprechen. In dieser Situation stößt das Szenische Konzert mit dem Ensemble Modern und dem Schauspieler Josef Bierbichler, das der Frankfurter Komponist Heiner Goebbels unter dem programmatischen Titel "Eislermaterial" 1998 herausgebracht hat und das jetzt in einem Live-Mitschnitt desselben Jahres aus dem Berliner Hebbel-Theater bei ECM auf CHD erschienen ist, gewissermaßen in eine klaffende Rezeptionslücke. Aber nicht nur das. Denn "Eislermaterial" ist keine plane Kompilation von Werken Hanns Eislers, auch kein Potpourri durch das disparate Œuvre eines Widersprüche geradezu liebenden Komponisten. Von Heiner Goebbels, der sich seit seinen künstlerischen wie musiktheoretischen Anfängen vor gut dreißig Jahren mit Eisler beschäftigt, dabei konsequent wie kaum ein anderer Tonsetzer heute die Demarkationslinie zwischen Werk und Wiedergabe, Komposition und Arrangement, Gefundenem und Erfundenem aufgelöst hat, konnte man ein Stück erwarten, das für sich steht und zugleich wie ein kompetenter Kommentar zum Schaffen eines anderen Komponisten wirkt. "Eislermaterial" ist Aufforderung zur Beschäftigung mit Eisler wie Sichtung, Neueinordnung und Würdigung seines Werkes in einem. Wenn man will, auch eine Inszenierung Eislers durch den Regisseur Goebbels, der dort, wo das Werk nicht mehr zu uns spricht, weil sein Anlaß oder seine Funktion verschwunden ist, interpretierend eingreift - eine Gratwande-rung zwischen den Untiefen von Vereh-rung und Anmaßung, Parodie und Affir-mation, die Goebbels glänzend bewerk-stelligt. Jedenfalls wirken die von Josef Bierbichler fast im Falsett gesungenen "Wiegenlieder für Arbeitermütter" oder das Festlied für Kinder "Armut sparet nicht noch Mühe", die oft hart dazwischen- geschnittenen Instrumentalpartien aus Or-chesterstücken und Kammermusikwerken von Eisler, die sich bisweilen in Freejazz--Tumulten auflösen, nie sentimental oder desavouierend, nicht einmal wie subversi-ver Kitsch. Selbst der kritische Gestus in den beiden als Hörstücke eingefügten Col-lagen und Montagen aus Rundfunkgesprä-chen zwischen Hans Bunge und Hanns Eisler wird durch die Musikalisierung von Sprechfloskeln wiederaufgehoben. Mit anderen Worten: In "Eislermaterial", so schlicht der Titel auch sein mag, steckt mehr als Eisler - Eisler und Goeb-bels, Bierbichler und Ensemble Modern, hi-storische Musik und zeitgenössische Interpretation. Und noch etwas: Wenn Goeb-bels die Töne Eislers aufgreift und anders zusammenfügt, vom Saxophon überblasen läßt und rhythmisch zerhackt, den Eisler- Tonfall ernst nimmt, indem er ihn bricht, dann wird ein Lehrsatz spürbar, den Eis-ler nie ausgesprochen, aber stets gemeint hat: Trau keinem Klang, er kann die Farbe wechseln. (Wolfgang Sandner)

on: Eislermaterial (CD)