April 2003, Christine Hohmeyer, NMZ Neue Musikzeitung
Review (de)

Heiner Goebbels und Märzmusik

"Landschaft mit entfernten Verwandten" und "Aus einem Tagebuch"

Er ist so etwas wie ein Popstar der ernsten Musik geworden. Da steht er gefeiert auf der Bühne der Berliner Philharmonie, Hand in Hand mit Sir Simon Rattle. Heiner Goebbels, Komponist, Hörspielmacher und Theatermann, hat – so scheint es – seinen Platz in der Hochkultur der Hauptstadt gefunden. Gleich zwei opulente Werke waren binnen Monatsfrist in Berlin zu hören und sehen: die deutsche Erstaufführung der Oper "Landschaft mit entfernten Verwandten" im Haus der Berliner Festspiele sowie die Uraufführung des Orchesterwerkes "Aus einem Tagebuch" mit den Berliner Philharmonikern. Es sind vor allem drei Aspekte, die des Komponisten schillernden Status im Kulturbetrieb begründen. Zum einen, dass der Soziologe Goebbels in den Siebzigern seine Karriere als Mitbegründer des "Sogenannten Linksradikalen Blasorchesters" begann und als Frankfurter Sponti auf eine explizit politisch engagierte Vergangenheit zurückblicken kann. Zum zweiten, dass der Musiker Goebbels, in Jazz- und Rockformationen erprobt, seine Ideen stets kollektiv improvisierend entwickelt. Und nicht zuletzt, dass der Komponist Goebbels noch nie ein solcher sein wollte, sondern immer eher Arrangeur und Regisseur seiner Werke, in denen Texte, Musik und Szenerie eine gleichberechtigte Liaison eingehen. Doch was bleibt von einer politisch-musikalischen Haltung, wenn der Außenseiter längst als Favorit an deutschen und europäischen Bühnen gehandelt wird? Wenn einer, der schon immer Werke nur "on demand" produzierte, auf einmal vom Genfer Opernhaus oder Simon Rattle persönlich beauftragt wird? Und wenn die Werke nicht mehr mit der Aura der Off-Kultur, sondern im Kanon der großen Formen Oper und Orchesterstück daherkommen? Die beiden jüngsten Aufführungen in Berlin zeugen von Bruch und Kontinuität: Heiner Goebbels hat sich geändert und nicht geändert zugleich. Zum Beispiel die Oper, die vom Ensemble Modern und dem deutschen Kammerchor mit großartiger Perfektion aufgeführt wurde: Das knapp zweieinhalbstündige Werk ist ebenso wenig oder genau so sehr eine Oper wie Goebbels Musiktheater zuvor. Gesungen wird in dieser schönen, poetischen Landschaft kaum, gesprochen dafür umso mehr. Die schwarz-weiße Szenerie, der zeitweilig rote Lichterschein, die auf Kostüme und Wände projizierten Ornamente und die Musiker im bewegten Schattenbild: das alles ist wunderschön und sinnlich beeindruckend wie eh und je. Gleichzeitig ist "Landschaft mit entfernten Verwandten" intellektueller als alle Werke zuvor. Wundersam wandelt zwar die erotisch spröde Stimme von David Bennent das gesprochene Wort in Musik. Dennoch überlagert die sprachliche Textur (mit Zitaten von bis) die musikalische. Das liegt an der Mächtigkeit der assoziativ angerissenen Themen, die von der künstlerischen und wissenschaftlichen Darstellung des Menschen in der Natur, von der Wahrnehmung und deren Perspektive erzählen. Auch um Krieg und dessen Lächerlichkeit geht es, um die Gleichzeitigkeit der Stile und Stimmen in der globalisierten Welt – vereinzelt war gar vom 11. September die Rede. Insofern spricht das Werk, wenn auch vermittelt, noch immer von demokratisch kosmopolitischem Geist. Ästhetisch aber ist die Gestaltung nur wenig kollektiv, sondern ein wenig monarchischer als vielleicht gewollt. Von Kontinuität und Brüchen zeugt auch die Uraufführung des mit Holz- und Blechbläsern, Schlagwerk und Kontrabässen besetzten Orchesterstückes. Wie schon in früheren Stücken kommt hier dem Sampler eine besondere Bedeutung zu: als Instrument der Aufbewahrung und Erinnerung, als elektronisch-akustisches Tagebuch. Goebbels wollte den großen Formen von Strauss und Beethoven, die an diesem Abend ebenfalls aufgeführt wurden, bewusst die short cuts seiner Erinnerung entgegensetzen. Das gelingt auf eine ungeahnt poetische Art. Zwischen den altbekannten orchestralen Mixturklängen, den durchlaufenden Patterns und plötzlichen Eruptionen der Schlagwerke schimmern neue elegische Töne hindurch, flirrende Funken der Harfe, melancholische Melismen der Oboe. Das Tagebuch gleicht einer Filmmusik ohne Film. Doch die imaginierte Szenerie ist verlassen. Dort, wo die Musik ausdünnt, zeigt sich eine Leere, in denen kein menschliches Wesen je die Stimme erhebt. Gegenüber dem uraufgeführten Orchesterwerk "Surrogate Cities" etwa, in dem der Klangakrobat David Moss und die Sopranistin Gail Gilmore ihre Stimme der strengen Struktur des Orchesters subjektiv entgegensetzten, ist der Stil souveräner und fast ein bisschen schöner, gleichzeitig aber auch unbelebter worden. Die Musik scheint nicht mehr von Städten und Menschen, sondern von Industriebrachen und traumhafter Weite zu erzählen. Nun macht Heiner Goebbels also genau das, was er schon immer getan hat: Gute Musik mit den besten Leuten, die für seine Sache denkbar sind. Doch sowohl in der Oper als auch vor allem im Orchesterstück zeichnet sich die Zurücknahme der kollektiven Produktionsart ab, die für sein Werk stets so fruchtbar und belebend ist. An Stelle der subjektiven Stimmen und Stile wird ein eigener Personalstil hörbar. Der gleicht zwar noch immer einem polyphonen Cocktail, ist in der singulären Perspektive aber fassbarer geworden. Heiner Goebbels ist Regisseur geblieben und zum Komponisten geworden. Und als solcher ein wenig einsamer als zuvor.

on: Landschaft mit entfernten Verwandten (Music Theatre)