17 May 2000, Achim Heidenreich, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Review (de)

Die Preußen im Urwald

Heiner Goebbels' szenisches Konzert im Mousonturm

[...] In Goebbels' Neuinszenierung der sprachlich schnörkellosen Geschichte über das durch die Waldmetapher veranschaulichte Verhältnis Mensch-Natur nach Texten von Joseph Conrad Heiner Müller und Francis Ponge bleibt der Bühnenraum im Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm leer. Durch die Zurücknahme von szenischen Requisiten und die auch visuell erkennbare Einbindung des rezitierenden Protagonisten (Ernst Stötzner) in das mit Posaune (Yves Robert), Gitarre und Daxophon (Alexander Meyer), Keyboards (Xavier Garcia) und den afrikanischen Musikern Sira und Boubakar Djebate (Gesang und Kora) besetze Ensemble verlagert Goebbels die Wahrnehmung verstärkt auf die zwischen afrikanischer Folklore und improvisierter Klanggestik angesiedelte Musik. [...] Am stärksten wirkt die jetzt auf Deutsch gesprochene Inszenierung, wenn Goebbels die Vokabeln von ihrem Inhalt befreit und als Lautmaterial einsetzt. Spätestens dann wird jener Schwebezustand zwischen körperlicher Präsenz und akustischer Erscheinung erreicht, von dem sich Goebbels zumindest damals wünschte, dass er im Kopf des zuschauenden Hörers neue Bilder und Klange evoziert. Als Tollpatsch mit preußischem Kommission münzte Stötzner seine bedeutungsgeladenen Textausschnitt über Wanderungen durch den Dschungel und über kiefernbewaldete Dünen zum naiven Sittenbild im märchenhaft-mythologischen deutschen Wald um. Gegliedert, illustriert und auch gebrochen wurde die Hänsel-und-Gretel-Stimmung durch die eruptiven Klangattacken auf der Posaune des stimmhaft intonierenden Yves Robert und den stark verzerrten Gitarren-Harmonien von Alexander Meyer. Letzterer entführte mit knurrend bis säuselnd gestrichenem Daxophon, einer Art elektrisch verstärktem Lineal, in ferne Topographien. Sira und Boubakar Djebate holten die literarischen Schilderungen mit natürlichem Gesang und Saitenspiel immer wieder auf den Boden der Realität zurück.

on: Ou bien le débarquement désastreux (Music Theatre)