12/2000, Dietrich Diederichsen, Theater Heute
Review (de)

Für Männerhände viel zu schade

Heiner Goebbels bringt Japan und Gertrude Stein nebst drei Performerinnen in einen musikalischtheatralischen Zusammenhang - "Hashirigaki"

Haus und Hand sind das Thema von Heiner Goebbels' "Hashirigaki". Wohnen und Städte bauen einerseits, Möbelpflege, Hautpflege und Sozialpflege von zarter Hand andererseits. Vage, aber nicht ungenau gibt das Bühnenbild städteplanerische Dreifaltigkeit vor: eine Hausfront, ein Innenraum, in dem irgendwann kleine Spielhäuser aufgestellt werden; schließlich Außen, Straße, ein Bus. Dazu kommt eine geographische Bewegung: Was mit amerikanischer Musik von den Beach Boys beginnt, verlässt Kalifornien Richtung Westen und landet im Osten, in Japan. Gertrude Steins Texte schauen derweil, hat man den Eindruck, der ganzen Welt von oben zu. Innen und Außen sind keine psychodramatischen Arenen, eher unterschiedliche Grade von Entspanntheit. Sowohl die Musik von Beach-Boys-Chef Brian Wilson wie die Texte von Gertrude Stein werden wie unaufgeregte Lockerungsübungen eingesetzt. Drei Performerinnen, Charlotte Engelkes, Marie Goyette und Yumiko Tanaka, bringen dieses Geschehen in Bewegung, weitgehend ohne sich zu verkrampfen. Hält man sie zunächst noch für Darstellerinnen, die in einer erzähltheatralischen Kulisse agieren, verwandeln sie sich doch bald in Performerinnen, die selber für einen großen Teil der Musik, den ganzen Gesang und den Bühnenaufbau sorgen. Gegen Ende, wenn die Möglichkeit von Illusion und Fiktion zumindest angedeutet wird, könnte man sie auch wieder als Schauspieler in einer postdramatisch gelesenen Rolle verstehen. Diffus unrepräsentativ. Vor allem, wenn die drei musizieren, erinnern sie mich an das Künstlerinnen-Trio "Diazentrale Ost", das sich zu Beginn der 80er und bevor irgend jemand in Deutschland Cindy Sherman kannte, zu immer anderen klischeehaften, genre-bezogenen Frauentrios zusammenfand, für Fotos und Performances zu fiktiven Sportlerinnen, Tänzerinnen, Berufsgruppen oder Bands gestylt. Dabei standen die drei Künstlerinnen auch immer leicht amüsiert neben sich - und waren doch sehr konzentriert. Hier kommen auch Spiele dazu, bei denen zwei sich mehr gleichen als die dritte, meistens die japanische Darstellerin, die zuweilen eigene Aufgaben bekommt oder ihre Perücke anders trägt. Auch diese Differenz zwischen den beiden westlichen und der östlichen Darstellerin birgt viel kulturalistisches Glatteis. Doch das rutschige Parkett einer Exotik-versus-Normalität-Gegenüberstellung wird nicht bewältigt, indem es umgangen wird. Diese Differenz und die sie erst in dieser Gestalt in Welt und Bühne setzenden Projektionen werden markiert, vorgestellt - aber ohne eine These oder Gegenthese damit zu verknüpfen. Meinungslos relaxt. Wir wissen, dass das nicht so einfach ist, oh ja, aber hier ist es und so ist es und nun kommt das nächste. So in etwa der Textgestus von Gertrude Stein. Zusammengehalten wird der locker gesponnene musikalisch-assoziative Reigen nun zwar vor allem von den drei Performerinnen in ihrer Eigenschaft als multifunktionales Darstellerinnen/Musikerinnen/Bühnenarbeiterinnen-Trio, das fast immer komplett anwesend ist. Dieses erinnert aber nur zum einen an feministische Performance-Kunst, zum anderen ist es eine Band, die immer wieder musiziert und sich zu Musik verhält, meistens kommt die