23 March 1993, Peter Kemper, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Review (de)

Über die Lesbarkeit der Wälder

'Oder die Glücklose Landung' in Paris uraufgeführt / Das musikalische Texttheater des Heiner Goebbels

'Wo immer ein Griot stirbt, stirbt eine Bibliothek.' Mit diesem Satz erinnert der Philosoph Amadou Hampaté Ba aus Mali an die soziale Funktion jener Musiker und Sänger, die vom Senegal bis in die Staaten Niger und Tschad Griots heißen. Den europäischen Troubadouren und Spielleuten nicht unähnlich, repräsentieren sie in ihren Gesängen zur Harfenlaute, der Kora, das kulturelle Gedächtnis ganzer Völker. Als musikalische Archivare Afrikas überliefern sie nicht nur die Genealogien der verschiedenen Herrscherhäuser, sondern erzählen von den großen Schlachten, den Eroberungen und dem Untergang der Reiche. Griots sind Garanten der Tradition, Verwalter von Mythen und Legenden. Um die Enträtselung kollektiver Mythen, die sich im Gedächtnis einer Gesellschaft abgelagert haben und seine Funktionsweise untergründig mitbestimmen, geht es auch in der ersten französischen Bühnenarbeit von Heiner Goebbels, die jetzt im Theatre Nanterre-Amandiers unter dem Zitat-Titel 'Ou bien le débarquement désastreux - Oder die glücklose Landung' uraufgeführt wurde. Der Frankfurter Komponist und Klangwerker stellt damit nach Werken wie 'Newtons Casino' und 'Römische Hunde' eine neuerliche Versuchsanordnung von Texten und Tönen bereit, um die Genregrenzen zwischen Konzert, Performance, Theater und Lesung auszulöschen. Nicht allein die Kollisionen der Griot-Gesänge von Sira und Boubakar Djebate mit den europäischen Sprachszenarien von Heiner Müller, Joseph Conrad und Francis Ponge legen hier neue interkulturelle Kraftlinien frei. Auch die musikalischen Materialien - von kontemplativen Kora-Klängen über pulsierende Dancefloor-Rhythmen bis zu den perkussiven Schmerzen der sogenannten Noise Music - entlassen aus ihrem Kontrast beunruhigende Bedeutungen. Ein riesiger Trichter, wie man ihn zur Schüttung von Kiesgruben her kennt, hängt von der Decke herab. Weißer Sand rieselt auf den schwarzen Bühnenboden. Der Schauspieler André Wilms hockt davor und rezitiert aus Joseph Conrads 'Kongo-Tagebuch', das 1890 als Materialsammlung für sein 'Herz der Finsternis' entstand. Im Unterschied zum fiktional gesteigerten Grauen des Romans - der Kongo entpuppte sich als koloniales Schlachthaus - berichtet Conrad in seinen Tagebuchaufzeichnungen dokumentarisch knapp von Alltäglichkeiten: 'Erstes Huhn zwei Uhr nachmittags. Keine Sonne heute.' Eine 'Dschungelwand' aus orangeroten Fransen begrenzt die linke Bühnenseite und läßt in ihrer ständig windbewegt-amorphen Struktur erste Gefühle der Bedrohung aufkommen. Was befindet sich hinter der Wand? Warum ist das Fremde feindlich? Diese Fragen richtet Heiner Goebbels auch an die Texte von Ponge und Müller. Angeregt durch die Zeilen 'Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!' aus Brechts Gedicht 'An die Nachgeborenen' entdeckt er in dem 'Notizbuch über den Kiefernwald' des französischen Dichters Francis Ponge ein Manifest der Vergeblichkeit: die Gegenstände lassen sich nicht unmittelbar zum Sprechen bringen. Immer tun wir ihnen schon durch unsere Sprache Gewalt an: 'Die Dinge und die Poeme sind unversöhnbar.' So wie Brechts Gedicht in den Jahren des Faschismus die notwendige Verschleierungsfunktion der Sprache gegenüber den natürlichen Objekten aufdeckte, so zeigt Ponge mitten im Zweiten Weltkrieg am Beispiel von Kiefern die verlorene Chance des besitzergreifenden Menschen zur Versöhnung mit der Natur. Beide mystifizieren das Naturschöne nicht, sondern betonen zugleich dessen Gewalt. 