31 December 2002, Stefan Benz, Darmstädter Echo
Review (de)

Fischzug im Meer der Muster

Bilderrätsel-Theater: "Hashirigaki" von Heiner Goebbels im Frankfurter Schauspiel: Mit Gertrude Stein und den Beach Boys unterwegs von Kalifornien nach Japan

FRANKFURT. Das Theater des Heiner Goebbels ist ein Kaleidoskop der Zeichen und Klänge. Wer auf der Bühne Geschichten sucht, muss bei diesem Regisseur enttäuscht werden, wer Assoziationsspiele liebt, wird reich beschenkt. "Hashirigaki" (japanisch für eilen oder skizzieren) ist gewiss eines von Goebbels schönsten Bilderrätseln, in dem die Musik der Beach Boys, die Magie exotischer Instrumente und Auszüge aus einem Avantgarde-Epos von Gertrude Stein aufgehen. In ihrem Familienroman "The Making of the Americans" (1906 bis 1908) exerziert Stein quälend ausführlich menschliche Verhaltensmuster durch. Bei Stein gibt es nichts Originäres oder Individuelles, sondern nur Typen und Schemata. Alles ist Wiederholung und Kopie, nirgends ein Anfang, nirgends ein Original. Steins Phänomenologie einer Familie besteht aus schier endlosen Satzketten und -schleifen. Als Lektüre ist das eine Zumutung, als Rezitation eine meditative Offenbarung, denn dabei verliert der Text langsam seinen nervenden Sinnzusammenhang, löst sich auf in Sprachrhythmus und syntaktisches Gewebe. Diesen Strukturen spürt Goebbels in Bildern, Klängen und Worten nach. Dabei gelingt ihm ein Brückenschlag von kalifornischen Surfer-Stränden zu japanischen Gefilden. Im Jahr 2000 als internationale Koproduktion entstanden, reist "Hashirigaki" seither durch die Welt und gastiert nun im Frankfurter Schauspiel. Es ist ein surreales Feuerwerk zum Jahresabschluss. Der Schattenriss eines Kopffüßlers erwacht, eine leuchtende Raupe verpuppt sich, eine Kulissen-Stadt aus Pappe mit Hochhäusern und Atomkraftwerk entsteht wie im Kinderspiel und fliegt wie im Traum zum Himmel empor. Klaus Grünbergs Bühnenbilder sind in ständiger Metamorphose: Kalligrafische Krakel, Gittermuster und Wolkenbilder legen sich über den Rundprospekt. Robert Wilson lässt grüßen. Durch diese fließenden Szenen wandern die drei Performerinnen Charlotte Engelkes, Marie Goyette und Yumiko Tanaka mal wie Müllwerker im Overall, wie Figuren aus Oskar Schlemmers Triadischem Ballett oder wie Pop-Puppen aus den neonbunten Siebzigern. Sie zelebrieren Steins Sermon mit ironischer Emphase, die wiederum mit den melancholischen Melodien der Beach Boys und dem Klang fremdartiger Instrumente verschmilzt. Das Trio bedient vom Bühnenhimmel baumelnde Kuhglocken, ein Kastenharmonium, asiatische Versionen von Violine und Zither und das kuriose Thereminovox, das zwitschernde und heulende Geräusche erzeugt, je nachdem, wie man die Luft um die Antennen dieses elektronischen Instruments herum knetet. Was Goebbels im Laufe von 90 Minuten an Einfällen, Zitaten und Verweisen in den Strom seines Bildertheaters wirft, müsste schnell zerfließen, wenn er nicht Gertrude Steins Netz ausgeworfen hätte, mit dem die Dichterin die gleichförmigen Muster der menschlichen Existenz zeigen wollte: So monoton ist unser Leben. Wenn man Steins Netz am Ende wieder einholt, dann kehrt sich diese Effekt um. Die ewigen Muster sind verdeckt von den vielen Formen und Farben, die im Laufe des Abends hängen geblieben sind: So reich ist unser Leben. Was für ein prächtiger Fang. Die Silvestervorführung im Frankfurter Schauspiel ist ausverkauft. (Stefan Benz)

on: Hashirigaki (Music Theatre)