von dem legendären Beach-Boys-Album "Pet Sounds", aufgenommen zwischen Sommer '65 und Frühjahr '66. Diese Sounds bilden den anderen Zusammenhalt. "Pet Sounds", das sind Streichelsounds, zarte Berührungen. Als die Beach Boys ihr gleichnamiges Album aufnahmen, verzichteten sie nahezu vollständig auf ein konventionelles Rock-Schlagzeug. Der gestandene Jazz-Perkussionist Hai Blaine musste auf Geheiß von Brian Wilson - der dieses Album mehr als alle vorangegangenen dominierte und teilweise ganz ohne seine Brijder und Cousins, sondern mit berühmten Gästen wie Glenn Campbell und Barney Kessel aufnahm - das normale Drum-Set durch alle möglichen Percussion-Instrumente ersetzen: Rasseln, Marracas, diverse Tambourine und Zymbeln, Xylophone und zart gestrichene Becken. Dazu hatte der erfahrene Blaine, der auf 362 Charts-Hits mitgespielt hatte, von "Bridge Over Troubled Water" über "Mr. Tambourine Man" bis "Strangers In The Night", eine große Tüte dabei, die er seinen "Bag of Tricks" nannte, mit 20 weiteren extrem seltenen Percussion-Instrumenten, die bei diesen Sessions punktuell Einsatz fanden. Raschelnde, zischelnde, verwischende, klingelnde Percussions tragen auch die Performerinnen von "Hashirigaki" mit sich herum, zuweilen in direkter Verlängerung eines Hal-Blaine-Schlages. Das Konzept des Pop-Schlagzeugs ist bei "Pet Sounds" zeitweise so durchlöchert, dass man das Gefühl hat, jeder Beat wird von einem anderen Instrument hervorgebracht, wenn denn die Percussions nicht sowieso etwas ganz anderes tun, als den Beat zu betonen, und uns mit extrem psychotropen Geräuschandeutungen das Cranium massieren. Ja, das waren die Pet Sounds, die Hirnrindenechos einer besonders melancholischen Seele, der des fettleibigen, viel zu begabten und übersensiblen Brian Wilson, der zu allem Überfluss auch noch das Leben eines Pop-Stars führen musste. Sein ausgesprochen verzärtelter, aber nie unpräziser Sinn von Beat scheint auch diesem Stück seinen stets spürbaren, aber nie sehr markanten Rhythmus zu geben. Heiner Goebbels hat sich für "Hashirigaki" einer Platte bedient, die kommerziell ein Flop wurde, den Beach Boys ihr Image als unbeschwerte Kinder des Strandes mit einer Überdosis Schwermut zerschoss und künstlerisch durchfiel, weil sie den Zeitgenossen als "zu britisch" galt. Doch sie ist seitdem mehr als jede andere Pop-Platte immer wieder zur besten aller Zeiten gewählt worden. Seit in den 90ern Musikzeitschriften, Lexika und Kritiker damit anfingen, Pop-Geschichte zu bilanzieren, wurde "Pet Sounds" immer wieder den Beatles, Elvis, Sinatra, Hendrix und Dylan vorgezogen und gewann auch schon mal den Vergleich gegen E-Musik und Jazz, wenn nach Jahrhundertplatten gefragt wurde. Dieser massive Nachruhm und die unzähligen, den Beach Boys der späten 60er nacheifernden Bands der Gegenwart veranlassten Capitol Records, 1996 zum 30. Jubiläum ein luxuriöses, historisch-kritisches 4-CD-Set zu veröffentlichen, das zu knapp drei Vierteln aus Proben und Backing Tracks ohne Gesang bestand. Dieses Material, genauer die Backing Tracks von "Caroline No", "l Know There's An Answer", "Don't Talk (Put Your Hand On my Shoulder)", "I Just Wasn't Made For These Times" und das Instrumentalstück "Pet Sounds" bilden den musikalischen Grundstock des Goebbels-Stücks. California meets Japan. Die drei Performerinnen eröffnen "Hashirigaki" zu diesen instrumentalen "Pet Sounds" mit einer