Nr. 32.03, Mario Gerteis, Die Weltwoche
Review (de)

Mittendrin und doch daneben

Mit seinen Klangmontagen setzt sich Heiner Goebbels zwischen alle Stühle. Vielleicht ist er gerade deswegen so erfolgreich.

Das Lucerne Festival holt Heiner Goebbels für diesen Sommer als "Composer in Residence". Um gleich beizufügen, dass es sich um einen "Anti-Komponisten" handle. Was natiirIich Unsinn ist. Denn Heiner Goebbels betreibt Komponieren im wortlichsten Sinn, aIs Zusammenstellen von Klangen. Er ist ein Sammler von tonenden Materialien, die er nach dem Prinzip der Montage verarbeitet. Er ist aber auch ein Wanderer zwischen den sonst hochnotpeinlich geschiedenen Gattungen der Klassik, des Pop, des Jazz. Er lehnt die individuelle Genieasthetik ebenso ab wie den Glauben an "rein musikalischen Fortschritt". Dass er dabei überall aneckt, kann ihm gleichgültig sein. Für die "reine" Avantgarde ist er zu poppig. Für die Jazzer hat er zu wenig Swing. Den politisch Radikalen gilt sein Anlknüpfen an Eislers "angewandter Musik" als nostalgisch. Obwohl er zwischen fast allen Stühlen sitzt, oder vielleicht gerade deswegen, ist Goebbels erfolgreich. Der ehemalige Soziologiestudent, Schul- und Strassenmusiker, spater Gründer des "Sogenannten Linksradikalen Blasorchesters" und der Band Cassiber, Verfasser von Schauspielmusiken für die Gurus des Regietheaters, ist Träger des Hessischen Kulturpreises und Mitglied der Deutschen Akademie der darstellenden Künste. Goebbels ist dort angelangt, wo er nie hinwollte. Dass belegt nurs chondieTatsache, dass ihm das Lucerne Festival sein Schlusskonzert am 20. September widmet. Und zwar mit den prominentesten Interpreten, die im KKL aufkreuzen: Simon Rattle fuhrt die Berliner Philharmoniker durch das 70-Minuten-Stiick "Surrogate Cities". Es ist 1994 entstanden und ein Schlüssel für Goebbels neuere Entwicklung. Es liegt auch beim CD-Label ECM vor, das sich Goebbels Oeuvre mit Beharrlichkeit annimmt - in einer schlüssigen Darstellung der Jungen Deutschen Philharmonie unter Peter Rundel. "Surrogate Cities", sagt Goebbels, sei "der Versuch, sich von verschiedenen Seiten der Stadt zu nähern". Es ist kein reales Abbild, sondern ein imaginiertes, ein erinnertes. Der Klang des reich bestückten Orchesters verbindet sich mit einem Sampler, der heterogene Tonquellen bereithält: geräuschhafte, gesungene, verfremdete. Im Eröffnungsteil, einer Suite mit barocken Titeln, wird ein vertikaler Schnitt durch (irgend)eine Stadt gegeben, Kanalisation, Ruinen und Historisches inbegriffen. Der dritte Teil, "D & C", möchte akustische Bauten "mit Ecken, Pfeilern, Wanden, Fassaden" errichten. Dazwischengeschoben sind drei Songs, "The Horatian", nach Texten von Heiner Müller, dem sich Goebbels von jeher eng verbunden fühlt. Es gibt Zitate quer durch die Musikgeschichte, fragmentarische Fundstücke. Wer hinter dem fünften Teil, "Surrogate", Wagners Walkurenritt wittert, ist wohl selber schuld. Kampferisch und melancholisch Goebbels' wichtigste Kreation aus letzter Zeit ist "Eislermaterial" (leider in Luzern nicht angesagt): "Meine Entscheidung, professionell Musik zu machen, hat wesentlich mit Hanns Eislers Arbeit zu tun." An ihm bewundert Goebbels die gedankliche Bandbreite, die konsequente Verschränkung von Künstlerischem und Politischem. Mit Vorliebe zitiert er dessen Satz, dass jemand, der nur etwas von Musik versteht, davon auch nichts versteht. Goebbels' Umgang mit vorgefundenen Materialien - eher ein Weiterdenken als ein Arrangieren - ttitt hier deutlich hervor. Nicht nur Eislers kämpferische Brecht-Vertonungen werden einbezogen, sondern auch die melancholischen Hollywood-Songs. In zwei "Hörstücken" vernehmen wir, raffiniert verschachtelt, Eislers eigene Stimme: ein dialektischer Schnellredner. Die Aufnahme wurde von Goebbels' Leibtruppe, dem Ensemble Modern, gemacht. Verblüffend ist die Wahl des Schauspielers Josef Bierbichler für die Lieder. Nicht im Stil der Sozialismus-Barden von Ernst Busch bis Gisela May, sondern mit zarter, ja zittriger Stimme. Als wär's Versunkenes, das es zu beschwören gilt. Die Entfernung des Heute vom Gestern ist hier einkomponiert, einmontiert. (Mario Gerteis)

on: Eislermaterial (Music Theatre)