'Ein Poem umbringen durch dessen Objekt' will Francis Ponge. Hier trifft er sich mit dem Dramatiker Heiner Müller, dessen Texte die Stücke von Heiner Goebbels seit Jahren inspirieren. In 'Herakles 2 oder die Hydra' beschreibt Müller den Wald als ein ungezähmtes Tier, 'das ihn trug im Tempo seiner Schritte, die Bodenwellen seine Atemzüge und der Wind sein Atem.' Was bei vorschneller Sinnsuche als das durchgehende Motiv von Bäumen und Wäldern erscheinen könnte - in Conrads Kongo-Reise-Journal sind es nicht zuletzt die gefährlichen flußabwärts treibenden Baumstämme -, entpuppt sich auf der Bühne als multidimensionales Deutungsgeflecht: Die Syntax der Texte, ihre Rhythmen und Lautwirkungen vermischen sich bis zur Ununterscheidbarkeit mit den Klanggesten der Musik. Wenn der kanadische Gitarrist René Lussier mit dem Franzosen Yves Robert an der Posaune scharfkantige Tutti in das meditative Gleichmaß der Griot-Gesänge hineinjagt oder wenn der Keyboarder Xavier Garcia mit einem scheppernden Groove einen beiläufig gesprochenen Müller-Text unterminiert - immer entstehen überraschende Erfahrungsmuster. Dabei lassen sich ästhetische Frontstellungen nicht verheimlichen: Die ruhige Präsenz des glockenähnlichen Koraspiels demonstriert bei allen Lärmeinbrüchen westlicher Zivilisation die Autonomie des Anderen - hier des afrikanischen Kontinents - gegenüber einer eurozentrischen Inbesitznahme. Das Eindringen in fremde Kulturen, die touristische Durchquerung unbekannter Welten korrespondiert mit der obszönen Absicht, das Nichtverstandene begrifflich erlösen zu wollen. Heiner Goebbels' szenische und musikalische Aktionen dagegen animieren die Texte nur, ihr Geheimnis preiszugeben. Doch dazu muß ihr Gewebe aufgelöst werden. Die Atomisierung der Wörter und Sätze verstärkt gerade die Erkennbarkeit ihrer gedanklichen Muster. Wie Elementarteilchen schwirren die sprachlichen und musikalischen Laute durch den Raum. Durch ihren kontrollierten Zusammenprall schafft es Goebbels, ihr Gesetz, das Prinzip ihrer Konstruktion zu erfassen. So werden Heiner Müllers syntaktische Strategien hinter aller mythischen Schwerkraft erlebbar. Die fast technische Perspektive, in der Conrad sein Kongo-Journal schrieb, materialisiert sich ebenso in Klanggesten wie die immer neuen Anläufe, mit denen Ponge die Dinge umkreist. Anstelle der üblichen Hierarchie verwirbelt Goebbels die Elemente der Darstellung. Die Abhängigkeit des Schauspielers vom Bühnenbild, seinem Kostüm, der Beleuchtung, der Musik entpuppt sich als Gleichberechtigung der Mittel. Was als willkürliche Spielerei erscheinen könnte, teilt sich als penibel geplante Politik der Einbildungskraft mit.Die Beweglichkeit von Bedeutungen zeigt sich überdeutlich an jenem multifunktionalen Objekt, das die Bühne beherrscht. Der von der tschechischen Bildhauerin Magdalena Jetelovà entworfene Trichter verwandelt sich durch Kippbewegungen von einer Sanduhr in einen Guckkasten und in eine Pyramide. Wilms erforscht mit lässiger Attitüde die verschiedenen Anordnungen, durchtanzt leichtfüßig ihre Formen. Was nach furiosem Free Jazz und heftiger Improvisationsleistung klingt, ist in Wahrheit Note für Note auskomponiert, atmet konstruktive Strenge. Was durcharrangiert erscheint, ist als Klangerfindung aus dem Moment entstanden. Ganz der Melodik und des Rhythmus des Französischen nachempfunden, ist die Musik nicht einfach in die deutsche Sprache zu übertragen, wenn das Stück in vier Wochen an das koproduzierende TAT nach Frankfurt kommt. Die Maßverhältnisse von Ferne und Nähe müssen neu bestimmt werden. Heute, wo alle Musikkulturen durch die neuen Kommunikations- und Speichertechniken verfügbar geworden sind, wo alle Differenzen und Konvergenzen zwischen den verschiedenen Traditionen ausgelöscht werden können, wirkt Heiner Goebbels' behutsamer Umgang mit der ethnischen Musik wie ein hoffnungsfrohes Signal. Er enteignet sie nicht in einem Multikulti-Potpourri ihrer Herkunft, sondern setzt auf die klare Struktur der Gleichzeitigkeit. Nie werden die uralten Griot-Gesänge durch brachiale Rockrhythmen entwertet, nie wird der zärtliche Kora-Klang von lärmendem Industrial-Rap zersprengt. Vielmehr überlagern sich die vielen musikalischen Ebenen, ohne sich wechselseitig zu zerstören. Wenn Lussier dem Daxophon, eine Erfindung des Wuppertaler Gitarristen Hans Reichel, mit einem Geigenbogen die trockene Sprache der Hölzer eines Waldes entlockt, wenn kehlige Tierlaute entstehen, dann verbündet sich die westliche Technologie mit archaischem Naturempfinden.

on: Ou bien le débarquement désastreux (Music Theatre)