Art Hausputz. Sie räumen Gegenstände durch Fenster und Türen einer bühnenfüllenden Fassade und schauen dabei so aufgeräumt, so optimistisch wie die Texte von Gertrude Stein, die sie zwischendrin zum Besten geben. Diese stammen vor allem aus "The Making Of Americans", und ich hatte schon vergessen, wie gut die eigentlich sind. Sie passen zu den Beach Boys-Hintergründen, die Goebbels unverändert, höchstens ein bisschen verlängert laufen lässt, schon deswegen so gut, weil sie so ohne jeden Drang, ohne jede Überzeugung und Ideologie endlos iterieren und permutieren, wie die leisen Leichtfüßigkeiten der "Pet Sounds". Sie übertragen aber auch ein bisschen die Stimmung des einen (maßlose Melancholie) auf die des anderen (aufgeräumt amerikanische Anerkennung der Tatsachen), so dass man beide miteinander verwechseln kann. Oder die eine Stimmung für den Kern der anderen halten. Wer sich so in seine Melancholie fallen lassen kann und sie so bis zur Neigung kostet, dass er sie gestalten kann, wird vielleicht von einem - womöglich kalifornischen - Kokon der Bejahung geschützt. Wer derart musikalisiert und repetitiv seine positiven Daten und Deskriptionen so ununterbrochen und unerschrocken durch seine strengen Strukturellen nudelt, singt vielleicht noch von etwas anderem. Wenn bei Goebbels' Stein immer wieder von "Little Ones" die Rede ist, wenn immer wieder die Optik einer freundlichen, mildeamüsierten und auch aufmerksamen, ja sehr interessierten, doch unerschütterlichen Großtante eingenommen wird, bleibt auch immer etwas emotional ungeklärt. Diese Fröhlichkeit darüber, sich zu dieser Wiederholung der Wiederholung des Faktischen durchgearbeitet zu haben! Wie dieser produktive Mangel der Stein-Texte dann wiederum in den Hammerklavier- und Xylophon-Geflechten der Beach Boys räsoniert, ist sehr beeindruckend. I know this distinction, it has real meaning, I am saying it again and again and now I begin again with a description. Danach geht es aber richtig ins Innere. Ins Innere des Hauses wie der Seelen. Dort ist Japan. Die twomblysierende Krakel-Kalligraphie am Bühnenrücken gibt den Ton vor für die für meinen Geschmack etwas überpoetisierte Phase, die nun eine Weile vorherrschen wird. Tänze mit Kissen: vielleicht etwas zu weich und ohne räsonierendes Geräusch. Dass es durch die amerikanische Tür nach Japan geht, ist die eine, die andere Lesart die, dass es innen eben einfach japanisch zugeht. In uns, im Zentrum der Wilsonschen Melancholie ebenso wie in dem der Steinschen Permutationen raschelt ein Haiku im Wind. Mit einer lakonischen Laute um die Wette. Yumiko Tanaka singt nun japanische Lieder und begleitet sich auf einem japanischen Instrument. Von Lied wie Instrument wissen wir nur, dass sie traditionell sind. Natürlich sind auch dies "Pet Sounds" - eine japanische Tradition überdies, jeden größeren Garten Kyotos so zu gestalten, dass noch die herabfallenden Tropfen eines Zierflüsschens zart auf einem Moos landen, welches sie weich auffängt und dann ein ebensolches, aber doch ganz bestimmtes und wohl kalkuliertes Geräusch ergibt. Gewaltlos wird der Raum wieder etwas robuster gemacht. Bald sind die drei wieder ein musizierendes Trio. In der Mitte wird ein Theremin beschworen. Dieses sehr frühe elektronische Instrument, von dem gleichnamigen russischen Physiker erfunden, dessen Doppelagenten-Leben zwischen Stalin, CIA, KGB und Synthesizer-Erfinden