17 April 1993, Gerhard Rohd, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Review (de)

Der Wald im Zeittunnel

'Glücklose Landung' von Heiner Goebbels im TAT

Knapp vier Wochen nach der Pariser Uraufführung im Theatre Nanterre-Amandiers ist Heiner Goebbels 'Ou bien le débarquement désastreux' (deutsch: 'Oder die glücklose Landung') in der Pariser Inszenierung im Frankfurter Theater am Turm zu besichtigen. Diese rasche Information über internationale Ereignisse gehört zum Markenzeichen des heutigen Theaters am Turm, des legendären TAT, an dem der junge Claus Peymann die ersten Handke-Stücke vorstellte. Unvorstellbar will es einem erscheinen, daß die Arbeit des TAT womöglich durch die gegenwärtige Finanzkrise der Stadt gefährdet sein könnte - die Heiner-Goebbels-Novität kommt als Argument für das TAT im richtigen Augenblick. 'Oder die glücklose Landung' zeigt den Komponisten Heiner Goebbels weiter auf dem Weg zu der von ihm entwickelten Form eines musikalischen Texttheaters, in dem die unterschiedlichen Ausdrucksmittel gleichwertig miteinander korrespondieren, die Grenzen der verschiedenen Genres aufheben: Klang, Gesang, Rezitation, szenische Aktion, Raum, Bilder, Texte und Zeichen werden so montiert, daß sich sowohl aus ihrem Zusammengehen wie aus ihren Kontrastierungen und Kontrapunktierungen neue Werkstrukturen ergeben. Handlung funktioniert dabei nicht im Sinn einer tradierten Erzähl-Dramaturgie, es wird keine logische Geschichte vorgetragen. Die punktuellen Handlungselemente sind Teil eines umfassenden Raum- und Klangtheaters. Die Ausdrucksmittel werden zu einem neuen Beziehungsgeflecht geordnet und verschmolzen. Klang, Rhythmus, Stimmen drängen unablässig über die sichtbaren Ereignisse hinaus, in tiefenpsychologische Bereiche vor. In der 'Glücklosen Landung' kombiniert Goebbels drei Texte: Notizen aus Joseph Conrads 'Kongo-Tagebuch', scheinbar sachliche Anmerkungen zu einer nicht ganz ungefährlichen Reise. Dann von Francis Ponge aus dem 'Notizbuch vom Kiefernwald', das vom 'Vergnügen in den Kiefernwäldern' berichtet. Schließlich noch von Heiner Müller (der Heiner Goebbels immer wieder anregt) den Text 'Herakles 2 oder die Hydra', in dem der immer dichter werdende Wald sich dem eindringenden Wanderer als das verfolgte ungezähmte Tier darstellt. Die Baum- und Waldchiffre in allen drei Textvorlagen zeichnet sich natürlich durch eine große Komplexität aus: Nicht die Natur wird besungen; sie offenbart sich in wechselnden Formen und Zuständen viel mehr als dialektischer Widerpart menschlicher Existenz. Die Versöhnung mit der Natur erscheint ebenso unmöglich wie deren Beherrschung: Eine unheimliche Gewalt stellt der 'Wald' dar - und wer den Wald etwa bei Stifter betrachtet oder in Webers 'Freischütz', der erkennt unschwer auch die tiefen Wurzeln der Waldchiffre in der Naturromantik. Faszinierend nun ist zu verfolgen, wie Heiner Goebbels als Komponist und Regisseur dieses Bedeutungsgeflecht in eine entsprechende kompositorische Struktur überführt, mit Klängen, Rhythmen, Stimmen eine neue Erklärungsstruktur schafft. Die Konfliktsituation zwischen Zivilisation und Natur findet ihren Ausdruck in der Gegenüberstellung musikalischer Ausdrucksebenen: Hier die harten Tutti-Schläge von Posaune und Gitarre, die Keyboard-Grundierungen speziell der Müller Texte, dort der Naturklang der Kora, von Boubakar Djebate einprägsam gespielt und der Gesang von Sira Djebate, die ohne Veränderungen gegen die modernen musikalischen Rhythmen und Materialien gestellt werden. In der Musik setzt sich die Konfrontation zwischen Mensch und Natur fort, es ist auch ein Kampf zwischen abendländischer Dynamik und dem statischen Prinzip des bewahrenden Lebensgefühls der Naturvölker. Ein ungelöster Konflikt, der unablässig in die Gegenwart hineinwirkt. Die Aufführung entwickelt eine frappierende Suggestionskraft, nicht zuletzt durch das Raum-Bild der tschechischen Künstlerin Magdalena Jetelova, das von einen riesigen Trichter beherrscht wird, der sich durch Drehen und Kippen auch in einen Tunnel und in eine Pyramide verwandelt Chiffren für die Darstellung von 'Zeit' der rinnende Sand durch den Trichter, der Zeittunnel, die geronnene Zeit. So werden die Zeit-Strukturierungen der Musik in eine entsprechende Optik überführt. Zwischen Klang und Bild ergeben sich ständige Interaktionen. Der französische Schauspieler Andre Wilms erweitert das Geflecht durch perfekte Sprach- und Spielaktionen: eine gleichsam instrumentalisierte Figur von hoher Faszination. Für die deutsche Aufführung hatte Goebbels den Müller-Text an verschiedenen Stellen quasi als Raster über den Lautsprecher eingefügt: Auch diese Erweiterung fügte sich präzis in die kompositorische Text-Musik Spiel-Strukur des Werkes." Gerhard Rohd

on: Ou bien le débarquement désastreux (Music Theatre)