vor ein paar Jahren in einem bemerkenswerten Dokumentarfilm beschrieben wurde, passt natürlich ins Zentrum der Bühne wie des Stücks ganz besonders gut, weil es ohne eine direkte Berührung gespielt wird. Die Musikerin spielt das Gerät, indem sie ihre Hand oder andere Körperteile in der Nähe des elektronischen Instruments bewegt. Natürlich ist es das ideale Instrument eines jeden expressiven Performers oder Tänzers, aber kaum jemand bringt etwas anderes hervor als mehr oder weniger zufällige Sound-Effekte. Eigentlich konnte nur die vor zwei Jahren verstorbene russisch-amerikanische Violinistin Clara Rockmore auf dem Theremin eine Partitur umsetzen. Als das Theremin vor dem zweiten Weltkrieg so eine Art futuristisch musikalische Jahrmarkts-Attraktion war, gab es öffentliche Vorführungen seiner Wirkung, bei denen meistens attraktive Frauen die Klangerzeugung demonstrieren mussten. Bevor das Gerät in den 90ern wieder in Mode geriet, waren es natürlich auch wieder nur die Beach Boys, die es für einen entscheidenden, sirenenartigen Sound-Effect in "Good Vibrations" einsetzten. Bei "Hashirigaki" gerät das Theremin-Gefuchtel zu einer Hände-Performance im großen Stil. Die Luft walken und kneten, streicheln und halten - für Männerhände viel zu schade. So gelungen diese Performance für sich war, so sehr zeigte sich in ihr dann doch das Problem eines amüsierten, nun aber generellen und nicht mehr spezifisch Steinschen Großtanten-Blicks auf das, was die Ladies so tun, wenn sie allein sind. Auch wenn es sonst dem Stück immer gelingt, auf sehr angenehme, entschiedene, aber leichte Weise jeder Lesart einer geschlechts-essentialistischen Frauenverkitschung als Streichel- und Haushaltsexpertinnen des Innen den Boden zu entziehen. So rutscht es zuweilen doch auch in ein arg süßes Lob der schönen weiblichen Seele, zumal auch die leichte Ironie, mit der die Performerinnen zu Werke gehen, sich auf kein erkennbares - zu ironisierendes - Gegenüber bezieht. In ihrer Unbestimmtheit wird sie affirmativ. Zeit vergeht. Jetzt sind die drei wieder ganz den Klängen der Beach Boys, beziehungsweise des von Brian Wilson arrangierten Orchesters ausgesetzt. Eine Stadt aus kleinen Papp-Häusern, dann eine Bushaltestelle. Häuser werden von Händen hingestellt, arrangiert. Der große Papp-Bus kommt, nimmt mit, bringt zurück. Die Performerinnen sprechen wieder Stein-Texte oder singen Original-Beach-Boys-Gesangsparts mit charmant unterschiedlichem Erfolg. Diese Konfrontation der Stein-Texte mit dem Beach-Boys-Backing klingt nun fast wie eine neuere Robert-Ashley-Oper ("Your Money My Life Goodbye" zum Beispiel). Allerdings wie eine Version, bei der das britische Trio St. Etienne mitgemacht hätte. Man muss nun öfters an andere, eigentlich von einander entfernte, nun aber viel näher gerückte Performer, Pop-Bands und Poeten denken. Der Zusammenhang zwischen Beach Boys und Stein, zwischen Pazifik und Paris hat offenbar noch für anderes Platz. Man stellt sich gern vor, dass da, wo sie dieses Stück herhaben, es noch mehr davon gibt. Trotzdem war es nicht die Versöhnung zweier Welten, sondern ein Einblick in ein nettes Zimmer, das bei aller Vertrautheit auch ganz unbekannt war. Die einzige Gefahr - in diesem Text wie in der Inszenierung, die er beschreibt - bestand darin, diese Zimmer-Utopie ein bisschen zu verklären. (Dietrich Diederichsen)

on: Hashirigaki (Music Theatre)